Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors

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11

Leeder, November 1560

»Wo der Meister sich wohl jetzt befinden mag?« Jacobus Rehlinger sprach Anna aus der Seele. Es war der Gedanke, der alle im Schloss versammelten Anhänger und Freunde Schwenckfelds seit Langem beschäftigte. Anna hatte sich viel Mühe gegeben, um das Konventikel in der Form abzuhalten, wie Jacobus es ihr aus der eigenen Erfahrung mit Caspar weitergegeben hatte, und doch hätte sie es wenigstens einmal mit ihm selbst erleben wollen.

»Ich vermute, dass er sich in Öpfingen oder in Memmingen aufhält. Er folgt einer göttlichen Eingebung, die ihn behütet und vor Verfolgung bewahrt«, wandte Georg Mayer ein.

»Und ich habe ihm immer noch nicht begegnen dürfen. Was wohl seine überstürzte Abreise am Tag vor unserer Hochzeit ausgelöst hat? Ob er vor den Schergen des bayerischen Herzogs fliehen musste?«, sagte Anna und seufzte vernehmlich.

»Du trägst ihn in deinem Herzen, und nur das zählt. Agnes Martt wird jeden Tag aus Augsburg erwartet. Bestimmt wird sie Neuigkeiten mitbringen. Dort weiß man immer, wie es um ihn steht.« Emanuel nahm Anna in den Arm. »Darf ich dich um die Bibellesung bitten, Georg? Jacobus wird heute die Predigt übernehmen.«

Anna genoss es, Gastgeberin zu sein. Sie war es, die die Lieder aussuchte und nach dem Konventikel aus der Küche auftischen ließ. Auch wenn sie an diesem Sonntagabend erkennen musste, dass die Gespräche sich weniger um das seelische oder leibliche Wohl drehten, sondern erfüllt waren von der Sorge um Caspar.

»Wir hätten ihn nicht ziehen lassen dürfen; in den Monaten, die er hier verbracht hat, sind wir zu einem wichtigen Zentrum seiner Lehre geworden. In Schäfmoos war er jedenfalls sicher und behütet. Die Sorge um sein Wohlergehen und sein Leben teilen wir alle. Lasst uns miteinander für ihn beten, dass der Herr, unser Gott, ihm das Geleit gebe und ihn auf sicheren Pfaden führe.«

Anna stellte bewundernd fest, dass Jacobus Rehlinger wie immer die richtigen Worte gefunden hatte, und sie beneidete alle im Raum, die die unerklärliche und glückselig machende Ausstrahlung Caspars am eigenen Leib hatten erfahren dürfen.

12

Bologna, Weihnachten 1560

Am Vorabend des Weihnachtsfestes lagen die Freunde in ihren Betten und Otto sinnierte. »Denkt ihr nicht manchmal an eure Eltern?« Er ertappte sich dabei, wie wenig seine Gedanken in letzter Zeit bei seiner Familie waren. Das Studium forderte ihn so sehr, dass er kaum an irgendetwas anderes denken konnte. Bis jetzt hatte er nie den Heiligen Abend ohne sie verbracht.

»Ich denke oft an meinen Vater«, antwortete Giacomo. »Ihr müsst wissen, dass er den jähen Tod gestorben ist, ohne Sakramente und Letzte Ölung, nun müssen wir alles daransetzen, um ihn aus dem Fegefeuer zu befreien.«

»Ich werde ihn in meine Gebete einschließen«, versuchte Otto, seinen Freund zu beruhigen.

»Wisst ihr, warum Oktavian nicht im Collegio ist?«, wollte Otto wissen.

»Ich glaube, er macht einen Besuch bei seinem älteren Bruder in Venedig. Die Honolds machen dort gute Geschäfte, und ehrlich gesagt würde ich ebenfalls lieber in einem Palazzo am Canale Grande das Fest verbringen als in unserem muffigen Kloster«, erklärte Giacomo. »Vor allem ist es wichtig für mich, auf andere Gedanken zu kommen.«

»Du brauchst ein wenig Abwechslung, Giacomo. Die Citras sind fast alle zu ihren Familien nach Hause gereist, der Regens ist in Rom und das bedeutet für uns, dass die Katze aus dem Haus ist, ihr Ratten! Lasst uns am Heiligen Abend das Fest der Nächstenliebe feiern, wie Luther es so schön genannt hat. Während die Brüder ihre Christmette zelebrieren, statten wir den Mädchen im Castello einen Besuch ab, sozusagen eine delectatio carnalis27. Francescos Vögelchen werden deinen Alten schnell vergessen machen.« Rico pfiff durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. »Was meinst du, Giacomo, wollen wir den Kanonikus mitnehmen?« Dabei wandte er sich Otto zu. »Hast du denn überhaupt Lust mitzukommen?«

Otto hatte all die Wochen nicht mehr an die casa di tolleranza gedacht, zu sehr war er mit den Vorlesungen, den Büchern und den Aufgaben beschäftigt, die sich auf seinem Schreibpult stapelten. »Was glaubt ihr denn? Natürlich komme ich mit.« Er klang überzeugter, als er war, aber er wollte auf keinen Fall ein Spielverderber sein, schließlich war er doch in Italien, um das Leben und alles, was es zu bieten hat, richtig kennenzulernen.

»Holst du morgen das Losungswort ab?«, fragte Giacomo Rico.

»Nicht nötig, ich denke, es gibt erst im neuen Jahr einen Wechsel der Losung, so lange ist die alte gültig«, flüsterte Rico und Otto spitzte die Ohren.

»Also sub tuum praesidium«, wiederholte Giacomo.

»Schrei noch lauter!«, zischte Rico. »Sub tuum praesidium! Otto, hast du gehört?«

Otto konnte mit der Übersetzung »unter deinen Schutz« keinen Zusammenhang zu einem Bordell herstellen. »Ich bin ja nicht taub! Ich versuche nur, mir den morgigen Abend bildhaft vorzustellen, und stolpere über die Tatsache, dass es eigentlich eine schwere Sünde ist, was wir da vorhaben.«

»Jetzt hör auf mit deinen Moralvorstellungen, Otto. Alle machen es, vom Papst über die Rotkappen und Bischöfe, bis hinunter zu den Pfaffen und Kuttenbrunzern.« Otto kannte bereits die markigen Sprüche Ricos. Sie rangen ihm nur ein müdes Lächeln ab.

»Danke für euer Vertrauen, ich werde mir ja wohl Gedanken machen dürfen. Wie hältst du es eigentlich mit der Tugend, Giacomo? Bist du nicht so erzogen worden, die Zehn Gebote einzuhalten und in Rechtschaffenheit und Gottesfurcht durch das Leben zu gehen?«

»In unserer Familie hat man es mit der Hilfe Gottes zu großer Macht und Einfluss gebracht. Ibi fas ubi proxima merces28. Niemand aus unserer Familie würde all die skrupellosen Geschäfte, die mein Großvater und mein Vater mit Königen, Kaisern und sogar dem Papst gemacht haben, als verwerflich und unmoralisch bezeichnen. Bei uns lebt man nach der Devise: Gut ist, was uns nützt. Mein Großonkel Jakob war sein Leben lang ganz eng mit der Kirche verbunden. Hinter all seinem Tun standen sein guter Wille und der Wille des Allmächtigen. Auch wenn in den Kriegen, die er dem Kaiser finanziert hat, Tausende von unschuldigen Menschen ihr Leben verloren haben, war es für ihn und sein Gewissen ausreichend, für diese armen Seelen in Augsburg eine eigene Kapelle zu bauen und ausstatten zu lassen. Mit seinen Zinsen, die er für das Verleihgeschäft verlangt hat, hat er sich nicht nur zum reichsten Mann der Welt gemacht, sondern gleichzeitig Tausende in die Armut und in den Tod getrieben. Weil er aber ein rechter Fugger ist, hatte er selbst dafür mit dem lieben Gott eine Vereinbarung getroffen: Er stiftete eine Siedlung für Arme und Bedürftige. Die Leute wohnen dort umsonst und sprechen dafür täglich einmal ein Vaterunser, ein Credo und ein Ave-Maria für den Stifter und meine Familie. Aber wem erzähle ich das alles, man kennt ja die Geschichten über unsere Familie. Du hast nur ein Leben, das du nach deinem Gutdünken gestalten kannst. Wenn du deinem Gott am Altar dienen und auf das fleischliche Glück verzichten willst, dann tu es! Wenn du dein Leben in einem Kloster verbringen willst, wer hindert dich? Aber jetzt lerne die Welt kennen, die die katholische Kirche als schlecht und verdorben darstellt. Mach dir dein eigenes Bild von dem, was in der katholischen Badestube vor sich geht, hinterher kannst du immer noch zum Pfaffen gehen und deine Sünden beichten.«

Selbst wenn Giacomo nicht so brillant argumentiert hätte, Otto war inzwischen gerne bereit, sich überzeugen zu lassen. Er sehnte sich nach der Wärme und Geborgenheit eines anderen Körpers. Die Nächte waren frostig und im großen Dormitorium stand nur ein kleiner Ofen, der kaum verhindern konnte, dass sich an den Fenstern Eisblumen bildeten. Wer wollte, konnte sich für das Bett einen heißen Stein aus der Küche nehmen, der für ein paar Stunden Wärme verbreitete. Er beschloss, einen solchen zu holen.

»Sub tuum praesidium confugimus, Sancta Dei Genetrix. Nostras deprecationes ne despicias in necessitatibus, sed a periculis cunctis libera nos semper, Virgo gloriosa et benedicta.29« Otto repetierte leise und gebetsmühlenartig die Marienantiphon, während er mit einer Kerze in der Hand die drei Stockwerke zur Küche hinunterstieg.

Als Otto mit dem Stein in der Hand und dem Psalm auf den Lippen zurückkehrte, lästerte Giacomo: »Im Castello wissen sie mit deinen Nöten umzugehen, Herr Kanoniker.«

»Silentium finalmente, teutones!«, beschwerte sich lautstark der Citra, der als Einziger die Feiertage nicht zu Hause verbrachte; streng genommen war nach dem Löschen der Kerzen jegliche Unterhaltung untersagt.

»Habt ihr nicht Sorge, dass der Citra etwas gehört haben könnte?«, fragte Otto besorgt.

»Ach, der versteht kein einziges deutsches Wort, darauf verwette ich meinen Teutonenarsch«, antwortete Rico lachend.

Otto lag noch lange wach, er war hin- und hergerissen. Auf der einen Seite das Kanonikat, die Erwartungen seines Vaters, seine Heimat, die Kirche, auf der anderen Seite das Leben, das Verbotene, die Lust und das Verlangen des eigenen Körpers. Erst als der heiße Stein längst seine ganze Wärme abgegeben hatte und von den anderen Betten lautes Schnarchen zu vernehmen war, schlief er endlich ein.

Sie hatten gewartet, bis die Glocken verstummt waren, die die Christmette einläuteten, dann zog Otto mit Giacomo und Rico los. Die Nacht war kalt und neblig.

»Und was, wenn wir erwischt werden?«

»Scheiß dir nicht ins Hemd, Otto«, entgegnete Rico.

 

»Da in der Christnacht die Vigil in der Regel als Nachtwache abgehalten wird, ist die Wahrscheinlichkeit, im Castello ein bekanntes Gesicht zu treffen, sehr gering«, versuchte Giacomo, Ottos Bedenken zu zerstreuen.

»Die meisten Leute sitzen in einer der Kirchen; die Geistlichkeit sowieso.«

Sie hatten ihre schwarzen Umhänge angelegt. Giacomo trug die Öllampe und leuchtete.

»Ich komme mir vor wie eine der lichtscheuen Gestalten, die ihre Arbeit im Dunkeln verrichten: Abdecker, Henker und Verdingmörder«, murmelte Otto.

»Da vorne in die Via Marsili, links in die Via Urbana und schon sind wir in der Via Senzanome, dort liegt die casa di tolleranza«, flüsterte Giacomo geheimnisvoll.

Er spielt nur zu gern den Fremdenführer, dachte Otto und fragte: »Warum ist Longus nicht mitgekommen?«

»Er macht sich nichts aus Weibern«, antwortete Rico »dafür kann er wie kein anderer Leute nachahmen und Witze erzählen.«

»Nach dem Studium will er eine geistliche Karriere einschlagen, am liebsten in einem Kloster. Na, die werden viel Spaß mit ihm haben! Er ist ein guter Kerl. Da das Collegio nach der Komplet abgesperrt wird und es keine Möglichkeit gibt, ins Gebäude zu kommen, wartet er im Studierzimmer auf uns, um uns nach unserer Rückkehr durch ein Fenster neben der Küche hineinzulassen«, erklärte Giacomo.

»Was erwartet uns in dieser casa di tolleranza?«, fragte Otto.

»Ein Kastrat und ein Haufen junger Weiber, die ihre feuch…«

»Rico, bleib gelassen!«, unterbrach ihn Giacomo. »Viele von den Mädchen dort haben ein schweres Schicksal zu ertragen. Die meisten von ihnen stammen aus katholischen Waisenhäusern. Sie sind uneheliche Kinder von Geistlichen, die von Nonnen erzogen wurden, oder ihre Eltern sind tot. Der Lebensweg von Waisen endet gewöhnlich im Frondienst eines Klosters oder eines Spitals, nur die hübschen und kräftigen Mädchen werden für spezielle Aufgaben ausgewählt; immerhin haben sie einen besonderen Status.«

»Offiziell gelten sie als Bademägde, deren Aufgabe es ist, jede Woche den geistlichen Kunden die Schwarten zu säubern«, merkte Rico an und lachte.

»Es ist ihnen daher erlaubt, sich ohne besondere Kennzeichnung frei in der Stadt zu bewegen«, ergänzte Giacomo. »Für normale Huren sind ein gelbes Gewand oder zumindest gelbe Schleifen vorgeschrieben. Unsere Bademägde dürfen die Sakramente empfangen und stehen, wie alle in Krankenhäusern, Hospizen und Pflegeeinrichtungen Beschäftigten, unter dem besonderen Schutz der katholischen Kirche, die sie darob als ihr Eigentum betrachtet. Wobei es nicht wenige in der Kirche gibt, die sie am liebsten zum Teufel jagen würden.«

Otto klopfte das Herz bis zum Hals, als sie vor der unscheinbaren Stadtvilla ankamen.

»Ach ja, bevor ich es vergesse, Otto: Es gibt ein paar Spielregeln zu beachten. Zum einen, verrate niemals deinen Namen und deine Herkunft, und das Wort ›Collegio‹ darf nie fallen. Wir sind alle drei Novizen eines Klosters, verstanden! Die Mädchen sind ebenfalls angehalten, nicht über sich zu sprechen oder ihren wahren Namen zu nennen; also nicht nachfragen und keine Küsse auf den Mund, hörst du! Zum anderen mögen sie es, wenn du dich vorher gebadet hast; außerdem gibt man am Ende für die geleisteten Dienste mindestens zwei Bolognini.«

Otto nickte und Giacomo zog an einem Seil, an dem im Inneren ein Glöckchen bimmelte. Otto spürte Ricos mächtige Hand auf seiner Schulter.

»Nicht lachen, Otto, wenn gleich der alte Francesco an der Tür erscheint. Die Stimme passt überhaupt nicht zu seinem Äußeren. Er war früher einer der berühmtesten Sänger am duomo. Der damalige Domkapellmeister hat ihn als Kind den Eltern abgekauft und kastrieren lassen, um seine engelsgleiche Stimme der cantoria des Doms zu erhalten. Nun, da ihm das Singen vergangen ist, kümmert er sich hier um die Vögelchen und verrichtet die schweren Arbeiten im Badehaus.«

Otto schluckte angewidert. Er hatte von dieser Praktik in Italien bereits gehört. »Was für ein grausamer Preis«, entfuhr es ihm und er griff sich reflexartig zwischen die Beine.

In der Tür öffnete sich eine kleine Luke und ein rundes, aufgeschwemmtes Gesicht erschien. Zwei Knopfaugen sahen ihnen entgegen.

»Accesso parola?30«, plärrte der Mann im Sopran.

Giacomo sah sich kurz um, wohl aus Sorge, dass irgendjemand ihnen gefolgt sein könnte. Dann wandte er sich wieder dem Kastraten zu. »Sub tuum praesidium«, flüsterte er und steckte ihm einen Bolognino zu.

»Entrate«, fiepte Francesco. Er schien schlecht gelaunt, da er wohl an diesem Abend nicht mit Kundschaft gerechnet hatte. Den Obolus nahm er dennoch dankend an und alsbald öffnete sich die große Tür.

»Komm, Otto, es wird Zeit, dass du erwachsen wirst«, feixte Giacomo und zog ihn über die Schwelle.

Der Kastrat trottete vor ihnen her. Otto sog die warme, feucht dampfende Luft ein.

»Sein massiger Körper steht auf viel zu langen Beinen, dafür sind seine Arme viel zu kurz geraten; diese Missbildung hat wohl etwas mit dem Eingriff zu tun. Es ist ja nicht normal, wenn sie dir mit neun Jahren die Eier abschneiden. So hat es mir Oktavian erzählt«, erklärte Rico leise, während sie das von den warmen Steinplatten beheizte Erdgeschoss durchquerten, in dem die Badestube mit mehreren Holzzubern eingerichtet war.

»Die Badestube ist eigentlich für die Stadtkleriker gedacht, von denen es in Bologna mehrere Hundert gibt«, ergänzte Giacomo die Führung durch das Badehaus. »Die meisten Klöster indes haben ihre eigene Badeabteilung, das hindert aber die Mönche nicht, diesen außergewöhnlichen Ort mit der Option auf eine Sonderbehandlung aufzusuchen. Hier lassen sich die geistlichen Herren den Rücken abschrubben, die Warzen und Schwielen behandeln, die Zehennägel schneiden und für eventuelle weitere Genüsse in Stimmung bringen.«

»Giacomo meint, dass sich die Kuttenbrüder ficken lassen«, erklärte Rico und Otto errötete. Er hatte dieses Wort noch nie benutzt.

»Jetzt benimm dich, Rico«, ermahnte ihn Giacomo.

Langsam stapfte Otto den beiden Freunden hinterher die breite Steintreppe hinauf in die obere Etage des Hauses. Hier gingen von einer umlaufenden Galerie die einzelnen Zimmer ab. Von dort oben konnte man das Badevergnügen im Erdgeschoss beobachten. Otto staunte über den Prunk und die verschwenderische Ausstattung des Hauses, sog den wunderbaren Duft ein und genoss jeden Atemzug.

So riecht also die Sünde.

In dem geräumigen Kaminzimmer, das einen großen Teil des Stockwerks einnahm, saßen im Halbdunkel ein gutes Dutzend Mädchen lachend und scherzend um das offene Feuer auf Fellen, Polstern und Kissen, die überall ausgebreitet waren. Der Raum war durch die züngelnden Flammen des Kamins und der Kerzenhalter, die an den Wänden angebracht waren, nur spärlich beleuchtet. Otto versuchte, sich im Hintergrund zu halten, konnte jedoch kaum seinen Blick von den leicht bekleideten Mädchen abwenden. Oft hatte er sich in seiner Fantasie vorgestellt, wie es wäre, bei einer Frau zu liegen, heute war er diesem Gedanken so nah wie nie.

Rico wandte sich ihm zu. »Los, Krummbuckel, nicht so schüchtern, alles gut katholisch hier.«

Die Mädchen mussten Rico und Giacomo gut kennen, das war Otto sofort klar, als er sah, wie stürmisch die beiden begrüßt wurden. Giacomo öffnete den Beutel, den er unter dem Umhang versteckt hatte, prall gefüllt mit allerlei süßem Gebäck. Er hatte die Köstlichkeiten in den letzten Tagen von den im Speisesaal ausliegenden Tellern abgezweigt und kippte sie auf einen Tisch. Otto saß im Nu inmitten der schnatternden Mädchen, bekam heißen Kräuterwein angeboten und mit einem fröhlich tönenden »Buon natale31« kamen sie sich rasch näher.

»Die Mädchen freuen sich, wenn wir kommen. Kein Wunder, mit uns haben sie weitaus mehr Vergnügen als mit den alten, unappetitlichen Fettsäcken, denen sie sonst zu Diensten sein müssen. Komm, Otto, lass es dir gut gehen.« Rico lachte und trank Otto aufmunternd zu.

Otto beobachtete, wie Giacomo sich klammheimlich von einer drallen Dunkelhaarigen in die Badestube führen ließ.

Rico hatte sich neben einer schwarzhaarigen Schönheit niedergelassen.

»Darf ich dir Mona vorstellen?« Stolz präsentierte er ihm seine Freundin. »Sie ist das wundervollste Mädchen in ganz Italien und wir lieben uns auf immer und ewig.«

Die schöne Mona nickte. Sie hatte bezaubernde Augen, verführerische Lippen und einen makellosen Körper.

»Eins sag ich dir: Fass sie nicht an, Otto, sonst geh ich dir an die Gurgel. Komm, zeig ihm deine Rose, Mona!«

Sie schob aufreizend ihr Kleid über die Schulter, zeigte eine filigrane Rosentätowierung und lächelte Otto an, der nicht recht wusste, was er dazu sagen sollte.

»Ein Kunstwerk!«, stammelte er und trank von dem mit Salbei und Minze versetzten Wein.

»Ich habe sie zu ihrem Geburtstag stechen lassen. Ist sie nicht wunderschön?« Rico stand auf, zog Mona zu sich, küsste sie und verschwand mit ihr eng umschlungen. Allein zurückgelassen, war Otto so mulmig zumute, dass er verlegen Schluck für Schluck von dem Wein trank.

»Che bel ragazzino!32« Jemand fuhr ihm von hinten durch die Haare. Eine rothaarige, groß gewachsene Schönheit setzte sich neben ihn. Sie nahm seinen Kopf und drückte ihn an ihr halb geöffnetes Mieder. Otto ließ es geschehen und sog den warmen und anregenden Körperduft dieser Verführerin in seine Nase, bis er keine Luft mehr bekam.

»Ich heiße Giovanna«, säuselte sie ihm ins Ohr. Ihre schwarzen Pupillen wanderten hin und her, sodass das Weiße ihrer Augen auffallend funkelte, ihre Lippen formten sich zu einem einladenden Kuss.

»O…« Ihm kam gerade noch in den Sinn, dass er seinen Namen tunlichst vermeiden sollte. Mit einem »Oh, Giovanna, was für ein schöner Name. Ich bin sechzehn und komme aus Germania«, gelang es ihm, eine elegante Wende zu nehmen. Sein Italienisch war inzwischen so gut, dass sie sich ohne Probleme unterhalten konnten.

»Du warst noch nie bei uns, stimmt’s?«

»Ja, und ich habe noch nie einem Weib beigewohnt; ich bin erst vor Kurzem in ein Kloster eingetreten.«

Otto fand, dass das gar nicht gelogen war.

»Wir sind ein ganz und gar katholisches Haus. Alles, was Gott dir geschenkt hat, sollst du zum vorgesehenen Zwecke nutzen und anwenden, wie damals König David, der mehrere Frauen besaß und sich jede genommen hat, die er begehrte. Jedenfalls steht das so im Alten Testament«, erklärte ihm Giovanna selbstbewusst und rückte näher an ihn heran.

»Du meinst das zweite Buch Samuel, Kapitel elf, wenn du …«

»Ich habe gedacht, dass es nördlich der Alpen nur blonde Menschen gibt, du aber bist schwarzhaarig«, unterbrach ihn Giovanna und fuhr ihm ein weiteres Mal durch seinen Wuschelkopf.

»Bei uns gibt es alle möglichen Haarfarben, mein Vater ist schwarz, meine Mutter blond; ich habe die Haare von meinem Vater und die blauen Augen von meiner Mutter geerbt. Ich habe noch nie ein Mädchen mit so schönen roten Haaren gesehen.«

Giovanna schien wenig beeindruckt und Otto fühlte, wie sich sein schlechtes Gewissen, das ihn beim Betreten des Hauses fest im Griff gehabt hatte, langsam, aber sicher von ihm verabschiedete. Außerdem wollte er vor den Freunden nicht als Versager dastehen, also trank er einen weiteren kräftigen Schluck von dem inzwischen lauwarmen Wein und hoffte inständig, sein Begehren nach diesem Weib würde möglichst schnell über die Moral und seine katholische Erziehung die Oberhand gewinnen.

»Komm mit, ich werde dir alles zeigen, was Mann und Frau zusammen machen«, forderte Giovanna ihn auf, nahm eine brennende Kerze und zog ihn hinter sich her auf die andere Seite der Galerie, die den Blicken der Besucher des Badehauses entzogen war. Eine Tür reihte sich an die andere, dazwischen jeweils eine schwach scheinende Öllampe. Über jedem Türstock war ein in Stein gemeißelter Spruch wie »Qui sine peccato primam lapidem mittat33« oder »Gaudium donum dei34«. Sie öffnete die Tür zu einem der Zimmer, darüber stand »Debita nostra dimitte nobis35«, und schubste Otto hinein. Es war ein großes Zimmer, das neben einer Truhe als einziges Möbelstück ein Bett enthielt; den Boden bedeckte ein weicher Teppich, die Wände waren mit wertvollen Stoffen bezogen. Giovanna zündete mehrere Kerzen an der Wand an und streifte sich die Röcke vom Leib.

 

Otto stand wie gebannt vor ihr und bewunderte im diffusen Flackerlicht den nur mit einem Hemdchen bekleideten Körper, den sie verführerisch zu bewegen verstand. Giovanna tänzelte, strich sich aufreizend über die Hüften, zog ihn zu sich und griff ihm zwischen die Beine, wo seine Libido hinter der Schamkapsel nicht mehr zu verbergen war. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie ihm Wams, Hemd und Hose heruntergerissen, was seine ungestüme Rute ins Freie drängen ließ. Als Giovanna vor ihm auf die Knie ging und mit einem geübten Handgriff aus einem Topf mit Rindertalg seine Männlichkeit einrieb, schoss es bereits aus ihm heraus und ein wohliges Zucken durchschüttelte ihn. Giovanna wischte sich laut lachend mit einem Tuch das Gesicht ab, als wenn dieses Missgeschick nicht zum ersten Mal passiert wäre.

»Es tut mir leid, ich wollte nicht … Warum lachst du?«, fragte Otto verwirrt.

»Ich lache nicht über dich und das ist auch nicht schlimm«, beruhigte ihn Giovanna und zog ihn zum Bett unter die Decke, wo sie eng aneinandergeschmiegt im gleichen Rhythmus ein- und ausatmeten.

»Wenn du nie bei einem Mädchen gelegen hast, ist das ganz normal.«

»Du erzählst hoffentlich meinen Freunden … äh … Mitbrüdern nichts davon?«

Giovanna schüttelte den Kopf. »Alles will gelernt und geübt sein, Carino.«

So nennt sie vermutlich alle ihre Kunden, ging Otto durch den Kopf.

»Sicherlich geht es beim nächsten Versuch besser, dann nehme ich dich auf in mein Reich. Über deine Mitbrüder mach dir keine Sorgen, die beiden kennen wir seit Längerem. Wir sind zu absolutem Stillschweigen verpflichtet; was hier passiert, bleibt hier, nichts dringt nach draußen.« Giovanna hatte sich eine eigenartige Ausdrucksweise angewöhnt, die voll war mit klerikalen Anspielungen. Während sie sprach, erkundete er mit seinen Händen ihren glatten, makellosen Körper vom Hals über ihre kleinen, zierlichen Brüste bis hinunter zu ihren Beinen; dabei ertastete er zum ersten Mal in seinem Leben die weiche, feuchte und geheimste Stelle einer Frau. Der bloße Gedanke galt als schweres Vergehen, nun hatte er sogar seine Finger daran gelegt.

Sünde, Sünde, Sünde!, hämmerte es in seinem Kopf.

Von dir lass ich mir nichts mehr sagen!, hielt er dagegen. Geh mir aus dem Sinn. Als Mann und Weib erschuf er sie. Sie ist ein Geschöpf des Vaters.

»Mach es so, Carino!«, unterbrach Giovanna seine Gedanken, nahm seine Hand und führte sie an die Stelle ihres Körpers, die ihr anscheinend am meisten Lust bereitete. Mit seinen Fingerkuppen steuerte er ihre Verzückung.

»Oh, Giovanna«, seufzte er begehrlich, als sie ihre Lust laut hinausschrie.

»Na, wie war die Rothaarige?«, versuchte Giacomo auf dem Heimweg etwas spöttisch, Otto aus der Reserve zu locken.

Otto wollte nichts dazu sagen, um sich nicht in Verlegenheit zu bringen.

»Ich hoffe, dass das alles unter uns bleibt und nicht in Augsburg die Runde macht, sonst wird mein Stipendium ganz schnell auslaufen. Mein Kanonikat mitsamt meinen Pfründen kann ich dann vergessen«, lenkte er vom Thema ab.

»Mach dir nicht ins Hemd, bis heute haben alle aus der Natio dichtgehalten«, beruhigte ihn Rico und trällerte sein Lieblingsliedchen. Inter pedes virginum gaudium est juvenum.

Um die zweite Stunde nach Mitternacht waren sie zurück.

»Alle bis auf Longus waren dort und werden den Teufel tun, irgendjemandem etwas davon zu erzählen«, versicherte Giacomo.

»Auf Longus kann man sich verlassen, oder?«, fragte Otto.

»Sei unbesorgt. Wie ich ihn kenne, liest er stundenlang in seiner Exegese.36« Giacomo warf ein Steinchen ans Fenster. Longus schaute kurz heraus und bald darauf öffnete sich in einem Nebenraum der Küche ein Fenster, durch das sich Otto und seine Freunde hintereinander hineinzwängten.

»Na, habt ihr schön gefeiert und von den verbotenen Früchten genascht?«, fragte Longus gespielt tadelnd.

»Jedenfalls waren die klösterlichen biscotti ein voller Erfolg, wenn du das meinst«, schwärmte Rico.

»Ihr könnt nach oben gehen, die Luft ist rein. Der Kustos schläft vermutlich bereits weinselig und Padre Ferrara ist außer Haus. Deo gratias!«

»Wenn es solche guten Freunde wie dich nicht gäbe, Longus, wäre das Leben nur halb so schön!«, flötete Rico und wischte sich den Schmutz von seinem Wams.

Gleich den Helden einer siegreichen Schlacht schritten Otto, Giacomo und Rico, die Arme um die Schultern des Nächsten gelegt, hinauf in das Dormitorium.

Otto war in Gedanken an Giovanna eingeschlafen und aufgewacht. »Giovanna«, seufzte er. Auch während des langen Festgottesdienstes war er alles andere als bei der Sache gewesen.

»Von mir aus könnte jeden Tag Weihnachten sein, endlich wieder Fleisch und nicht diese langweilige Pasta«, stellte Giacomo beim Essen zufrieden fest.

»Mir wachsen die Spaghetti bald zur Nase heraus«, bemerkte Longus und Otto nickte gedankenschwer.

»Je weniger Studenten im Collegio sind, desto besser schmeckt das Essen, und man kann sich endlich einmal satt essen«, sagte Rico, wobei er genüsslich ein Hühnerbein abnagte.

»Meinst du, wir könnten in den nächsten Tagen vielleicht dem Castello einen weiteren Besuch abstatten?«, fragte Otto Giacomo etwas verlegen.

»Das Funkeln deiner Augen ist ja vielsagend. Du bist wohl auf den Geschmack gekommen? Die nächste Gelegenheit wird wohl erst an Silvester sein«, antwortete Giacomo und grinste ihn süffisant an.

»Geh erst einmal zur Beichte, natürlich nicht bei den Dominikanern, sondern irgendwo, wo man dich nicht kennt. Und ein guter Rat: Lass dich auf keinen Fall ausfragen, hörst du!«

Otto nickte und atmete tief durch. Die Möglichkeit, es beichten zu können, hatte ihn zwar mit ins Castello gehen lassen. Jetzt stellte sich ihm die Frage, ob man das überhaupt beichten konnte.

27 Fleischliches Vergnügen.

28 Wo der Gewinn am höchsten ist, da ist das Recht.

29 Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir, heilige Gottesgebärerin. Verschmähe nicht unser Gebet in unseren Nöten, sondern erlöse uns jederzeit von allen Gefahren, oh glorreiche und gebenedeite Jungfrau.

30 Passwort?

31 Frohe Weihnachten.

32 Was für ein schönes Jüngelchen!

33 Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

34 Das Vergnügen ist ein Geschenk des Herrn.

35 Vergib uns unsere Sünden.

36 Bibelbetrachtung