Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors

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Sie gingen ein Stockwerk tiefer, wo das Studierzimmer war, an dessen Eingangstür ein großes Schild mit dem Hinweis »Silentium« prangte.

»Such dir ein Pult aus, auf dem noch kein Buch liegt, und leg eines von deinen mit deinem Namen drauf.«

An den Wänden reihten sich hohe Regale mit Hunderten von Büchern, Folianten und Schriftrollen. Im Saal standen in fünf Reihen jeweils zehn Pulte, fast alle waren besetzt, sodass die Auswahl nicht sehr groß war.

»Wie war denn deine Reise? Warum bist du nicht mit den anderen Augsburger Scholaren gereist?«, fragte ihn Giacomo.

»Von Weinfelden aus ist es kürzer über den Septimer und über Mailand. Ich habe mich einer Gruppe aus Scholaren und Schweizergardisten angeschlossen. Sie haben dort die Tradition des Bettelsingens, was uns zwar immer ein Nachtlager und eine warme Mahlzeit eingebracht hat, aber nur selten konnten wir auf einem Wagen mitfahren.«

»Wir reisen, wenn es passt, mit einem Fugger’schen Handelstross, das ist wesentlich entspannter, weil wir nicht zu Fuß laufen müssen und in eigenen Fuggerhospizen übernachten können. In diesem Sommer war ich nicht zu Hause, sondern bei den Honolds in Venedig. Oktavian wirst du gleich kennenlernen; sein Vater ist ein einflussreicher Geschäftsmann; er hat dort eine wunderschöne Faktorei.« Giacomo schien sich gut auszukennen.

»Ich hätte ein Pferd bekommen können, aber ich wollte zu Fuß gehen. Mir wäre vieles entgangen, besonders die Quälerei mit den Schuhen. Schau dir meine Füße an!« Otto zeigte ihm seine geschundenen Fersen und Zehen.

»Deinem Schuhmacher solltest du die Leviten lesen! Ich bringe dich nach dem Abendessen in die Krankenstation; dort werden sie deine Blessuren versorgen.« Giacomo sah Otto etwas mitleidig an. Von irgendwoher erklang das Läuten einer Glocke.

»Das Klingeln bedeutet Abendbrot; du wirst richtig Hunger haben nach der langen Reise! Aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen. Die Küche ist ein disastro, wie die Italiener sagen.« Giacomo griff sich mit der Hand an den Hals und tat so, als müsste er etwas herauswürgen, um dann in schallendes Gelächter auszubrechen. »Gottlob gibt es in der Stadt wunderbare Tavernen.«

Ottos Miene hatte sich nur kurz aufgehellt. »Du kannst einem ja schon vor dem Essen den Appetit verderben«, gab er zurück.

Kurz darauf betraten sie im Erdgeschoss mit den anderen Studenten, die aus allen Richtungen zusammenströmten, den Speisesaal.

»Hier ist zwar freie Platzwahl, wir von der Natio Germanica sitzen meist zusammen. Die Natio, musst du wissen, das sind alle deutsch sprechenden Studenten. Außerdem wird noch unterschieden zwischen Ultras und Citras, das heißt diesseits und jenseits der Alpen, also Italiener gegen den Rest der Welt.« Giacomo platzierte Otto an einem Sechsertisch.

Padre Ferrara stand vor einem mächtigen Kreuz an der Wand und faltete mit großer Geste seine Hände, sodass augenblicklich Stille eintrat. »Oremus: Benedic, Domine, nos et haec tua dona, quae de tua largitate sumus sumpturi. Per Christum Dominum nostrum. Amen«, sprach er das Tischgebet.

Nach dem ersten Wort des Padre hatten alle Anwesenden in einen eigenartigen Singsang eingestimmt. Nun setzten sie sich, und während im ganzen Saal ein geschäftiges Gemurmel anhob, stellte Giacomo ihm die Tischgenossen vor. »Das ist Heinrich Lauber aus Hildesheim, genannt Rico, Johannes Langer, alias Longus, unser Spaßvogel, und Oktavian Honold, ein Lechrainer und zukünftiger Medicus.«

»Die Sodomisti werden an dir sicherlich ihre Freude haben.« Rico, sommersprossig, ein Bär von einem Kerl mit riesigen Pranken, war der Erste, der Otto mit einem betont laschen Händedruck begrüßte und dabei die Augen verdrehte. »Schwarze Wuschelhaare und blaue Augen, dazu noch einen Körper wie Adonis, da wird sich bei den warmen Brüdern die Kutte wölben«, fügte er breit grinsend hinzu.

»Die erste Warnung vor den Verführungen des Teufels, allerdings in Form schöner Frauen, habe ich bereits erhalten, ihr werdet es nicht glauben«, erzählte Otto freimütig von seiner Begegnung mit dem Padre. »Fra Erminio hat mir bereits eine Lektion darin erteilt.«

»Er nennt sich vom Berg, stammt aber aus ganz einfachen Verhältnissen. Es wird erzählt, dass ihn seine Mutter an die Kirche verkauft hat. Vor dem musst du dich in Acht nehmen. Wir nennen ihn nur Sterminio. Er füttert zwar Tauben, im Glauben, dass man ihn mit dem Heiligen Geist in Verbindung bringt – aber das sind die Schlimmsten, die selber den Nagelgürtel tragen«, schaltete sich Giacomo in das Gespräch ein.

»Schnall deine Schamkapsel fest, kneif die Arschbacken zusammen und erwarte die Verführungskünste des Teufels mit Gelassenheit«, polterte Rico. »Die warmen Brüder, die auf Frischfleisch aus dem Norden warten, werden dir hin und wieder nachstellen, aber so wie ich dich einschätze, bist du für diese Art von Perversion eher unempfänglich, geh ihnen am besten aus dem Weg!«

»Da kannst du dir sicher sein«, erwiderte Otto mit Nachdruck.

»Rico hat da bereits seine eigenen schlechten Erfahrungen gemacht«, ergänzte Oktavian, und Longus legte los:

»Conschtitutio Criminalisch Carolina Paragraph einhundertschechzschehn, Schodomie: Schtrafe für Unzschucht, scho schie wider die Natur geschieht«, rezitierte Longus offenbar einen zahnlosen Professor, indem er die Lippen zwischen die Zähne presste. »Ferner, wenn ein Mensch mit einem Vieh, Mann mit Mann, Weib mit Weib Unzschucht treiben, haben schie dasch Leben verwirkt, und man scholl schie nach allgemeiner Gewohnheit mit dem Feuer vom Leben zschum Tode richten. Merkt eusch dasch, meine Herren, wenn ihr von eurer Libido übermannt werdet.«

Alle sechs brachen in schallendes Gelächter aus, sodass der Regens Padre Ferrara, der am Magistertisch zu speisen pflegte, einen bösen Blick in ihre Richtung schickte.

»Bei uns in der Natio wird halt viel gelacht«, sagte Giacomo schulterzuckend.

»Was sich hinter den Klostermauern abspielt, bleibt der Justiz ohnehin verborgen, und zudem hat der Papst für die Seinen wohl gesorgt«, ergänzte Oktavian, ein schlaksiger, braun gebrannter Kerl, mit hochgezogenen Augenbrauen in unverkennbarem Lechrainer Dialekt halblaut.

»… nicht alles am ersten Tag, schließlich will er dereinst das Priesteramt bekleiden«, fügte Giacomo mit gespielter Sorge hinzu.

»Ad maiora mala vitanda«, entgegnete Oktavian geheimnisvoll.

Um größeres Übel zu vermeiden? Was meint er damit?, überlegte Otto.

»Na, dann wird es dich als zukünftigen geistlichen Würdenträger ganz besonders interessieren, was hier im Hintergrund gespielt wird«, wurde Oktavian immer mysteriöser.

Was hat denn der Papst damit zu tun?, ging ihm durch den Kopf.

»Ihr seid doch alle hoffentlich gut katholisch?«, fragte Otto und hoffte inständig, dass keiner der neuen Freunde seine Ahnungslosigkeit als Dummheit auslegen würde.

»Alle katholisch, natürlich! Unser Medicus nur zur Hälfte«, antwortete Giacomo, der sich wichtigtuerisch zu Otto über den Tisch beugte. »Du musst wissen, Otto, dass Oktavians Vater, der Protestant Hans III. Honold von Emmenhausen, Lengenfeld und Bronnen, noch mit Martin Luther persönlich an einem Tisch gesessen hat und immerhin Ohrenzeuge eines wahrhaftigen Furzes des Wittenbergers wurde. Des ach so großen Reformators heißer Darmwind hat seine eigene Einstellung zur katholischen Kirche in einigen wichtigen Belangen maßgeblich verändert. Und so ist er dem Drängen seiner päpstischen Frau erlegen, den Sohn abseits der sich gefährlich verbreitenden protestantischen Düfte zum Studium ins entfernte Italien zu schicken.«

Der ganze Tisch lachte herzlich über diese Geschichte, die Giacomo offensichtlich nicht das erste Mal zum Besten gab; Oktavian schien eher gelangweilt und gähnte Otto ostentativ an.

»Am Collegio herrscht allgemein die Ansicht, dass, bevor man sich ganz in den Schoß der Mutter Kirche begibt, das Leben in vollen Zügen und mit all seinen Annehmlichkeiten genossen werden müsste«, meldete sich unversehens Longus zu Wort.

In diesem Moment kam einer der citramontani mit einer großen Schüssel und klatschte jedem der sechs Tischgenossen einen Schöpflöffel von einer undefinierbaren Masse auf den Teller.

»In… In… Ingozzate, teutones!21«, stotterte er und schon hatte Rico einen Batzen Suppe auf seiner Hose. Das ließ der sich nicht gefallen. Er stand unverzüglich auf und seine Nasenflügel fingen an zu beben. »He, Balbetta, cazzo, fa piano!22«, schnauzte er. Der Italiener konnte gerade noch seine Schüssel auf den Tisch stellen. »Fi… Fi… Figurati, teu… teu…« Weiter kam der Italiener nicht, denn Rico versetzte ihm mit seiner Pranke einen Schlag, der ihn rücklings auf den Boden warf. In Windeseile wurden die beiden von den jeweiligen Natio-Mitgliedern getrennt.

Es geht wohl nicht ganz spannungslos zu zwischen Ultras und Citras, beobachtete Otto. Dann schritt Padre Ferrara ein.

»Heinricus Lauber e Antonio Balbetta siete suspensate dal pranzo oggi, andate alla chiesa e pregate per due ore!23«, verhängte er die Strafe mit lauter Stimme. Mit hängenden Köpfen trotteten die beiden Hitzköpfe nach draußen.

»Zwei Stunden beten und nichts zu essen ist ungerecht. Balbetta hat doch angefangen, Rico zu provozieren, das hat jeder gesehen«, protestierte Otto.

»Mit Rico musst du kein Mitleid haben. Er lässt sich halt nichts gefallen und auf die Suppe kann er heute getrost verzichten.« Oktavian zog die Mundwinkel nach unten und spielte gelangweilt mit seinem Löffel.

»Im Laufe der Woche wird die Suppe beständig dicker«, konstatierte Longus und stocherte in seinem Teller herum.

 

»Alles, was heute übrig bleibt, kommt morgen in leicht veränderter Form wieder auf den Tisch. Am Freitag kann es sein, dass der Löffel stecken bleibt, und am Samstagabend profitieren dann die Schweine von den letzten Resten; Saufraß, du verstehst, Otto!« Longus grunzte und die anderen lachten.

»Genießbar ist das Essen eigentlich nur sonntags und feiertags, wo auch einmal Pasta, Fleisch oder Knödel auf den Tisch kommen, bevor am Montag ein neuer circulus beginnt«, brachte Giacomo die Sache auf den Punkt.

Otto ließ sich nicht beeindrucken und löffelte weiter. »Ich weiß nicht, was ihr habt, die Suppe ist gar nicht so schlecht!« Er war so hungrig, dass er an diesem Abend fast alles gegessen hätte.

Nach dem Abendessen und einem kurzen Besuch in der Krankenstation erklärte Giacomo Otto den weiteren Ablauf des Abends, während sie sich mit den anderen Scholaren in der Klosterkirche zur gemeinsamen Komplet versammelten.

»Mit den Kuttenbrüdern sind wir, Gott sei Dank, nur zum Teil in den klösterlichen Alltag eingebunden. Da tagsüber Vorlesungen und Verpflichtungen an verschiedenen Orten der Universität anstehen, werden lediglich Laudes und Komplet zusammen mit den Mönchen in der Klosterkirche gebetet.«

»Ah ja«, gähnte Otto. Er war so müde, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte.

»Jetzt schlaf dich erst mal aus und gönn deinen geschundenen Füßen ein wenig Ruhe«, riet ihm Giacomo auf dem Weg ins Dormitorium. »Morgen werde ich dir alle anderen Dinge erklären.«

Otto warf seine Kleider über einen Stuhl, legte sich auf seine Rosshaarmatratze und deckte sich mit dem prall gefüllten Federbett zu. Endlich war er angekommen in der Welt, von der er sich so viel versprochen hatte. Gute Freunde zu finden, würde sehr wichtig sein. Das hatte er schon heute, an seinem ersten Tag, gespürt.

Sie haben hier irgendein Geheimnis. Der Papst hat für die Seinen wohl gesorgt. Was hat Oktavian damit gemeint? Das Böse würde in Gestalt von nichtsnutzigen Weibern lauern? Seltsam, dieser hilfsbereite Dominikaner, der Tauben füttert und vor dem Teufel warnt. Sterminio heißt doch das Verderben. Otto sinnierte über die Vorkommnisse des Tages und die Begegnung mit dem eigenartigen Pater auf der Piazza, aber noch bevor er sein Abendgebet beginnen konnte, hatte ihn der Schlaf eingeholt.

12 8. September

13 Idiot, du bist zu spät!

14 Deutscher Student, Frau, sei ruhig!

15 Entschuldige, sei willkommen! Wie heißt du? Was bist du mager.

16 Was für ein hübscher Junge, schau, die blauen Augen! Du Armer, was bist du schmutzig!

17 Wie ärgerlich, Ihr habt meine Tauben verscheucht!

18 Grammatik, Rhetorik, Dialektik.

19 Noch einer von jenseits der Berge!

20 Wenn Ihr erlaubt, Padre, zeige ich ihm das Haus.

21 Fresst, ihr Deutschen!

22 Du Schwanz, bleib ruhig!

23 Verlasst das Abendessen, geht in die Kirche und betet zwei Stunden.

9

Leeder, 15. September 1560

»Da können wir uns drehen und wenden, wie wir wollen, der sonntägliche Kirchgang muss als lutherischer Predigtgottesdienst durchgeführt werden.« Jacobus Rehlinger war etwas ungehalten.

Anna hatte an diesem Abend die Frage in die versammelte Runde geworfen, ob man sich nicht den teuren Unterhalt der Kirche sparen könnte. »Es tut mir leid, wenn ich dich mit meinem Vorschlag erzürnt habe, Jacobus, aber die meisten von uns leben nach dem Vorbild Caspars und besuchen die Kirche nur als Vorwand«, versuchte sie, die Wogen zu glätten, und Georg nickte ihr bestätigend zu.

»Um uns nicht auf dem eigenen Territorium angreifbar zu machen, ist es geradezu überlebenswichtig, den Augsburger Religionsfrieden umzusetzen. Nicht wenige der Altgläubigen laufen hinauf nach Denklingen, um ihre Sakramente zu empfangen. Wir stehen dadurch ständig unter Beobachtung.«

Anna wurde durch ein Geräusch vor der Tür abgelenkt. Als sie nachschaute, stand Hieronymus vor ihr und umarmte sie innig.

»Wach auf, mein Seel«, rief er in den Raum. »Ich wollte euch nicht stören.«

Das »Lobsinge seinen Namen« schallte ihm vielfach zurück. Anna bat ihn herein und spürte sofort, dass ihn irgendetwas bedrückte. Jacobus, Georg und Emanuel begrüßten ihn.

»Was führt dich zu uns, Oheim? Wir waren gerade dabei, über unsere protestantische Gottesdienstordnung zu beratschlagen, setz dich!«, lud Anna ihn ein.

Hieronymus Rehlinger zögerte nicht lange und verkündete die Neuigkeit: »Anton Fugger ist gestern überraschend gestorben.«

»Der Herr sei ihm gnädig. Ein großer Verlust für die Katholischen«, bemerkte Jacobus.

»Ich würde sagen, für die ganze Stadt und weit darüber hinaus. Denn schließlich war er es, der nach dem Augsburger Religionsfrieden mit beiden Konfessionen im Dialog geblieben ist und bemüht war, bei seinen Einladungen vor allem die protestantische Seite zu berücksichtigen. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie er katholischen Würdenträgern das cuius regio, eius religio24 erklärt hat: Es muss ein friedliches Nebeneinander geben, liebe Freunde, selbst wenn die politischen Konsequenzen für die katholische Kirche bitter und einschneidend sein werden. Es war ihm damals als kaiser- und papsttreuem Katholiken vollkommen bewusst, dass die Reformation nicht rückgängig zu machen war und sich die Äbte und Bischöfe mit dem Verlust von Zehnt und Steuereinnahmen wohl abfinden mussten«, berichtete Hieronymus.

»Ist es nicht so, dass sich die Katholiken mit ihrem Ablasshandel, der Unterdrückung der Bauern und der Förderung von Leibeigenschaft den Zorn Luthers und damit auf lange Sicht auch die Reformation selbst zuzuschreiben haben?«, mischte sich Anna in die Diskussion ein.

»Dass sich Martin Luther auf dem falschen Weg befunden hat, beweist die Tatsache, dass er dazu aufgerufen hat, die Bauernaufstände niederzuschlagen, und seine Leute Kirchen geplündert, angezündet und geschändet haben«, fügte Emanuel hinzu.

»Du darfst nicht vergessen, mein lieber Bruder, dass mit dem Beschluss des Reichstags, nur zwei Konfessionen zuzulassen, auch wir, zusammen mit Calvinisten, Täufern, Zwinglianern und Utraquisten, der Verfolgung ausgesetzt wurden«, ereiferte sich Jacobus.

»Alle großen Städte des Reiches werden sich zumindest auf eine Parallelität der Konfessionen einstellen müssen. In den meisten wird dies bereits seit Jahren gelebt, nur in Augsburg tut man sich schwer mit dieser unausweichlichen Tatsache. In der Unfähigkeit, diesen Dualismus anzuerkennen, verfolgen sie alle anderen und stürzen sich auf uns, um von der eigenen Engstirnigkeit und Verblendung abzulenken. Die öffentliche Verbrennung unserer Bücher vor zwei Jahren war der sichtbare Beweis, dass es in Augsburg bis in die höchsten Kreise hinauf an der notwendigen religiösen Toleranz mangelt.« Hieronymus’ Miene hatte sich während seiner Erzählung verdüstert. Anna vernahm mit Betroffenheit die Schilderung des Onkels.

»Ich kann nur immer wieder darauf hinweisen, und damit seid ihr, die junge Generation, gemeint, dass wir eigenständig bleiben müssen und wirtschaftlich gesund, um uns die katholischen Usurpatoren vom Leib zu halten. Auch der Herzog in München unternimmt alles, um uns das Leben schwer zu machen. Es kümmert ihn wenig, dass wir absolut konform mit den Augsburger Reichstagsbeschlüssen leben und handeln«, sagte Jacobus.

»Was haltet ihr davon, wenn wir hinuntergehen und ich das Abendessen auftischen lasse? Hieronymus hat eine weite Reise hinter sich und bestimmt einen mächtigen Appetit mitgebracht.«

»Dann tun wir der Schlossherrin den Gefallen und lassen uns nicht lange bitten.« Georg stand als Erster auf und Anna ertappte sich dabei, dass sie ihn – wie bei jeder sich bietenden Gelegenheit – beobachtete.

24 Wessen Herrschaft, dessen Religion.

10

Bologna, San Michele25 1560

»Was meinte Oktavian eigentlich mit der Bemerkung Ad maiora mala vitanda?«, fragte Otto seinen neuen Freund Giacomo, als sie an diesem Feiertag zum Festgottesdienst in die Klosterkirche gingen. Es war ihm einfach nicht aus dem Kopf gegangen.

»Ich weiß ja nicht, wie der Klerus bei euch darüber denkt. Im Kirchenstaat, zu dem Bologna gehört, nimmt man es mit dem Zölibat nicht ganz so streng. Die meisten Geistlichen leben mit Konkubinen oder leisten sich Kurtisanen. Die Kinder, die dadurch entstehen, fallen ihnen bald zur Last. Die Päpste selbst gehen ja mit leuchtendem Beispiel voran: Papst Julius II. hatte deren drei, Paul III. sogar vier, und der jetzige Papst Pius IV. soll mehrere Geliebte haben, die ihm jederzeit zur Verfügung stehen.«

»Davon wird im Domkonvikt allenfalls gemunkelt. Dass sogar die Päpste eigene Kinder haben, wusste ich nicht«, bemerkte Otto und überspielte seine Überraschung.

»Vor einigen Jahren, unter Julius III., ist man dazu übergegangen, quasi als Vorsorgemaßnahme, Häuser einzurichten, in denen die geistlichen Herren, die es sich nicht leisten können, eine eigene Bettgefährtin oder Haushälterin auszuhalten, unter kirchlicher Kontrolle ihrer Libido frönen können. Julius’ Nachfolger wollte, dass alle Bordelle, auch die katholischen im Kirchenstaat, geschlossen werden. Bisher hat sich aber niemand daran gehalten, denn inzwischen haben wir ja Pius IV. Hier in Bologna gibt es so ein Haus, genannt casa di tolleranza, wir nennen es ›Castello‹. Ein Badehaus ausschließlich für Kleriker mit einem angeschlossenen Bordell.«

Otto kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Das sind ja aufregende Neuigkeiten«, entfuhr es ihm, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte.

»Eisernes Stillschweigen darüber, Otto! Es gibt in der Stadt sehr aufmerksame Ohren, die begierig sind, alles, was jenseits der Legalität getrieben wird, bei den richtigen Stellen zu deponieren!«

»Ad maiora mala vitanda bedeutet also, dass es der Kirche lieber ist, dass ihre Geistlichen in geordneten Verhältnissen Unzucht treiben, als dass unzählige Pfaffenkinder von der doppelten Moral ihrer geistlichen Väter zeugen«, fasste Otto zusammen.

»Das hast du messerscharf erkannt, mein Lieber! Schelbscht Thomasch von Aquin verglich die Funktion der Proschtitution für die Geschellschaft mit einer Kloake, die im Palascht für Schauberkeit schorgt«, ergänzte Giacomo lachend und fuchtelte mit dem rechten Zeigefinger, den schon bekannten Professor nachahmend.

Otto stellte sich vor, wie es wohl sein würde, den Professor zum ersten Mal selbst zu hören. Inzwischen waren sie vor dem Portal der Kirche angekommen. Dort hatte sich eine Menschentraube gebildet.

»Ich lasse mir nicht den Tisch des Herrn verwehren!«, schrie eine Frau aufgeregt und die Umstehenden pflichteten ihr lautstark bei.

»Denn der Herr, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer und ein eifriger Gott!« Erminio vom Berg hatte sich vor ihr auf der obersten Stufe platziert und hielt ihr die ausgestreckte flache Hand abwehrend entgegen.

Otto war schnell klar, dass dieser Frau Unrecht widerfahren würde.

»Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie! Was habt Ihr denn dieser Frau vorzuwerfen?«, mischte er sich auf Deutsch in die Auseinandersetzung ein. Giacomos Versuch, ihn davon abzuhalten, kam zu spät.

»Mutig, mutig! Ich bewundere Euch, von Gemmingen, kaum zwei Wochen in der Stadt und schon das Maul aufreißen! Ich will es Euch sagen: Diese Frau hat einen Priester verführt und lebt mit diesem in Sünde, darum soll sie im Staub liegen und Buße tun, anstatt die Wohnung des Herrn mit ihrer Anwesenheit zu besudeln. Und Euch empfehle ich mehr Respekt angesichts der geistlichen Autorität.« Erminio warf einen zornigen Blick auf Otto und Giacomo.

»Leg dich lieber nicht mit ihm an«, flüsterte sein Freund Otto zu.

 

Otto aber ließ sich nicht beirren. »So ihr den Menschen ihre Sünden vergebt, so wird der himmlische Vater sie auch euch vergeben. Matthäus, Kapitel sechzehn, Vers vier«, rief er dem Dominikaner über die Schaulustigen hinweg zu und erntete dessen höhnisches Lachen. Nachdem es verklungen war, war es auf dem Platz so still, dass man nur noch das Gurren der Tauben vom Kirchturm hörte.

Otto spürte Giacomos Hand an seinem Arm, der ihn durch die Menge zurück an den Seiteneingang zog. Otto ließ sich nur widerwillig wegzerren.

»Wie kommt dieser Mensch dazu, sich über die Worte des Herrn zu erheben, frage ich dich.«

»Da hast du dir den falschen Gegner ausgesucht, Otto! Erminio ist mächtig und durchaus in der Lage, dir das Leben zur Hölle zu machen. Ich verstehe dich ja, dass du Ungerechtigkeit, noch dazu gegen Schwächere, nicht ertragen kannst. Es gibt aber andere Möglichkeiten, ihn zu ärgern, wart es ab.«

Während des Gottesdienstes gingen Otto alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Ein Geistlicher darf sich in einem Bordell den körperlichen Freuden hingeben und steht anschließend wieder am Altar des Herrn. Einem Weib, das mit einem Priester verkehrt, wird dagegen der Zugang zu den Sakramenten verwehrt.

Sein Glaubensgefüge hatte einen Riss bekommen.

Am Abend saßen die Ultras in ihrer Lieblingstaverne und erzählten sich von ihren Erlebnissen aus den Ferien.

»Da haben wir einen guten Fang gemacht!« Giacomo stieß Otto wie einem alten Freund mit seinem Ellenbogen in die Seite.

»Das hättet ihr heute hören sollen, wie Otto vor allen Leuten die Konkubine eines Pfaffen verteidigt hat. Das hatte Sterminio nicht erwartet, dass er vor der Kirche auf Widerstand stoßen würde.«

Otto überhörte das Kompliment. »Ihr erzählt mir, dass sich Geistliche im Bordell vergnügen dürfen. Hingegen verlieren Sünderinnen mit demselben Vergehen den Zugang zu den Sakramenten. Liegt denn darin nicht ein grober Widerspruch?«

»Sicherlich wird hier mit zwei verschiedenen Maßstäben gemessen. Das ist, wie so oft, eine Sache der Auslegung, Otto. Selbst der oft zitierte Aquinate ist der Meinung, dass Blicke, Berührungen und Küsse nur in Verbindung mit Wollust den Akt der Sünde darstellen, und Weiber sind ja bei den Katholiken von jeher sündhaft«, konterte Oktavian.

»Ach ja, du hast ja einen protestantischen Vater. Ist Sünde nicht immer Sünde, egal, ob Mann oder Weib, katholisch oder protestantisch?«, entgegnete Otto etwas verwirrt.

»Dann soll mir jemand Wollust nachweisen! Und außerdem wird dir doch in der Beichte Unschamhaftigkeit in Reden und Handeln mit ein paar Vaterunsern verziehen«, mischte sich Rico ein.

»Wenn ich das meinem Vater erzähle, konvertiert der zu den Lutherischen«, reagierte Otto entsetzt. »Woher wisst ihr eigentlich von diesem Bordell? Oder habt ihr euch das alles nur ausgedacht?«

»Wenn dir mal danach ist, nehmen wir dich gerne mit, dann kannst du dir für ein paar Tage die Handarbeit sparen«, bot ihm Rico an und klopfte Otto lachend auf die Schulter.

»He, Rico, langsam, langsam, und vor allem nicht so laut! Natürlich ist das alles geheim und geschieht absolut im Verborgenen«, mahnte Giacomo und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen.

»Rico ist vor zwei Jahren mit einem älteren Kommilitonen aus der Natio der Sache auf die Spur gekommen, als sie einen Bruder erwischt haben, wie er es hinten im Ökonomiegebäude mit einem Schaf getrieben hat. Wenn sie ihn verpfiffen hätten, hätte er wohl mit dem Schlimmsten rechnen müssen.« Giacomo zog mit der Handkante den Hals entlang. »Entgangen ist er seiner Strafe nur, weil alle die Geschichte für sich behalten haben. Der Bruder hat zum Dank den beiden den Zugang zum Castello verschafft und versorgt sie bis heute mit der jeweils gültigen Losung, die dort die Türen öffnet.«

»Ihr habt ihn erpresst?«, staunte Otto.

»Wenn du so willst, profitieren beide davon. Dem Bruder rettete es das Leben und ersparte ihm den vorzeitigen Abgang ohne Sakramente in die Hölle, uns hingegen öffnet es die Pforten ins irdische Paradies«, legte Giacomo schwärmerisch dar.

»Warst du denn bereits in diesem Castello?«, wollte Otto wissen, nun doch neugierig geworden.

»Einige von uns sind dort regelmäßig, ich nur gelegentlich.« Giacomo grinste in sich hinein.

»Um dort nicht irgendwelchen bekannten Gesichtern zu begegnen, kannst du eigentlich nur während der Gebetszeiten oder an Tagen, an denen die Herren ihren seelsorgerischen Pflichten nachgehen, dort aufkreuzen, was wiederum den Nachteil hat, dass du Schwierigkeiten bekommst, wenn sie dich nicht in der Kirche antreffen.«

»Wollt ihr unseren neuen Freund wirklich schon in die Geheimnisse einweihen? Du musst verstehen, Otto, wir kennen dich kaum, und die Sache darf niemals herauskommen«, meinte Oktavian.

»Sein Auftritt heute Morgen war Beweis genug, dass man sich auf ihn verlassen kann«, wandte Giacomo ein.

»Es weiß nur ein halbes Dutzend verschworener Leute von der Natio darüber Bescheid, und das muss so bleiben, sonst kriegst du es mit mir zu tun«, flüsterte Rico ihm bedrohlich ins Ohr.

»Ihr könnt euch auf mich verlassen«, versicherte Otto etwas verdattert.

»Jetzt ist genug geredet«, beendete Giacomo das Gespräch abrupt, als sich immer mehr Bekannte von der facultas an den Tisch setzten.

»Inter pedes virginum gaudium est juvenum26«, sangen sie mit vereinten Kräften und Otto kam nicht umhin, ebenfalls mit einzustimmen. Während der Trebbiano das Übrige tat, um die Zungen zu lockern, beschloss Otto nach dem dritten Becher im Stillen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen und für alles offen zu sein, was da auf ihn zukommen mochte.

»Giacomo, du sollst sofort zu Ferrara kommen, es ist etwas mit deinem Vater!«, schrie auf einmal Longus in die Runde. Er musste gerannt sein, so schwer, wie er atmete.

Giacomo stand mit versteinerter Miene auf und die Gesänge am Tisch verstummten augenblicklich. Für Otto war klar, dass der Himmel ein Zeichen zur Warnung geschickt hatte.

Sicher ist es nicht gottgefällig, was hier geschieht. Der arme Giacomo!

25 29. September

26 Das Vergnügen der jungen Burschen liegt zwischen den Beinen der Jungfrauen.