Der Weg der Weisheit

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Eiferer und Pharisäer

Zusammenfassend lässt sich sagen: Es scheint zwei allgemein übliche Formen des Ausweichens vor der Bekehrung, vor der Verwandlung, vor dem Erwachen, vor der Wiedergeburt aus Heiligem Geist zu geben, zwei typische Ablenkungsmanöver, die Menschen anwenden, um nicht den Schmerz vor dem Erwachen aushalten zu müssen: den Kampf oder die Flucht.

Den Weg des Kampfes möchte ich als den Weg Simons des Zeloten bezeichnen; oft ist es der Weg politischer Reformer. Diese wollen Menschen und Zustände ändern, Neues und anderes zur Geltung bringen und die Macht darüber haben. Der (biblische) Zelot hält immer Ausschau nach dem Bösen, dem Sünder, dem Ungerechten, dem Unterdrücker, dem schlechten Menschen da drüben. Er erteilt sich selbstgerecht die Vollmacht, andere anzugreifen, zu verabscheuen oder sogar zu töten. Und dabei ist er überzeugt davon, „Gott einen heiligen Dienst zu leisten“ (Johannes 16,2).

Man kann grundsätzlich die Regel aufstellen: Wenn man seinen eigenen Schatten nicht annimmt und umwandelt, gibt man ihn immer an andere weiter. Eiferer und heutige Reformer haben häufig durchaus richtige Schlussfolgerungen parat; aber ihre Strategien und Motive sind mit ihrem Ego, mit genau der gleichen Machtgier, Herrschsucht und Selbstgerechtigkeit behaftet, die sie bei Konservativen energisch ablehnen. Sie wollen unbedingt etwas tun, um den eigenen Schatten und Lebensschmerz nicht aushalten zu müssen, bis er sie selbst umwandelt. Weil dieses zelotische Muster nur allzu oft vorkommt, bin ich gegenüber jeder selbstgerechten Entrüstung und moralischen Empörung äußerst misstrauisch. Meiner Erfahrung nach stammen sie kaum einmal von Gott oder einem prophetischen Engagement.

„Auferweckte“ Menschen treten betend, das heißt gleichsam mit Gott im Rücken, als Zeugen gegen Ungerechtigkeit und Böses auf – aber sie geben mitfühlend zu, dass sie selbst ebenfalls in alle diese Übel verstrickt sind. Kein Übel, das uns umtreibt, ist nur da drüben, außerhalb von uns, sondern auch direkt hier, mitten in uns selbst. Es ist immer auch unser ureigenes Problem, nicht bloß das der anderen. Nicht zufällig trägt der auferstandene Christus – so bezeugen es symbolisch die Evangelien – immer noch die Wundmale an seinen Händen und an seiner Seite.

Wir alle haben schon öfter gegenteilig mitgemischt – ich weiß es auch von mir selbst: Wir haben versucht, den „Teufel“ mit dem „Beelzebub“ auszutreiben. Es kann einen regelrecht mit Schwung erfüllen, einen Feind ausgemacht zu haben, jemanden, der es „verdient“, verabscheut zu werden; denn das lenkt von der eigenen inneren Schande ab und lindert ein Stück weit die eigene Angst.

Seltsamerweise schenkt einem dies das grundfalsche Gefühl, alles im Griff zu haben und der Überlegene zu sein; denn man hat ja das Böse lokalisiert, und Gott sei Dank ist es da drüben und nicht in uns selbst. Solange man unverbesserlich meint, die anderen seien das Problem, und man sich darauf konzentrieren kann, sie zu korrigieren oder als verschmutzendes Element auszumerzen, kann man es sich selbst ziemlich bequem einrichten. Dies ist eine Einstellung, die Heilige als eine pax perniciosa, das heißt als einen gefährlichen und trügerischen Frieden bezeichneten. Er fühlt sich wie Friede an, ist aber ein durch und durch fauler Friede. Es ist der faule Friede des Verdrängens, des Leugnens und Projizierens. Fauler Friede stellt sich immer dann ein, wenn man den eigenen Schatten nach außen abreagiert oder leugnet. Solcher „Friede“ wurde auf dem Misthaufen des „Vaters der Lüge“ erfunden.

Wir haben lange gebraucht zu merken, dass wir uns eigentlich das Hassen gar nicht leisten können; denn der andere, den wir hassen, ist nichts anderes als ein Spiegelbild unserer selbst. Lasse ich meine Energie und mein Verhalten jedoch vom anderen her bestimmen, kann ich nur noch reagieren und agiere dann mit der gleichen Art Energie und den gleichen Verhaltensweisen, und zwar so lange, bis ich dieses mein Reaktionsmuster durchschaut habe.

Dies führt uns zur zweiten Art von Ablenkungsmanöver: zum Weg der Flucht. Das ist der übliche Weg dessen, auf den Jesu Weherufe über die „Schriftgelehrten und Pharisäer“ (Matthäus 23,1–36) zielen, der Weg des in Wahrheit uninformierten, des scheinbar unschuldigen und oft im vermeintlich Guten verharrenden, konservativen Typs. Er leugnet den Schmerz rundweg und weigert sich, bei sich oder in der von ihm auserwählten Gruppe die Schattenseite von irgendetwas wahrzunehmen. Für ihn gibt es keine Ungewissheiten und keine Zweideutigkeiten. Es gibt überhaupt keine Probleme. Hierbei handelt es sich um eine Art Selbstnarkose, die zuweilen vermutlich notwendig sein mag, um den Tag über die Runden zu bringen.

Leute, die grundsätzlich dazu neigen zu fliehen, verfallen jedoch leicht der Heuchelei oder der platten Illusion: „Wir liegen richtig, ihr liegt falsch. Die Welt ist in Schwarz und Weiß eingeteilt und ich weiß, wer die Guten und wer die Bösen sind. Das alles habe ich mir im Kopf genau zurechtgelegt und mit Hilfe Gleichgesinnter abgesichert.“ Diese Sicht vermag ein gewaltiges Maß an Energie, Identitätsbewusstsein und Zähigkeit hervorzubringen. Man sitzt auf einem Sockel der Reinheit und scheinbarer Unschuld. Wer möchte den verlassen und dann womöglich in eine größere Demütigung geraten und Schmerzen aushalten? Paulus musste symbolisch auf den Boden geworfen werden und Schuppen mussten ihm von den Augen fallen, damit er die Wahrheit über sich erkennen konnte.

Das Leugnen ist eine verständliche Taktik, um mit etwas zurechtzukommen und zu überleben. Für viele Menschen ist es oft die einzige Möglichkeit, mit einer verfahrenen Lage, in die sie geraten sind, fertig zu werden. Wenn man beispielsweise anfängt, den Armen ihre elende Lage deutlicher bewusst zu machen (um bei ihnen ein politisches Bewusstsein zu wecken), oder wenn man der ganz und gar zufriedenen Mittelschicht eine soziale Analyse liefert, fragt man sich zuweilen, ob man ihnen damit nicht bloß psychische Probleme schafft. Wäre es nicht besser, sie würden um all das gar nicht so genau wissen? Jetzt werden sie nur wütend und unzufrieden. Das ist der gefährliche Weg der Aufklärung und Erleuchtung.

Doch es geht um etwas noch Kühneres, nämlich um die Frage: Wie kann ich mich und meine Situation durchschauen, die Wut bewältigen und dennoch Leben und Frieden stiftend wirken? „Erste Naivität“ und „zweite Naivität“ sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Bei der ersten handelt es sich um eine Art tugendhafter Unbedarftheit, bei der zweiten dagegen um den Geist informierter Offenheit, die man nach einer gründlichen Desillusionierung gewinnt. Der Unterschied zwischen beiden ist so groß wie der zwischen Tag und Nacht. Aber normalerweise sind wir uns so sicher, die Leute würden sich ja sowieso nicht bis zur echten Erleuchtung durcharbeiten, dass wir es lieber vermeiden, ihnen die ganze Wahrheit zu eröffnen. Es ist ja so viel leichter, nicht alles zu wissen! Jesus selbst begriff das vom Kreuz her und betete: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lukas 23,34). Sie wissen es wirklich nicht! Aber Jesus nahm den mühsameren Weg auf sich: zu wissen und trotzdem zu vergeben und trotzdem zu verstehen.

Das ist der Dritte Weg jenseits von Kampf und jenseits von Flucht, der in gewisser Hinsicht beides einschließt. Dies bedeutet, dass man auf eine neue Art von innen her kämpft und eine allzu rasche, egozentrische Reaktion vermeidet. Nur Gott kann eine solche Kraft in uns mobilisieren. Unser irdisches Ich ist dafür viel zu klein und ängstlich. Nur das wahre Selbst, von dem später noch ausführlicher die Rede sein wird, kann nach dem Evangelium leben.

Vielleicht besteht unser größter Missgriff darin, dass wir das Gesetz und das Evangelium dem hinfälligen Ich anvertraut haben, das unfähig ist, es überhaupt zu begreifen. Was wir zuwege brachten, war, die Menschen zu Ausflucht und Leugnung, zu mentalen Verrenkungen und Verharmlosungen zu verdrehen – indem wir ihnen das Gesetz predigten, ohne ihnen dazu auch jene „Identitätsumwandlung“ anzubieten, die wir „Evangelium“ nennen!

Der dritte Weg ist nur für das wahre Selbst gangbar, das „mit Christus verborgen in Gott“ ist (Kolosser 3,3). Paulus widmete den Großteil seines Briefs an die Römer der Auseinandersetzung mit diesem Dilemma. Das Gesetz ohne das lebendige Evangelium lähmt und verurteilt zum Scheitern.

Was tun mit unserer Angst?

Unsere Zeit ist als Zeit der Angst bezeichnet worden, und ich glaube, damit ist sie recht zutreffend beschrieben. Wenn die Welt und unsere Sicht der Welt alle paar Monate neu definiert werden, wissen wir nicht mehr, was unsere Grundlagen, was unsere verlässlichen Sinnfundamente sind. Wir sind uns nicht mehr sicher, was uns überhaupt trägt, und das macht Angst. Diese Angst möchten wir so schnell wie möglich wieder loswerden.

Wenn man heutzutage auf irgendeinem Gebiet oder irgendwem ein guter Begleiter sein möchte – als Pfarrer, als Bischof oder als guter Vater oder zuverlässige Mutter, muss man ein gewisses Maß an Angst durchleben und geduldig aushalten. Vermutlich ist es so: Je anspruchsvoller deine Rolle als Begleiter ist, ein umso höheres Maß an Angst musst du selbst durchleben können. Wer seine eigene Angst leugnet, überspringt und nicht aushält, kann niemand anderen durchs Leben begleiten. Denn Angst ist eine Kraft zu wachsen und zu erwachen.

Wahrscheinlich deshalb heißt es in der Bibel so oft: „Fürchte dich nicht!“ Ich habe eine Bibelausgabe mit dem Hinweis, dieser Satz tauche in der Bibel 365-mal auf! Wer nicht in Ruhe ein gutes Maß an Angst aushalten kann, schaut sich ständig nach jemandem um, der sie einem nehmen könnte. Lässt man sich nehmen, was man nicht aushalten und durchstehen will, verleiht einem das – so denkt man – eine neue Identität, jedoch – sage ich – eine negative Identität. Sie schafft in Wahrheit keine Lebensenergie, sondern eine Todesenergie, weil die Angst nicht erlöst, sondern nur verschoben worden ist. Denn niemand kann uns unsere Angst nehmen, außer wir geben sie in den Brunnen des Vertrauens, dass Gott uns nie mehr zumutet, als wir zu tragen vermögen – gerade dann, wenn wir versucht sind zu meinen, es übersteige unsere Kräfte.

 

Wenn man nur sieht und benennt, wogegen man ist, wen oder was man ablehnt, verschafft es einem meist sehr rasch ein Gefühl dafür, wie anders und besser man doch sei. Daher tappen so viele Menschen in diese Falle. Sie definieren sich leichter dadurch, dass sie all das auflisten, wogegen sie sind, was sie verabscheuen, wen sie für falsch gewickelt halten, als dass sie aufzählen können, woran sie glauben und wen sie lieben.

Ich hoffe, Sie erkennen an diesem weit verbreiteten Muster, wie groß der Unterschied zwischen diesen beiden Alternativen ist. Vielleicht geht Ihnen vor diesem Hintergrund ganz neu auf, wie radikal und auch wie erschreckend zunächst der Glaube seiner Natur nach ist; denn Glaube baut einzig auf den ganz und gar positiven Kern im eigenen Inneren, mag er noch so klein sein. Er braucht, um sich entfalten zu können, ein inneres Ja, so wie das Ja Marias am Anfang der Christusgeschichte stand. Gott braucht das Ja in uns, auch wenn es nur so groß wie ein Senfkorn ist, das „in Liebe“, in love ist, wie wir im Englischen sagen, und das offen ist für die Gnade – fasziniert davon, etwas Hinreißendes, einen Schatz, eine Perle gefunden zu haben. Bis zu diesem Punkt müssen wir zurückgehen und auf diesem Ja aufbauen – oder unser Glaube ist kein wirklicher Glaube. Daher ist wirklicher, spiritueller Glaube so selten. Sein üblicher Ersatz ist irgendeine religiöse Gruppen-Identität. Wenn wir uns allerdings nur auf sie verlassen, scheint es sich zu erübrigen, auf den von grenzenloser Liebe geprägten Kern des Göttlichen in uns selbst zurückzugehen und aus ihm zu leben. Es genügt dann, regelmäßig in die Kirche zu gehen.

Es ist ja wirklich viel leichter, unsere Identität von einer Gruppe herzuleiten oder auch von unseren Verletzungen, unserer Wut auf bestimmte Dinge, von unserem Pflichtenkatalog oder unserer Angst. Das ist sozusagen der normale Weg, solange wir nicht auf dem Weg Jesu heimisch geworden sind. Fast alle wählen diesen leichteren Weg, denn kurzfristig scheint er ergiebiger, und er ist mit Sicherheit bequemer.

Ein Aktivist mag imposant wirken und zuweilen sogar eine Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit entwickeln. Aber wer genauer hinsieht, stellt zuweilen fest, dass ein solcher Mensch gar nicht von Gottesliebe erfüllt, sondern im Grunde wütend ist, aus einer Anti-Haltung lebt oder nur auf sein eigenes Programm versessen ist. Vielleicht mag seine Wut not-wendig sein, aber da ist noch nicht die Freiheit des Evangeliums zu spüren. „Political correctness“ oder strategisch kluges Verhalten haben nur wenig mit der Gabe und Kraft des Evangeliums zu tun; auch gebildete Menschen verwechseln das oft miteinander. Ein im klassischen Sinn gebildeter Mensch muss noch lange kein verwandelter, erwachter Mensch sein.

Das soll nicht heißen, wir sollten vor allen Unrechtszuständen die Augen verschließen und sie nicht anprangern. Denn man könnte ja fragen: Dürfen wir erst dann handeln, wenn wir sicher sind, dass unsere Motivation hundertprozentig selbstlos ist? Und sollten wir deshalb bloße Humanisten ablehnen? Natürlich nicht! Gott bejaht uns alle mit unseren gemischten Motiven – jeden, auch mich. Es geht nur darum zu begreifen, dass uns die Lösung noch nicht geschenkt ist, aber der Weg zu ihr wurde gewiesen. Uns wurde gezeigt, wie sich Hass bekämpfen lässt, ohne selbst hasserfüllt zu werden. Wir haben dafür einen wunderbaren Wegbegleiter und Freund und nicht nur eine gute Idee. Uns ist mitten im Scheitern die Freude angeboten und nicht eine Methode, zu gewinnen oder Recht zu bekommen. Menschen des Evangeliums sind einfach nicht umzubringen.

Als ich in Nordirland war und dort mehrere Einkehrzeiten und Vorträge hielt, war ich beeindruckt, wie viele Menschen dort jetzt diesen dritten Weg begreifen. In Nordirland haben sie jenes Pingpong-Spiel von Gewalt und Gegengewalt über viele Generationen hinweg erlebt; immer hat man an dem gleichen harten Holz herumgesägt, ohne wirklich voranzukommen. Ständig hat man nur das alte Spiel wiederholt. Jeder Mord ist zur Rechtfertigung für einen weiteren Mord geworden, und die eigene Gewalttätigkeit hat man damit gerechtfertigt, dass die des anderen ungerechtfertigt gewesen sei.

Sehen wir nicht, dass wir endlich aus diesem Schwachsinn herauskommen müssen? Wenn beide blind sind, fallen beide in die Grube. Rache wirkt ungemein logisch, aber sie funktioniert in Wirklichkeit nicht: Sie bringt die Menschheitsgeschichte nicht einen einzigen Schritt weiter. Das Wunderbare an den Auferstehungsgeschichten der Evangelien ist, dass Jesus gegenüber den Autoritäten oder seinen feigen Jüngern keinerlei Anstalten zur Verurteilung macht und dass seine Jünger nie nach irgendeiner Art von heiligem Krieg gegen diejenigen schreien, die ihren Meister umgebracht haben. Damit ist eindeutig etwas ganz Neues in die Geschichte gesickert. Das ist nicht der übliche und zu erwartende Verlauf. Jesus atmet nichts als Vergebung.

Es ist interessant, dass Jesus die Vergebung mit dem Hauchen, dem Atmen gleichsetzt, mit dem, was man von Geburt an und bis zu seinem letzten Atemzug tut. Er sagt damit, Gottes Vergebung sei wie das Atmen. Vergebung ist offensichtlich nicht etwas, was Gott tut, sondern was Gott ist. Gott kann nicht anders.

Ein Zeitalter der dubiosen Informationen

Als man mir als kleinem Jungen im katholischen Religionsunterricht das Verzeihen beibrachte, verstand ich das so, dass man vergeben soll, um eine Art moralische Reinheit zu erwerben oder ein vollkommenerer Mensch zu werden. Inzwischen glaube ich längst, dass Jesus die Vergebung nicht um der moralischen Reinheit willen predigte, sondern ganz einfach um der Zukunft willen.

In den meisten Ländern, die ich besuche, finde ich bei den Menschen kaum noch die Grundkraft der Hoffnung. Und es scheint fast, als habe unser Planet keine große Zukunft mehr. Ohne das Geheimnis der Vergebung und Heilung sind wir auf dem geraden und inzwischen ziemlich schnellen Weg zur gegenseitigen Zerstörung – und wir rechtfertigen uns noch ständig.

In den vergangenen Jahrzehnten wurde intensiv die Geschichte erforscht. Historische Unterlagen stehen heute unverfälschter und weit zugänglicher zur Verfügung als je zuvor. Wir können heute genau auf Jahr und Tag belegen, wie und wann andere Böses getan haben. Besser als je zuvor meinen Menschen zu wissen, warum sie ein Recht auf Wut, Hass und Vergeltung haben. Aber diese Art von Fortschritt wird den Menschen keinerlei bessere Zukunftsaussichten bescheren.

Bei aller Freude über die viele wissenschaftliche Arbeit und den eröffneten Zugang zu den Quellen einerseits stellt dieses Wissen andererseits auch ein zweischneidiges Schwert dar, und wie immer kann man damit Gutes oder Schlimmes anrichten. Nur weise Menschen wissen, wie man alle diese Informationen hilfreich dazu verwenden kann, in Zukunft mit dem endlosen Schaffen von Opfern aufzuhören und sich nicht von all den leidvollen Informationen dazu verführen zu lassen, im Gefängnis des ständigen „Wie du mir, so ich dir“ hocken zu bleiben.

René Girard sagt, im 20. Jahrhundert hätten wir unsere Sündenbock-Strategie durch immer raffiniertere Grade der Kaschierung und Raffinesse ausgebaut. Ohne innere Umwandlung müsse es fast zwangsläufig so kommen. Bildung an sich gewährleistet noch lange nicht, dass man dagegen gefeit wird, Sündenböcke zu kreieren. Viele Menschen mit Professoren- und Doktorentitel waren im letzten Jahrhundert durchaus in der Lage, die Reichen, die Schwarzen oder die Juden zu hassen und sogar auszumerzen.

Könnte es sein, dass wir uns innerhalb unseres eigenen Landes auf politischem Gebiet oder innerhalb der Kirche über bestimmte Fragen nur deshalb verfeinden, weil wir nach Ende des Kalten Krieges keine richtigen äußeren Feinde mehr haben, auf die wir unseren Hass richten könnten? Wir wissen ja aus persönlichen Erfahrungen, dass man sich in echten Krisenzeiten viel besser auf eine echte Gefahr konzentrieren kann. Darum ist es nicht wenigen recht, einen eindeutigen Feind zu haben; denn solange nicht klar ist, wo der Feind sitzt, befürchtet man ihn überall, politisch, gesellschaftlich und auch kirchlich. (Es ist bemerkenswert, wie stark nach dem Fall der Berliner Mauer die privaten Bürger-Milizen in den Vereinigten Staaten zugenommen haben.)

Im angeblichen Frieden von heute lauert die Angst überall. Pausenlos und wie besessen suchen wir nach einem Feind. Es scheint, als lauere er überall; denn unsere Angst ist nun namenlos und sucht nach Stellen, an denen sie sich festmachen kann. Staatsoberhäupter galten früher als immun; heute werden sie zu bevorzugten Angriffszielen. Einem Großteil der übrigen Welt kommt die Lust der amerikanischen Gesellschaft an juristischen Händeln lächerlich vor. Man muss nur eine Tageszeitung aufschlagen, um zu sehen, wie viele der Artikel auf den ersten Seiten davon handeln, dass jemand oder eine Gruppe jemand anderen anklagt, moralisch verkommen und falsch oder irgendeine Art von „Sünder“ zu sein. Das hat sich offensichtlich noch immer nicht geändert, seit Adam Eva die Schuld zuschob und Kain Abel ermordete.

Anthropologisch gesehen, so sagte man mir, beginnt Religion mit einer Unterscheidung: Der Unterteilung der Welt in das Reine und in das Unreine. Auf dieser Lüge baut die ganze Struktur auf. Jesus macht die historische Religion konsequent zunichte, indem er die „unreinen“ Dinge berührt, mit ihnen verkehrt und sie sogar tut. Er kann kein besonders guter Gründer einer Religion sein, die sich selbst respektiert!

Wenn es keinen offensichtlichen und eindeutigen Feind gibt, wie wir ihn während des Zweiten Weltkriegs, in Vietnam, in Jugoslawien oder sonst wo kannten, konzentrieren wir uns auf etwas Näheres bei uns daheim. Darum waren und sind die schlimmsten und brutalsten Kriege Bürgerkriege. Und darum geschehen die meisten Morde im Raum von Familien. Die schlimmsten Hassgefühle richten sich oft gegen Menschen innerhalb der eigenen Gruppe. Jetzt, wo es „die Kommunisten“ so gut wie nicht mehr gibt, wissen wir in Amerika nicht mehr, gegen wen sich unser Wahn und Hass richten soll. So greift derzeit die Gewalttätigkeit in den Schulen um sich und allenthalben entstehen Verschwörungstheorien. Man braucht sich nur anzusehen, wie die geradezu feindliche Abneigung zwischen Progressiven und Konservativen innerhalb unserer eigenen Kirche manchmal schon fast an Hass grenzt! Die Aggression, die sich üblicherweise auf „die Nazis“ oder „die Kommunisten“ richtete, zielt heute auf Homosexuelle oder Abtreibungsbefürworter.

Wenn wir weiterhin unsere Ängste auf irgendetwas anderes projizieren, bleiben wir nicht nur angst- und hasserfüllt, sondern schätzen auch das wirklich Böse, das eigentliche Problem ganz falsch ein. Normalerweise setzen wir an seine Stelle ein kleineres, begrenzteres Problem, das wir buchstäblich mit beiden Händen umfassen können.

Unlängst fragte mich jemand, warum es in der Kirche so viele Leute gebe, die auf genaueste Kontrolle bedacht seien. Ich glaube, dieses Kontroll-Phänomen gibt es nicht nur in der Kirche, sondern überall. Wenn wir wissen, dass wir unsere Gesellschaft nicht wirklich umwandeln, die Welt nicht wirklich ändern können und auf höheren Ebenen kaum Einfluss haben, verlegen wir uns auf das Management im Mikrobereich. Wir suchen uns ein kleines Stück Welt, das wir beherrschen, beurteilen und in dem wir klar und sauber sein können. Es ist, als sagten wir: „Wenn ich schon nicht die ganze Welt putzen kann, dann immerhin mein eigenes Wohnzimmer“, oder: „Wenn ich schon die Menschen nicht wirklich beeinflussen und ändern kann, dann fordere ich wenigstens von der Kanzel vollkommene Loyalität.“

Viele machen dies in irgendeiner Form so. Ich leere wenigstens immer ordentlich meine Papierkörbe. Das ist zwar albern und macht nicht viel Sinn; aber ich habe zumindest das Gefühl, irgendetwas zu tun. Ich kann die Kirche zwar nicht ändern; aber ich kann meine Papierkörbe leeren, und so stimmt wenigstens in meinem Büro etwas. Der Glaube könnte uns in die Lage versetzen, Spannungen, Dissonanzen auszuhalten, bis wir das eigentliche Übel zu erkennen vermögen – dessen Bestandteil immer auch wir selbst sind. Das genau ist die tragfähige Grundlage allen einfühlsamen, achtsamen und gewaltfreien Denkens.

 

Wenn man Menschen da draußen angreift, verlagert man gewöhnlich nur das Problem. Der Grund, weshalb Menschen Böses tun und warum sie hassen, sündigen und Fehler machen, ist, dass sie irgendwo selbst verletzt, abgelehnt, ausgeschlossen oder verwundet worden sind. Sie geben das einfach „nur“ weiter. Das wiederholt sich noch immer unaufhörlich und breitet sich in endlos konzentrischen Kreisen aus. Man könnte sagen: Jesus kam, um diese Kreise aufzubrechen, um ihre weitere Ausbreitung anzuhalten. Wenn man verurteilend, ablehnend, gewalttätig eingreift, setzt man hingegen das alte Spiel nur weiter fort. Ich befürchte und hoffe zugleich, auch innerhalb der Kirche muss man weithin erst noch zu dieser Einsicht kommen. Zu viele meinen da, man müsse auf Konformität bestehen, statt sich um echte innere Umwandlung zu bemühen. Für echte Umwandlung ist es allerdings immer erforderlich, dass wir selbst den Preis auch für das Reifen anderer bezahlen. Doch wir möchten lieber Sanktionen verhängen und eine Änderung erzwingen. Gott ist da unendlich geduldiger.