Der Weg der Weisheit

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Die Urscham

Die Geschichte der Ursünde, wie sie das erste Buch der Bibel, die Genesis, erzählt, ließe sich in gewisser Hinsicht besser als Urscham bezeichnen; denn Adam und Eva beschreiben diese Erfahrung damit, dass sie sich danach nackt fühlen. Hierauf lautet eine der ersten Fragen Gottes an seine erst unlängst neu erschaffenen Menschen: „Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist?“ (Genesis 3,11). Dann wird mit einem liebevoll mütterlichen Bild beschrieben, wie Gott als Näherin dem ersten Menschenpaar Röcke aus Fellen anfertigte und sie damit bekleidete (3,21). Das Erste, was Gott nach der Schöpfung wieder aktiv tut, ist also, dass er die Scham seiner neuen Geschöpfe verhüllt. Damit muss etwas Grundsätzliches in uns gemeint sein.

Wir leben nicht nur in einer Zeit namenloser Angst, sondern auch in einer Zeit der Urscham. Ich begegne nur sehr wenigen Menschen, die sich nicht ein Stück weit unzureichend, minderwertig oder unwert fühlen. Immer wenn jemand zu mir mit der Bitte um geistlichen Rat oder zum Beichtgespräch kommt, bringt er auf die eine oder andere Weise zum Ausdruck: „Wenn andere wüssten, was mir so alles durch den Kopf geht, was ich getan und gesagt habe oder was ich tun möchte, dann würde mich kein Mensch mehr lieben.“ Wer kennt nicht dieses Gefühl, unwert zu sein. Sicher, das äußert sich in ganz unterschiedlichen Formen, aber irgendwie scheint es im Leben eines jeden von uns Gestalt anzunehmen.

Es heißt, Schuldgefühle bezögen sich auf etwas, das man getan oder unterlassen habe. Wenn wir uns schämen, bezieht sich das dagegen auf die Leere unseres Lebensgefühls an sich. Beim Schuldgefühl geht es um Moral. Bei der Scham, jedenfalls bei der Urscham im beschriebenen Sinn, geht es um unser Sein als solches. Überwinden lässt sie sich nicht, indem ich mein Verhalten ändere, sondern eigentlich nur, wenn ich mein Bild von mir selbst überprüfe und ändere, also die Art, wie ich mich ins Universum eingegliedert sehe. Bei Scham geht es nicht darum, was ich tue, sondern wo ich mich verstecke.

Neun von zehn gläubigen Menschen gehen von der Annahme aus: „Wenn ich mich richtig verhalte, werde ich eines Tages Gott schauen können.“ In der biblischen Tradition wird das genau umgekehrt gesagt: Wenn du Gott schaust, verhältst du dich richtig und menschenwürdig. Dein richtiges Verhalten sammelt dir nicht Pluspunkte, mit denen du schließlich ein echtes Sein erwerben kannst. Nein, dein echtes Sein führt dich schließlich zum richtigen Verhalten. Viele Gläubige meinen, dass eine einwandfreie Moral sie zur Vereinigung mit Gott führe, aber in Wirklichkeit ist es genau umgekehrt: Die Frucht mystischer Vereinigung, der wirklichen Hingabe an Gott, des vertrauenden Glaubens sind einwandfreie Moral und dazu noch ein Überschuss an Freude. Als größte Überraschung ergibt es sich zuweilen sogar, dass eine miese, selbstgerechte Moral schließlich das Ich zum Kollabieren bringt und es zitternd in die Hände des lebendigen Gottes fallen lässt (vgl. Hebräer 10,31).

Ein unwahrscheinlicher Gott

Christen haben eigentlich ein sehr seltsames Bild von Gott: einen nackten, am Kreuz verblutenden Menschen. Einmal ganz ehrlich: Wenn Sie eine Religion erfinden müssten, würden Sie jemals auf den Gedanken kommen, ein solches Bild von Gott vorzustellen? Ich jedenfalls, wenn ich eine neue Religion hätte entwerfen sollen, hätte eher „sieben Verhaltensweisen für Leute, die besonders effizient leben wollen“, aufgestellt. Und als Symbol meines Gottes hätte ich eine große Sonne oder einen riesigen goldenen Stern gewählt und Gott als „die Kraft“ bezeichnet. In tausend Jahren wäre ich nicht auf die Idee gekommen, mir Gott im Bild eines von Gesellschaft wie Religion verworfenen nackten, blutenden, armen Menschen vorzustellen.

Katholiken sind mit dem Kruzifix aufgewachsen und haben es schon so oft gesehen, dass sie gar nicht mehr merken, wie befremdlich und verblüffend es ist. Es ist nicht das, was man sich unter einem Bild für Gott vorstellen würde. Ich weiß nicht einmal, ob sie es wirklich mögen. Ich weiß auch nicht, ob ich es mag. Es ist nicht von der Art, wie ich mir eigentlich die Welt gern vorstellen würde. Ist hier Gott reichlich ausgefallen, oder sind wir es, die die Lage des Menschen nicht angemessen diagnostiziert haben?

Welche Frage versucht Gott damit zu beantworten, dass er uns einen gekreuzigten Menschen als Gott vorstellt? Welches menschliche Problem versucht Gott uns am Kreuz zu offenbaren und von welchem uns zu befreien? Wir haben immer gesagt, er habe versucht, uns von unserer Sünde zu erlösen. Und das stimmt wohl auch vollkommen. Paulus sagt, Gott habe Jesus „für uns zur Sünde gemacht“ (2 Korinther 5,21), damit er uns von unserer Sünde befreie. Was ist also unsere „Sünde“?

Ich glaube, man könnte es das „unwissentliche Töten“ nennen. Er offenbart uns sowohl unser Unwissen als auch das Töten, die uns beide verborgen sind.

Jesus zieht unseren Hass auf sich und erwidert ihn nicht. Er leidet und macht die anderen nicht leiden. Er ist nicht unverzüglich darauf aus, die anderen zu ändern, sondern er zahlt den Preis für die Änderung mit sich selbst. Er absorbiert das Rätsel der Sünde des Menschen, statt es weiterzugeben. Er gebraucht sein Leiden und seinen Tod nicht als Machtmittel über andere, um sie zu bestrafen, sondern als Kraft für andere, um sie zu verwandeln.

Der auferstandene Jesus ist der voll und ganz personifizierte Sieg. Als das Vergebung schenkende Opfer der Geschichte wird er selbst umgewandelt und auferweckt und wandelt auch andere um und erweckt sie. Er schließt den Sünder mit ein und vergibt ihm, statt ihn zu hassen und dadurch das Muster des Hasses weiterzuführen. Er schenkt uns eine andere Art Geschichte und Zukunft über die vorhersagbare gewalttätige hinaus. Er bringt den unvermeidlichen Tod zum Stillstand. „Er vernichtet den Tod für immer“, wie wir in der Osterzeit sagen. Er vernichtet den Tod, der schon immer an uns Lebenden zehrt und unsere Herzen auffrisst. Tod, das ist dieser endlose Versuch zu rechtfertigen, warum ich ein Recht auf mein Verletzen und ein Recht auf meinen Hass habe. Doch Jesus beseitigt den Tod nicht einfach; er macht vielmehr aus ihm eine Siegestrophäe. Es ist, als nehme er den Tod und sage: „Meint ihr, den könnt ihr gegen mich einsetzen? Um mich zu vernichten? Ich werde ihn verwenden, um euch zu lieben!“ Es scheint, Gott lässt den Tod und das Böse zu, soweit er sie auch zu unseren Gunsten verwenden kann. In der Ökonomie Gottes wird nichts vergeudet, nicht einmal die Sünde, das Böse oder der Tod. Das ist Gottes endgültiger Sieg.

In irgendeinem Sinn waren alle alten Religionen von der Vorstellung geleitet, die Menschen müssten Blut vergießen, um zu Gott zu gelangen. Gott war fern, fordernd und gefährlich. Der Mensch empfand sich als derart unwürdig, dass Gott ihn unmöglich lieben konnte. Im Geheimnis des gekreuzigten Jesus wird nun diese Grundvorstellung der Urreligion auf den Kopf gestellt. Es bedarf keiner Menschenopfer, keiner Tieropfer, keiner Selbstkasteiung mehr, um sich das Wohlgefallen eines Gottes zu erwerben, der einen im Grunde überhaupt nicht mag. Statt dass wir Blut vergießen müssen, um zu Gott zu gelangen, bekommen wir es mit einem Gott zu tun, der sein Blut vergießt, um zu uns zu gelangen! Darüber sollte man eine ganze Woche lang beten. Es genügt, um einen umzuwandeln.

Gott ergreift immer die Initiative. Gott ist immer der „Himmelshund“, der hinter uns her ist, weil Gott um unsere Urscham weiß. Gott näht immer Kleider, um unser gewaltiges, tiefsitzendes Gefühl der Unwürdigkeit zu verhüllen. Schon unsere ersten Hinbewegungen in Richtung Gott werden dadurch ausgelöst, dass Gott sich zuerst auf uns zu bewegt hat. In einem ganz wahren Sinn hat Jesus die Religion für immer aufgehoben. Er gründete keine Religion, sondern setzte die Religion auf das Fundament der Sünde, das heißt des Fernseins-vom-wahren-Gott, und des Alltagsstoffs unseres Lebens.

Die Botschaft vom Kreuz

Ich war zum Unterrichten auf den Philippinen, als sich für mich diese Grundeinsichten allmählich ineinander fügten. Ich sah, wie viele der Armen in den dortigen Barrios das Kreuz immer noch als eine Aufforderung zur Selbstbestrafung verstanden. Ihr Verständnis des Christentums nahm zuweilen geradezu masochistische Züge an, so als ob Gott die Selbstbestrafung irgendwie gefalle. Sie wollten es nicht wahrhaben, sondern lebten in einem vom Evangelium noch unberührten Denken, in der Vorstellung, sie müssten sozusagen Blut vergießen, um sich Gottes Liebe zu verdienen. Das Folgende schrieb ich in mein Tagebuch, als ich auf einer Außeninsel arbeitete:

„Die Botschaft vom Kreuz verstehen die meisten Leute fälschlicherweise so, dass sie Passivität, heroisches Leiden, den Kult des Märtyrertums, eine Fußabstreifertheologie und den Verzicht auf das Kämpfen als ein Auf- oder Nachgeben deuten und das alles für Gott. Dies in den Köpfen der Leute zu ändern oder sie eine neue Sicht zu lehren ist sehr schwer. Vielleicht ist das der Grund, weshalb meinem Empfinden nach die meisten Menschen nicht glauben, die Botschaft vom Kreuz sei etwas Praktikables, Wünschenswertes oder gar Anziehendes. Das Kreuz bedeutet in den Augen der meisten nur ein einmaliges Leiden Jesu, das er auf sich nehmen musste, um eine Art notwendiger Schuldumbuchung im Himmel zu erwirken; aber wir können darin kein Programm für uns heute erkennen. Jesus habe daran gehangen, um uns Gottes Liebe zu beweisen, und deshalb sollten wir ihn bewundern. Dieses Bild ist wirkmächtig und ich will es gar nicht abschaffen. Aber es ist nicht das ganze Bild. Das Kreuz will vielmehr zeigen, wie wir kämpfen, und nicht, wie wir uns selbst zum Opfer machen sollen. Das Kreuz ist der Inbegriff des Sieges schlechthin und nicht des Sieges über jemand anderen.“

 

Im Evangelium geht es nicht um Gewinner oder Verlierer, sondern um lauter Gewinner. Aber nur sehr wenige erfassen diese Botschaft! Ich muss beschämt zugeben, dass manche Leute in der Geschäftswelt oder im Erziehungsbereich darin besser sind als viele in der Kirche. Denn sie beginnen zu begreifen, dass unser Leben nicht in der Art weitergehen kann, dass es auf immer ein Spiel zwischen Gewinnern und Verlierern ist. Wir müssen einen Weg finden, auf dem alle gemeinsam vorankommen. Am ehesten sind Mütter von vornherein so eingestellt: Darum geht es ihnen, wenn sie mit ihren eigenen Kindern reden und Kompromisse schließen. Weil sie sie lieben, möchten sie in jedem Fall, dass es ihnen gut geht und ihr Leben gelingt.

Das Kreuz weist im Grunde einen Weg zu gewinnen, auf dem man versucht, auch seinen Gegner als künftigen Gewinner mitzunehmen. Das Kreuz verbietet es, den anderen zu hassen oder zu demütigen; denn das würde nur immer wieder das gleiche Muster wiederholen und wechselseitige Gewalt auslösen. Das Kreuz bringt etwas von Grund auf Neues. Es stellt uns Menschen in eine völlig neue Lebensperspektive und zwingt uns zu einer Neudefinition dessen, was Erfolg ist. Was wollen wir wirklich? Worauf zielt unsere tiefste Sehnsucht?

Das Kreuz hat durchaus etwas mit Flucht zu tun, allerdings in dem Sinn, dass wir den gewohnten, fast zwangsläufigen Gegenschlag meiden. Wir fliehen vor der vorhersehbaren Reaktion, damit etwas Neues und Verwandelndes geschehen kann. Wir lassen das business as usual bleiben, um ein ganz neues Programm zu schaffen und gewissermaßen uns abzuringen. Das Kreuz hat daher auch mit Kampf zu tun, wobei aber völlig neu zu definieren ist, was echte Kampfkraft ausmacht und worin ein echter Wandel besteht.

Dies zu verstehen – damit taten sich seit je Frauen leichter als Männer. Männer wurden immer wieder selbst zu Opfern, wenn sie zu Soldaten gemacht oder ins Geschäftsleben geworfen wurden, wo alles nur auf Gewinnen oder Verlieren eingestellt war. Daher blieben sie viel länger der dualistischen Geisteshaltung verhaftet. Männer vermochten die Wirklichkeit nur aus der Perspektive des ständigen Wettstreits heraus sehen. Ihrer Vorstellung nach hieß und heißt ein Held sein immer noch, dass man gewinnt. Das Kreuz Jesu aber war dazu gedacht, völlig neu zu definieren, worin echtes Heldentum besteht. In den ersten beiden Jahrtausenden begriff dies nur eine kleine Minderheit von Klerus und Laien. Die Mehrheit machte im alten Opfer- und Bestrafungssystem weiter und setzte diese alte Geschichte immer weiter fort, sodass es in Fleisch und Blut überging.

Das Kreuz bedeutet, sich um den erlösenden Ausweg zu bemühen, ohne selbst zum Problem zu werden. Man braucht sich nur irgendeinen der vielen Kriege anzuschauen, um zu erkennen, warum das stimmt. Selbst bei den Revolutionskämpfen in den Ländern der Dritten Welt sieht man immer und immer wieder, dass die Menschen irgendeine Wirtschaftsreform auf dem Weg des Kampfes und unter Anwendung von Gewalt herbeizwingen wollen. Wenn die Revolutionäre dann an die Macht kommen, verfallen sie unweigerlich früher oder später in genau die gleichen Verhaltensmuster wie diejenigen, gegen die sie gekämpft haben. Die meisten Revolutionen beginnen auf der linken Seite des politischen Spektrums und enden auf der rechten. Diese Entwicklung ist unvermeidlich, solange nicht das Ich der Beteiligten gänzlich umgewandelt ist zum wahren Selbst. Geschieht dies nicht, führt der Weg nicht in die Gewaltlosigkeit und ins Geheimnis des Kreuzes, das zunächst die Revolution inspiriert haben mag, sondern es entsteht nur eine weitere Form beherrschender Macht. Jesus ist in gewisser Hinsicht der einzige echte Revolutionär. Bei den meisten Revolutionen dagegen stellt man gewissermaßen nur das Mobiliar auf dem Deck der Titanic um. Jesus dagegen baute ein ganz neues Schiff, das heißt: Solange Spiritualität nicht die Fragen um Macht und Machtverzicht anpackt, kann es keine echte Reform (von innen her) geben. Es gibt dann in der Menschheitsgeschichte nie einen wirklich echten Fortschritt, denn die sogenannten Reformer gehen im Kampf um die Vorherrschaft doch immer wieder unter.

Beim Kreuz geht es darum, sich gegen den Hass zu erheben, ohne selbst zum Hass zu werden. Wie kann man sich dem Hass entgegenstellen, ohne sich von ihm die Spielregeln diktieren zu lassen? Ist das nicht für jeden Menschen die Grundsatzfrage? Wie können wir dem Bösen Widerstand leisten, den Verletzungen, dem Verraten-, dem Verlassen- und Abgelehntwerden, den Enttäuschungen in unserem Leben sowie den Menschen, die sich gegen uns wenden, die uns niedermachen, die über uns Lügen verbreiten? Wie wehren wir uns gegen alles das, ohne selbst zum Spiegelbild des gleichen Verhaltens zu werden?

Die Neigung des Menschen zu hassen und zu töten ist die Sünde der Welt (vgl. Johannes 1,29), und es bedurfte eines Lammes wie Jesus, um zu entkräften und umzuwandeln, was die Löwen der Geschichte nur immer weiter fortsetzen.

Das Zusammenfallen der Gegensätze nach Buonaventura

Das Kreuz ist ein Symbol dessen, woran man sich halten und woraus man wahres Leben beziehen kann. Es ist eine Metapher für die paradoxe Natur aller Dinge. Das Kreuz weist darauf hin, dass die Wirklichkeit eine paradoxe Grundstruktur hat. Die Wirklichkeit ist einerseits nicht nur sinnlos und absurd (wie Nihilisten und Chaostheoretiker behaupten) und auch nicht vollkommen konsistent (wie Rationalismus, Wissenschaftsgläubigkeit und Fundamentalismus vertreten), sondern voll spannungsreicher Widersprüche. Aus diesem Grund sprachen der mittelalterliche Franziskanertheologe Bonaventura (1221–1274) und andere von der coincidentia oppositorum, vom „Zusammenfallen der Gegensätze“ (vgl. Ewert Cousins, Bonaventure and the Coincidence of Opposites, 1978).

Jesus starb durch den Zusammenprall gegensätzlicher Absichten, widerstreitender Interessen und Halbwahrheiten, die menschliches Leben kennzeichnen. Das Kreuz war der Preis, den Jesus für seine Bereitschaft bezahlte, in einer „gemischten“ Welt zu leben, das heißt die sowohl menschlich als auch göttlich, schlecht wie gut, gebrochen wie zugleich durch und durch ganz ist. Er war bereit, das Rätsel des Lebens zu ertragen und von Gottes Schöpfung und den Geschöpfen keine Vollkommenheit zu erwarten. Er setzte sich den Extremen des Dilemmas aus, in das der Mensch eingespannt ist, und Gott ließ es für uns österlich fruchtbar werden. Ja, Christus sagte seinen Jüngern mit Hinweis auf die Propheten des Alten Testaments, dies sei der „einzige“ Weg, das Unheil aufzubrechen. Nur in diesem Sinn könnte man sagen, das Christentum sei der „einzige“, weil wahre Weg zur Erlösung. Wir sind tatsächlich durch das Kreuz erlöst, mehr als wir es wahrzunehmen vermögen.

Die Erfahrung der kreuzförmigen Struktur der Wirklichkeit fühlt sich immer so an, als mache man – bildlich gesprochen – zwei Schritte vorwärts und einen zurück. Das mag niemand, vor allem, weil sich der Rückwärtsschritt nach den zwei Vorwärtsschritten immer wie Sterben anfühlt. Viele, die in der Kirche arbeiten, haben das starke Gefühl, sie lebten derzeit in einer Phase des Rückschritts, in einer Phase des Sterbens. Aber Jesus am Kreuz führt uns vor Augen, dass dies der einzige und wahre Weg zum unzerstörbaren Erwachen ist. Darum sollten wir nicht völlig überrascht oder gar darüber erschrocken sein, wenn wir unseren Karfreitagen nahe sind. Menschen, die diese Widersprüche durchleben und durchsterben, sind in Wirklichkeit die Retter der Welt. Es sind jene, die fundamentale Verwandlung und Versöhnung und alles wirkliche Neuwerden voranbringen.

Wenn man so spricht, mag mancher meinen, man fordere zum Kompromiss bezüglich bestimmter Grundfragen menschlichen Lebens oder sogar bezüglich der Wahrheit selbst auf. Sie unterstellen einem, man sei ein Relativierer und daher gefährlich. Genauso wurde auch Jesus eingeschätzt. Ich möchte es sehr klar und deutlich sagen: Eine solche Reaktion ist eine Nebelkerze, ein Ablenkungsmanöver, wenn auch ungewollt. Wenn man jemandem, der auf die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit und die zutiefst erlösende Paradoxie des Kreuzes Jesu hinweist, jenes Etikett aufklebt, kneift man damit letztlich vor der Zuspitzung des Dilemmas und leugnet, dass so gut wie alles in unserer Welt zutiefst paradoxer Natur ist, aus der nur eine höhere Paradoxie befreien kann.

An das Kreuz glauben bedeutet, den „Skandal der Besonderheit“ zu leben, was ein Urmuster biblischer Offenbarung ist. Sobald man ein eindeutiges Muster zu erkennen beginnt, macht die Bibel davon jedoch gleich auch Ausnahmen. Was aber nicht meint, dass es um Kompromisse bei bestimmten Themen geht. Eine Gesellschaft muss durchaus festlegen, was in ihrem Gefüge als akzeptables Verhalten gilt und was nicht. Etwas anderes ist es, wenn es um Kompromisse bezüglich des Ego geht: Dies ist ein Feld, auf dem niemand Kompromisse machen will. Viele sagen, sie könnten oder dürften bei wichtigen moralischen Themen nicht nachgeben; aber allzu oft geben sie durchaus nach, wenn es um das Bedürfnis ihres Egos geht, Recht zu haben, überlegen zu sein, alles zu kontrollieren und zu beherrschen. Dies ist dann nichts anderes als ein Neuaufguss jener „Ursünde“, die am Anfang der Bibel als „Begehren, wie Gott zu sein“ beschrieben wird, als Anmaßung, den Apfel vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen. Dahinter steckt die Weigerung des Menschen, in einer gebrochenen, paradoxen Welt zu leben. Wenn wir der Illusion anhängen, in einer ungebrochenen Welt zu leben, dann erübrigt sich das Thema, uns auf Gnade, Barmherzigkeit und Vergebung zu verlassen und der „Erlösung“ zu bedürfen – wovon und woraufhin denn auch?

Wenn Gott gerade dann keine Ausnahmen machte, kämen wir alle in große Schwierigkeiten. Die unerwachten Menschen, denen ich in meinen fünfzig Priesterjahren begegnet bin, sind sich alle absolut sicher, im Recht zu sein. Sie kennen keinerlei Selbstzweifel. Sie sind sich sicher, im Vollbesitz der Wahrheit zu sein.

Aber glücklicherweise ist es mir auch beschieden gewesen, viele großartige Menschen kennenzulernen, die man früher als „heilig“ bezeichnet hätte. Wenn man ihnen begegnet, wittert man ein ganz anderes Aroma, eine ganz andere Energie, die sie ausstrahlen, einen ganz anderen Lebensgeschmack und -geruch. Sie möchten nichts anderes mehr, als nach Gottes Willen und Weisheit zu leben. Und sie sagen wie Thomas Merton (1915–1968) kurz vor seinem Tod: „Ich weiß nicht, ob ich je deinen Willen erfüllt habe. Ich weiß nur, dass ich ihn erfüllen möchte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir gefalle. Ich weiß nur, dass ich dir gefallen möchte.“ Dieser Wunsch ist bereits ein Geschenk Gottes. Da bleibt nicht viel übrig, sich als großartiger Mensch vorzukommen oder vorkommen zu müssen!

Wer von Ihnen kann mit absoluter Sicherheit sagen, er wisse, dass er ganz nach dem Willen und der Weisheit Gottes lebt? Ich kann es an keinem Tag meines Lebens, und das ist erst einmal wenig zufriedenstellend. Hier ist jedoch gemeint, „das Geheimnis auszuhalten“, zusammen mit Jesus an den beiden Enden der menschlichen Zwiespältigkeit zu hängen und zu bejahen, dass Gott nur in dieser reichlich unvollkommenen Welt zu finden ist. Wer hätte nicht gern viel früher schmerzlose Gewissheit, widerspruchsfreie Ordnung und Klarheit darüber, wer die Guten und wer die Bösen sind? Wer sucht es, mit Jesus an diesem zwiespältigen, nicht eindeutigen, sondern verächtlichen Ort am Kreuz zu hängen? Die meisten haben statt des biblischen Glaubens, der tiefste Täler und höchste Gipfel kennt, lieber saubere Dogmen und einen klaren Kodex über Recht und Moral. Solche Gewissheit ermöglicht es, Ergebnisse vorauszusagen und im Griff zu haben sowie Belohnung und Strafe zu rechtfertigen. Dies ist ja nicht rundweg schlecht. Das Problem ist nur, dass es nicht die Botschaft ist, die vom Kreuz her erschallt.

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