Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors

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Kempten, drei Tage vor Sankt Josef5 1557

»Schaut, dass ihr heimkommt, versoffenes Pack!«

Anna Dorn schlug energisch die Tür zu und strich sich die schweißverklebten Strähnen aus dem Gesicht. Nachdem sie die letzten betrunkenen Gäste aus der Wirtsstube des »Raben« ins Freie verfrachtet hatte, kehrte sie in den Schankraum zurück, wo der alte Blärsch am Stammtisch schnarchte. Unter ihm hatte sich auf dem Boden, wie so oft, eine übel riechende Lache gebildet.

Anna versuchte, den Wirt noch immer mit Wohlwollen und Demut zu betrachten. Sie konnte sich gut daran erinnern, wie sie dem Alten vor Dankbarkeit um den Hals gefallen war, als er sie vor vier Jahren aus dem Waisenhaus geholt hatte. Damals hatte sie geglaubt, dass sie einen neuen Vater bekommen würde. Alle Kinder im Heim wünschten sich sehnlichst eine neue Familie. Aber dem Blärsch stand der Sinn nach etwas anderem. Freie Kost und Logis bei Mithilfe in der Wirtschaft hatte er der Schwester Oberin versprechen müssen und ihr einen schönen Batzen zugesteckt.

Kurze Zeit später war klar geworden, was er im Schilde führte. Manches Mal hatte er versucht, sich an ihr zu vergreifen, und nur weil die Blärschin Anna wegen ihrer Schreie zu Hilfe gekommen war, hatte er von ihr abgelassen. Wenn er am Abend betrunken war und sie lüstern anstarrte, versuchte sie, ihn möglichst auf Abstand zu halten. Sie hatte nur noch Abscheu für ihren vermeintlichen Retter übrig.

Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. Anna stand einige Augenblicke da und kämpfte mit sich und dem gestrigen Bibelwort. War dies eine von den zahlreichen Erniedrigungen, die ihr im Himmelreich vergolten würden? Unter dem alten Blärsch aufwischen und gleichzeitig an die himmlischen Freuden denken?

»Ach, Georg, du hast gut reden! Ich wüsste mir schon Freuden, aber halt irdische«, seufzte sie leise.

Georg, der Prediger der Sankt-Mang-Kirche, war ihr einziger Lichtblick und Rückhalt. Sie kannte ihn bereits aus dem Waisenhaus, wo er Lesen und Schreiben unterrichtete. Schließlich hatte er sie eingeladen, seine Bibelstunden zu besuchen. Er war eben ganz anders als die ungebildeten Wirtshausbrüder. Seine große, noble Erscheinung, die gütigen Augen und sein gepflegtes schulterlanges Haar hatten sie seit jeher beeindruckt.

Sie war neugierig und löcherte ihn mit Fragen, und er allein war es, der ihren Wissensdurst stillen konnte. Oft hatte er ihr von Caspar erzählt, seinem Meister, den er pries und verehrte. Er hatte sich in das katholische Kempten begeben, um dort die Menschen zurück zu den Ursprüngen des Christentums zu führen. Das Wort Gottes in seiner reinsten Form, ohne Beiwerk. Sie konnte es kaum erwarten, ihn sonntags nach dem Gottesdienst zu hören – und zu sehen. Es gab keine andere Gelegenheit, aus der Wirtschaft zu entkommen. Der alte Blärsch wachte eifersüchtig über jeden ihrer Schritte.

Als sie den Wirt jetzt hilflos in seinem Erbrochenen sitzen sah, konnte Anna nicht anders. Sie holte Kübel und Putzlappen und begann, auf allen vieren die Holzdielen zu wischen. Während sie ihm so nahe kam, dass sie seinen fauligen Atem riechen konnte, stieg der vertraute Ekel in ihr auf und die ganze Demut war beim Teufel. »Stinkender Widerling!«

Am liebsten hätte sie ihm die Brühe über den Kopf geschüttet, doch sie beherrschte sich, brachte den Kübel nach draußen, löschte alle Kerzen in der Stube und ließ den Alten weiterschnarchen. Dann hangelte sie sich erschöpft und müde die Treppen hoch in ihre Kammer. Sie wusch sich die Hände, öffnete ihre blonden Haare und setzte sich an das Tischchen. Liebevoll streichelte sie das Buch, das Georg ihr überlassen hatte: die »Confessio von der Erklärung und der Erkenntnis Christi«. Es war zu dunkel, um zu lesen, aber Anna freute sich allein daran, es zu fühlen. Das Buch war für sie ein Teil von Georg, es zeigte seine Zuneigung, vielleicht sogar seine Liebe. Sie faltete ihre Hände zum Gebet.

Das irdische Leiden öffnet euch die Tür zum ewigen Leben. Seid demütig und duldsam, das ist der Schlüssel für das Himmelreich. Immer wenn es unten in der Stube besonders schlimm war, kamen ihr die Worte Caspars in den Sinn, mit denen Georg versucht hatte, sie zu trösten.

»Lieber Gott, sei nachsichtig mit deiner Dienerin.« Aber muss denn mein Leiden so lang und so ekelerregend sein? »Erlöse mich von dem Übel, aber nicht mein Wille geschehe, sondern …« Anna schreckte auf. Es hörte sich an, als hätte jemand ein Steinchen an die Scheibe geworfen. Sie öffnete das Fenster.

»Wach auf, mein Seel!«, kam es geflüstert von unten.

»Lobsinge seinen Namen!«, antwortete sie freudig und augenblicklich war jede Müdigkeit von ihr gewichen. Sie lehnte sich aus dem Fenster. »Georg? Ist etwas passiert?«

»Anna, hör zu, ich muss fliehen.«

Sie wollte den Gedanken, dass Georg weggehen würde und sie hier in diesem elenden Loch veröden müsste, gar nicht zu Ende denken. Sie gehörte nun einmal dem Blärsch, und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis er sie mit einem seiner versoffenen Stammtischbrüder verkuppelte. Ihr Entschluss fiel in Sekundenschnelle. Sie wandte sich dem schlichten Holzkreuz in ihrer Kammer zu. »Es ist göttlicher Wille! Du willst also, dass ich dieses Haus verlasse und mit deinem Prediger gehe!« Sie überlegte nicht mehr. »Georg«, rief sie in die Dunkelheit, »in Gottes Namen! Warte auf mich, bitte!« Anna zog ihren Kapuzenumhang über, nahm das Kreuz von der Wand, schnürte die wenige Wäsche, die sie besaß, zu einem Bündel und … Fast hätte sie das Wichtigste vergessen: das Buch. Sie nahm es, küsste es, schob es zwischen die Wäsche und stürmte aufgelöst die zwei Stockwerke hinunter, am Schankraum vorbei.

»Du wirst mich nie wieder anfassen, du mieses, ekelhaftes Dreckstück!«, zischte sie dem schnarchenden Blärsch als Abschiedsgruß in die Stube. Es tat ihr gut, diese Worte wenigstens einmal auszusprechen. Vorsichtig schob sie den Riegel zurück, was nicht ohne Geräusch vonstattenging, und lief in die Nacht hinaus.

»Georg«, flehte sie schon von Weitem und fiel ihm um den Hals, »bitte nimm mich mit, wohin du auch gehst. Ohne dich halt ich es hier nicht aus!«

»Anna, es ist nicht so einfach!«

Sie spürte, wie er sich aus ihrer Umarmung löste und sich seinem Pferd zuwandte. »Ganz ruhig, mein Brauner.« Der wiehernde Gaul, den es zu beruhigen galt, kam ihm anscheinend gerade recht. »Der neue Abt, Herr von Gravenegg-Burchberg, hat mich des Amtes enthoben, nachdem ich den ganzen Abend mit ihm gestritten hatte.« Seine Stimme klang besorgt. »Ich muss die Stadt noch vor dem Morgengrauen verlassen.«

Endlich erwiderte er ihre Umarmung und Anna genoss es.

»Ich habe es mir nach deiner Predigt am letzten Sonntag fast gedacht, als du die Gegenwart Gottes während der Wandlung infrage gestellt hast und daraufhin mehrere Ratsmitglieder unter Protest aus der Kirche gelaufen sind.«

»Sie verstehen uns hier nicht. Darum ist die Entscheidung des Pfaffen nur konsequent. Ich bin ab sofort ein Flüchtling, Anna. Du hast wenigstens ein Dach über dem Kopf.«

Anna wusste, dass er sie mit all ihren Habseligkeiten nicht stehen lassen würde und alles Gerede nur eine Ausflucht war.

»Die tägliche Unsicherheit, die Angst vor Verfolgung, Anna. Überlege es dir gut, ob du deine Heimat gegen das unstete Leben eines Prädikanten tauschen willst.«

»Da gibt es nichts zu überlegen, Georg. Ich gehe mit dir. Alles, was bisher mein Leben hier erträglich gemacht hat, würde ohne dich absterben. Du hast mich auf den richtigen Weg geführt. Frag dich doch, wie Caspar an deiner statt handeln würde? Ich kann nicht mehr zurück zu den Pfaffen mit ihrem Hokuspokus. Gott hat mir durch dich die Augen geöffnet. Lass uns da hingehen, wo wir unter Gleichgesinnten miteinander leben können.«

Während sie notdürftig ihre Haare zusammenband und ihr Bündel an einer der Satteltaschen befestigte, sah sie aus den Augenwinkeln Georg Mayer – den Prediger und Kämpfer vor dem Herrn, stattlich und eindrucksvoll, sonst nie um eine Antwort verlegen – wie zur Salzsäule erstarrt dastehen.

»Was ist mit dir, Georg? Hat es dir die Sprache verschlagen?«

»Ich weiß nicht, Anna …«

»Annaaaaaaa!«, klang es gellend aus der Gastwirtschaft und Anna zuckte zusammen. »Mach, dass d’reikommscht, aber weidle6!« Im nächsten Moment stand der alte Blärsch schwankend auf der Straße.

»Der Alte kommt, jetzt mach schnell!«, rief sie Georg zu.

Geistesgegenwärtig erkannte dieser die Situation, saß auf und zog Anna mit einem Ruck hinter sich auf das Pferd.

»Büttel, kruzitürkn, komm raus und hol mir dia Feel z’ruck, dia g’heart mir! Mein Lade kann i zuamacha, wenn des Luader die geile Böck nimma bediena duad«, lallte der Wirt, während Georg das Pferd antrieb.

»Lass se gau, Gottl!«, schrie die Blärschin aus dem geöffneten Schlafzimmerfenster. »Dia blond Hex hätt no viela Mannsbilder de Kopf verdräht!«

»Jetzt ist auch noch die Alte wach geworden«, rief Anna Georg ins Ohr.

Das Pferd trabte an und verlangsamte den Schritt erst kurz vor dem Illertor. Der Torwärter kam müde aus seinem Häuschen und ließ die beiden ungefragt passieren, zumal es ihm peinlich schien, im Schlaf erwischt worden zu sein.

»Halt dich gut an mir fest!«, mahnte Georg. Genau das wollte Anna hören. »Wir wollen die Stadt schnell hinter uns bringen, und wer weiß, ob die Stammtischbrüder vom alten Blärsch nicht versuchen, dich zurückzuholen.«

Anna legte vertrauensvoll ihren Kopf an seine Schulter und klammerte sich mit beiden Händen fest an ihn. Georg trieb das Pferd im Galopp in Richtung Norden.

 

»Machen wir uns jetzt auf die Suche nach Caspar?«, fragte sie.

»Ich brauche irgendwo eine Anstellung, nur mit dem Verfassen von disputationes kann ich nicht überleben. Aber vielleicht können wir das eine mit dem anderen in Verbindung bringen. Bei den Katholischen werde ich keinen Fuß mehr in die Tür setzen, das ist vorbei! Ich wollte eigentlich in die Reichsstadt Isny, wo Caspar eine treue Gemeinde hat, aber lass uns lieber gleich nach Ulm reiten, dort ist alles protestantisch. Da weiß man am besten, wo ich als Prediger oder Lehrer gebraucht werde.«

»Egal, wohin du mich bringst, Georg, bei dir fühle ich mich geborgen.«

»Also dann auf nach Ulm. Vielleicht bekommen wir dort Hinweise, wo sich der Meister aufhält.«

Mit ihrem Retter hinaus in die Freiheit, weg vom Mief und Dreck und der drohenden Verkuppelung! Anna hätte die ganze Welt umarmen können, und das zeigte sie Georg. Sie genoss es, eng an ihn geschmiegt hinter ihm zu sitzen und seinen Herzschlag zu fühlen. Sie war glücklich. Das fahle Mondlicht beleuchtete die Straßen. Als sie fast eine Stunde durch die kalte Nacht geritten waren, verlangsamte Georg die Geschwindigkeit und hielt an einem Heuschober an.

»Lass uns hier ein paar Stunden ausruhen«, schlug er vor. Im nächsten Moment war er abgestiegen und half Anna vom Pferd. Frierend folgte sie ihm zum Stadel. Im Inneren war es stockdunkel. Dennoch bemerkte sie, dass Georg zwei getrennte Lager aus Stroh vorbereitete.

»Kann ich heute Nacht nicht neben dir liegen, Georg? Mir ist so kalt. Wir gehören doch jetzt zusammen, werden beide verfolgt.« Anna versuchte, im Dunkeln Georgs Hände zu greifen.

Ohne auf ihr Anliegen einzugehen, legte sich Georg in sein Stroh.

»Wer der Kirche Christi angehören will, muss mit Verfolgung rechnen; dies ist ein konstituierender Faktor des Christenlebens. Je mehr einer Christus in sich aufnimmt, umso mehr wird er verfolgt.«

Anna war enttäuscht. »Ich weiß, Georg, aber du brauchst heute nicht mehr zu predigen! Mach etwas für mich, denn mich friert.«

Als wieder keine Antwort kam, stand sie auf, streifte trotz der Kälte ihre Kleider ab, nahm energisch ihre Decke und legte sich an seine Seite.

Georg machte weder Platz, noch wehrte er sich, er flüchtete sich in das, was er am besten beherrschte: in seine Sprache.

»Die katholische Kirche hat sich weit von der Urkirche entfernt, sie baut auf Macht und auf das alte Fleisch und nicht auf den Geist und das Gewissen. Die äußerlichen Zeichen unserer Kirche sind nicht großartige Gebäude, sondern Geduld, Liebe, Frieden, Gottesfurcht, Erkenntnis Christi und gottseliger Wandel. Das Haus Gottes, in dem ich gepredigt habe, ist nur ein Versammlungsraum und nicht meine Heimat. Jeder wahre Christ muss seinen Körper und seine Seele so bereiten, dass Gott darin ein Zuhause …«

»Ach, Georg, wenn du nur ein wenig mehr an das irdische Zuhause denken könntest«, nörgelte Anna, drehte sich einmal um die eigene Achse und lag nun direkt neben ihm. Sie schmiegte sich an ihn, nahm seine Hand, zog sie unter die Decke auf ihre nackte Haut und führte sie von ihren weichen Brüsten bis hinunter zwischen ihre Beine. Georg versuchte verzweifelt, mit irgendwelchen Nebensächlichkeiten abzulenken und sich so ihrem Begehren zu widersetzen.

»In Ulm gibt es ein Haus unserer Gemeinde, von wo die Ärztin Agatha Streicher Nachrichten und Botschaften verteilt. Sie steht in regem Briefkontakt mit Caspar, wenn du möchtest, gehen wir …«

Weiter kam er nicht; Anna hatte von seinem Mund Besitz ergriffen und ihn mit einem alles vergessen machenden Kuss zum Schweigen gebracht. Sie ließ ihm keine Möglichkeit, sich zu wehren. Anna öffnete ihm mit flinker Hand die Hose und ergriff den Teil seines Körpers, für den sie noch keinen Namen hatte. Sie kannte nur das, was sie an schamlosen Übertreibungen in der Wirtsstube des alten Blärsch aufgeschnappt hatte.

Es bedurfte keines Namens und Georg ließ es geschehen. Ihre Körper fanden so zueinander, wie sie es sich in ihren Träumen immer vorgestellt hatte. Sie war es, die ihn dahin führte, wohin ihre unbändige Lust es gebot und wo er sehnlichst erwartet wurde. Sie wiegten sich in einen Rausch des Gebens und Nehmens, der sich stetig steigerte. Immer kürzer wurde ihr Atem, immer lauter ihr Stöhnen, bis Georg mit einem unterdrückten Aufschrei an ihre Seite glitt. Erschöpft und glücklich sanken sie fest umschlungen in einen gemeinsamen tiefen Schlaf.

Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen in den Heuschober, und das Pferd, das in der Ecke angebunden war, scharrte ungeduldig mit den Hufen. Anna beobachtete, wie Georg aufstand, sich anzog, das Pferd sattelte und hinausführte. Sie fühlte sich trotz der Kälte wie neugeboren.

Als Georg sah, dass sie sich streckte und rekelte, kam er auf sie zu. »Ich hätte es nicht tun dürfen. Wir sind nicht verheiratet. Du warst noch Jungfrau. Ich habe mich an dir versündigt und deine Zukunft zerstört. Ich habe einen großen Fehler gemacht, Anna, es tut mir unendlich leid.« Georg ging vor ihr auf die Knie.

»Guten Morgen, Liebster«, flüsterte Anna mit einem breiten Lächeln, als hätte sie seine Worte nicht gehört.

»Ich weiß, dass du niemals heiraten wirst und dein Leben ganz und gar Gott geweiht hast, aber heute Nacht hast du mir etwas gegeben, das ich von keinem Mann hätte lieber empfangen mögen als von dir, nämlich eine richtige Frau zu werden.« Sie sprang hoch und umarmte ihn so wild, dass er ihr nicht ausweichen konnte.

»Anna, ich habe mich heute Nacht gehen lassen, die Wollust hat sich meiner bemächtigt, und ich schäme mich für meine Unbeherrschtheit. Verzeih mir, bitte!« Georg flüsterte diese Worte in ihr Ohr und drückte ihren Kopf fest an seinen Mund.

»Wie kannst du nur eine Sekunde von dem bereuen, was wir beide heute Nacht gemeinsam erleben durften, Georg? Hast du mir nicht ständig gepredigt, dass nichts Schlechtes sei an der Verbindung zwischen Mann und Frau, dass das Wesen der göttlichen Liebe auch die körperliche mit einschließe?«, erwiderte Anna und biss ihm ins Ohrläppchen.

»Wenn ich Caspar irgendwann mal treffe, werde ich ihn fragen, ob du unrecht getan hast, indem du mir eine himmlische Nacht bereitet hast. Quält es dich denn so, dass du nicht mehr zur Beichte gehen kannst wie deine katholischen Mitgeistlichen, die nach einer solchen Untat, oder wie du es nennen magst, sich bei ihrem Beichtvater das ego te absolvo7 abholen? Ist es das, was du vermisst? Willst du dir von einem Pfaffen die Absolution erteilen lassen?« Georg war ins Stroh gesunken und saß da wie ein Häufchen Elend. Es fiel ihm sichtlich schwer zu antworten.

»Ich liebe dich, Anna, das ist es! Aber ich kann dir keine Zukunft geben, ich bin Prediger. Ich weiß, wie sehr du dich nach einem festen Dach über dem Kopf sehnst, nach einer Familie, nach Kindern.«

»Lass das meine Sorge sein, Georg, du hast mir keine Gewalt angetan, bring das endlich aus deinen Gedanken. Ich werde dich nicht der Vergewaltigung anklagen. Es soll dir erspart bleiben, drei Sonntage lang im Büßergewand mit einer Kerze während des Gottesdienstes draußen vor der Kirche stehen zu müssen.« Anna lachte, denn diese Szene hatte sie oft genug in Kempten miterlebt.

Georg sah darüber wenig erheitert aus. »Sollte ich einen Mann finden, der mit mir ein gemeinsames Leben führen möchte, werde ich ihm von unserer Nacht erzählen, und wenn das für ihn ein Grund wäre, mich zu verstoßen, wäre er eben nicht der richtige«, stellte Anna abschließend fest.

Sie suchte ihre Kleider zusammen, zog sich an, warf den Mantel über, marschierte hinaus und setzte sich mit verschränkten Armen auf das Pferd. Georg sagte nichts mehr; es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich selbst zu ihr auf den Pferderücken zu schwingen und sich dem Herrn zu empfehlen. Anna lehnte ihren Kopf an seine Schulter, und während Georg halblaut im Rhythmus der Hufe um Vergebung seiner Sünde betete, genoss Anna den Morgen; sie fühlte sich gut, freute sich über die neue Freiheit und hatte keinerlei Mitleid mit ihrem Georg.

5 19. März

6 Allgäuerisch: schnell.

7 Ich spreche dich frei.

2

Ulm, 20. März 1557

Vier Tage waren sie unterwegs gewesen. In Memmingen und Dettingen hatten sie züchtig in Herbergen übernachtet. Anna spürte, dass Georg sich immer noch schwere Vorwürfe machte. Sie zeigte ihm ihre Nähe, indem sie ihn stets fest umarmte, wenn sie wieder hinter ihm auf dem Pferderücken saß. Seine Gedanken wollte sie jedoch nicht stören. An diesem Tag hatten sie so gut wie nichts miteinander gesprochen. Sie waren die Letzten, denen am Memminger Tor noch Einlass nach Ulm gewährt wurde. Kaum eine Menschenseele war zu sehen, als sie den braven Gaul über die Donaubrücke in die Stadt führten.

»Glaubst du denn, dass wir Caspar treffen werden?« Anna war müde und erschöpft, alle Knochen taten ihr weh. Nie zuvor in ihrem Leben war sie auf einem Pferd gesessen und jetzt ritt sie schon tagelang.

»Agatha Streicher weiß eigentlich immer, wo er sich aufhält. Ihr Haus befindet sich in der Langen Gasse, ganz nah am Münsterplatz. Ich war fünfzehn, als ich bei ihrem Vater zum ersten Mal Caspar gehört habe. Er hat mir den Weg gewiesen, dem ich heute noch folge.«

»Ich kann kaum laufen, Georg«, seufzte Anna. »Ich sehne mich nach einem Bett, aber die Nacht mit dir im Heustadel werde ich nie vergessen.«

Georg tat so, als hätte er es nicht gehört. »Agatha wird uns sicher Quartier gewähren.«

»Was macht denn diese Agatha so besonders?«

»Sie hat sich von ihrem Vater ein ungeheures Wissen erworben, obwohl sie nie an einer Universität war, und sie ist ein Engel. Sie hilft den Leuten, die von weit her zu ihr kommen«, er senkte die Stimme zu einem Flüstern, »und lebt das Schwenckfeldertum. Bei ihr ist das Zentrum der Gemeinde. Agatha steht seit vielen Jahren mit Caspar in Verbindung, der selbst immer wieder in ihrem Haus Gast ist.« Inzwischen waren sie vor dem Haus in der Langen Gasse angekommen.

»Ich hoffe«, sagte Anna, »dass sie uns weiterhelfen kann.«

»In Gottes Namen, so lass es uns versuchen.« Georg klopfte mit dem schweren Eisenring an die Tür. Gleich darauf öffnete sich ein Fenster.

»Wach auf, mein Seel!«, rief er hinauf.

»Lobsinge seinen Namen«, klang es verschlafen von oben. »Wer klopft denn um diese Zeit noch an?«

»Gnade und Friede im Herrn, Schwester. Ich bin Georg Mayer, Agathen bin ich sehr wohl bekannt. Das ist Jungfer Anna Dorn aus Kempten, wir sind seit vier Tagen auf der Flucht und bitten für eine Nacht um Quartier.«

Anna konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Stellt das Pferd hinten in den Stall, der Knecht wird es versorgen. Wartet dort, ich komme hinunter!«

Georg bedankte sich und führte das Pferd in den hinteren Teil des herrschaftlichen Hauses, wo durch einen Bretterverschlag Licht schimmerte.

»Ich bin dir so dankbar, Georg, dass du mich mitgenommen hast.« Anna band ihr Bündel von den Satteltaschen los, während Georg das Pferd dem Knecht übergab, der mit qualmender Pfeife aus seinem Verschlag getreten war. Die Frau, die sie an den Stallknecht verwiesen hatte, kam auf sie zu und bat sie ins Haus. Sie trug einfache Kleidung und war vermutlich die Magd.

»Die Herrschaft will am Abend nicht gestört werden und wird euch morgen früh empfangen. Ich habe euch etwas zu essen hergerichtet.«

Mit einer Laterne und zwei Holztellern voller Speck, Wurst und Brot begleitete die Magd sie in das oberste Stockwerk des Hauses, wo in zwei nebeneinanderliegenden Zimmern Betten bereitstanden.

Georg verabschiedete sich mit einer heftigen, aber betont kurzen Umarmung von Anna. Für sie fühlte es sich an, als wolle er sie sich vom Hals halten, sie war allerdings zu erschöpft, um länger darüber zu grübeln. Ihr ganzer Körper schmerzte, mehr aber tat es ihr in der Seele weh. Sie hatte sich das Ende des heutigen Tages etwas anders vorgestellt. Sie hatte wenigstens einmal noch eine Nacht mit ihm verbringen wollen, dieses Gefühl des Verschmelzens ein zweites Mal erleben oder zumindest neben ihm einschlafen, dem Mann, den sie bewunderte und verehrte, der sie aus den Zwängen des Sklavendaseins befreit hatte und ihr eine neue Perspektive geben würde. Sie seufzte und wandte sich schließlich ihrem Essen zu. Kurz darauf fiel sie gesättigt ins Bett, dachte sehnsüchtig an Georg und inmitten dieser Gedanken fielen ihr die Augen zu.

 

»Der Friede sei mit euch, seid willkommen in meinem Haus, das allen unseren Brüdern und Schwestern, die guten Willens sind, offen steht. Georg, wie schön, dich wiederzusehen.« Agatha Streicher umarmte Georg und begrüßte Anna ebenso herzlich.

»Lasst uns in die gute Stube gehen. Susanna, ihr habt sie gestern bereits kennengelernt, hat euch die Milchsuppe hergerichtet.« Sie betraten das Kaminzimmer und setzten sich an den riesigen Eichentisch, der vielen Gästen Platz bot.

»Erzähl, wie geht es dir, und was verschafft mir die Ehre eures Besuchs?«, wandte die Hausherrin sich an Georg, nachdem Susanna heißen Tee eingeschenkt hatte.

»Du weißt, Agatha, dass ich vieles unter meinem Pseudonym für Caspar verfasst habe. Seit vier Tagen bin ich ohne Anstellung, weil mich der neue Abt in Kempten nicht mehr ertragen konnte. Jungfer Anna Dorn hat sich mir angeschlossen. Sie denkt und lebt in unserem Geiste und ist auf der Flucht vor einem skrupellosen Wirt, von dem sie ausgebeutet wurde. Wir hoffen, dass du uns Caspars Aufenthaltsort nennen kannst. Es ist unser gemeinsames Ziel, dem Meister nah zu sein.«

Anna lächelte Georg zu, hoffte aber vergebens auf einen Blick der Zuneigung.

»Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war, dass der Meister sich bei den Augsburger Rehlingern in Pilgerhausen8 auf einem der Einödhöfe versteckt hält. Ich werde einen Brief an Jacobus verfassen und euren Besuch anmelden.« Anna dachte an ihre nach wie vor schmerzenden Knochen und sah Georg auffordernd an. Er hatte ihren Blick offenbar verstanden.

»Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet, Agatha. Wenn du erlaubst, würden wir uns gerne einen weiteren Tag erholen, bevor wir die lange Reise antreten.«

Agatha Streicher lachte. »Bleibt, so lange es euch gefällt, und seht euch in Ulm ein wenig um, bevor ihr dort oben in den Wäldern mit Füchsen und Bären hausen werdet. Unsere Stadt hat einiges zu bieten.«

8 Von Schwenckfeldern verwendetes Synonym für Leeder.