Der Weg der Weisheit

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Das Mysterium Tremendum

Für Christen bedeutet der Verlust der Gewissheiten, in deren Besitz sich die Moderne wähnte, dass sie wieder energischer auf den Weg der biblischen Religion verwiesen werden und mit dem mysterium tremendum, dem „gewaltigen, erschütternden Geheimnis“ Jesu, zu tun bekommen. Christus ist der Archetyp dessen, was es heißt, ganz und gar Mensch zu sein. Er hält Himmel und Erde zusammen, Göttliches und Menschliches, einen männlichen Körper mit einer weiblichen Seele. Er ist das lebendige Beispiel voller Bewusstheit, die genau darin besteht, die gewöhnlich abgelehnten, unbewussten, angstbesetzten und schattenhaften Teile der Wirklichkeit anzunehmen. Er ist der Sohn Gottes und der Sohn Adams. Wir müssen wahrhaben, dass auch wir Töchter Gottes und Söhne der Erde, der Gottheit und des Fleisches, des Ich und des Schattens sind. Beides ist gut. Und noch besser wird es, wenn es zusammengefügt wird. Jesus ist die Ikone dessen, was Erlösung bedeutet. Wenn beides in uns glücklich zusammen existieren kann, dann könnte man sagen, dass wir „erlöst“ sind.

Unser Ziel sollte sein, aus einer Spiritualität zu leben, die in jeder Hinsicht mit der sichtbaren Welt verbunden und zugleich fähig ist, das göttliche Licht im Weltlichen und Gewöhnlichen, im Physischen und Materiellen, kurz: im gesamten Kosmos aufscheinen zu sehen – und nicht nur im kirchlich Geprägten, im Korrekten und Sauberen, das die Welt aufspaltet und im Widerstreit hält. Es geht um die Synthese, um die Vereinigung der Gegensätze, zu der uns meiner Auffassung nach ein erwachtes Christentum führen sollte. „An jenem Tag wird auf den Schellen der Pferde stehen: Dem Herrn heilig. Die Töpfe im Hause des Herrn werden den Opferschalen vor dem Altar gleichgestellt werden“ (Sacharja 14,20).

Paulus zielt genau darauf ab, wenn er im Epheserbrief (4,4–6) sagt: „Ein Leib und ein Geist … eine gemeinsame Hoffnung … ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist.“ Würde ich heute aus mir heraus so reden, würde man mich in vielen katholischen Kreisen des Pantheismus oder leichtgewichtigen Humanismus bezichtigen. So zitiere ich einfach Paulus.

Wir haben keinen Grund, uns für unseren Christus zu entschuldigen. Er ist ein makelloses Abbild all dessen, was Gott auf Erden wirkt, vor allem in seiner gekreuzigten und auferstandenen Existenz. Er ist für uns die lebendige Ikone unserer eigenen Verwandlung. Jesus hält die Spannung der Gegensätze zusammen, und zwar in ihren extremsten Ausprägungen von Leben und Tod. Man könnte die Menschheit definieren als das, was ewig gekreuzigt und ewig auferweckt wird – und beides zugleich!

Wie wir immer wieder sehen werden, ist das Kreuz die Vereinigung der Gegensätze: eine vertikale und eine horizontale Bewegung, die einander sichtbar durchkreuzen. Wenn entgegengesetzte Energien gleich welcher Art in Ihnen in Konflikt geraten, leiden Sie. Wenn Sie es zulassen, sie schöpferisch auszuhalten, bis sie Sie umwandeln zum Einssein, wird die Not zum erlösenden Leiden. Dies steht freilich in radikalem Gegensatz zum Mythos von der erlösenden Gewalttätigkeit, von dem der Großteil der Menschheitsgeschichte beherrscht ist. Wenn man die Widersprüche auszurotten versucht, statt sie miteinander zu versöhnen, erreicht man nichts anderes als eine ständige Weiterführung des Problems. Auch wenn dies eigentlich offensichtlich und einleuchtend so ist, können es die meisten Leute nicht sehen. Vielleicht wird aus diesem Grunde im Johannesevangelium die Blindheit als vorrangiges Bild für die Sünde verwendet.

In heutiger Zeit gibt es in fast jeder Institution eine äußerste Rechte und eine äußerste Linke, und beide Seiten benutzen die Extravaganzen und Fehler ihrer jeweiligen Gegenseite dazu, ihre eigenen fragwürdigen Ansichten zu rechtfertigen. Es sieht so aus, als nähme derzeit überall auf der Welt ein reaktionäres und protektionistisches Denken wieder zu, das dann wiederum als Rechtfertigung dafür dient, dass die politische Linke überreagiert. Dieses Pingpong-Spiel war im 20. Jahrhundert ungemein geläufig, sogar innerhalb der Christenheit (die eigentlich inzwischen etwas weiser geworden sein sollte), sodass Christen für viele Menschen inzwischen gleichbedeutend sind mit Anti-Intellektuellen, mit fanatisch Engstirnigen. In den Augen mancher geht es beim Christentum weder um Glauben noch um Vernunft, sondern lediglich um eine Art reaktiven Stammesverhaltens unter den Röcken der „Mutter Kirche“. Wie traurig, wenn eine so große Tradition zu etwas so Kümmerlichem verkommen wäre!

In manchen Kreisen, in denen ich mich bewege, ist das Wort christlich zu einer negativen Bezeichnung geworden. Für die Menschen dort verbindet sich die Aussage „Er ist Christ“ mit dem Urteil: Er versteht nichts von Geschichte, nichts von Politik und ist wahrscheinlich zu keiner anspruchsvolleren Konversation fähig, mit fünf Bibelzitaten weiß er auf alles eine Antwort. – Wie konnten wir nach einer so langen Weisheits-Tradition derart tief absinken? Wie konnten wir nach der demütigen Torheit des Kreuzes in eine solche Überheblichkeit zurückfallen?

Wenn wir unfähig sind, Brücken zum anderen zu bauen, ja sein Anderssein überhaupt zu verstehen, sollten wir wissen, dass wir uns außerhalb echten Christentums befinden. Verschwenden Sie aber keine Zeit damit, direkt dagegen anzukämpfen; sonst fallen Sie der Scheinheiligkeit womöglich nur selbst zum Opfer. Unser Wahlspruch ist einfach und klar: Schlechtes kritisiert man am besten, indem man Gutes tut. Machen Sie einfach voran und leben Sie positiv „in Gott, durch Gott und mit Gott“. Die Früchte werden zu ihrer Zeit ans Licht kommen. Kurzfristig werden Sie die ungelöste Spannung des Kreuzes aushalten müssen. Langfristig werden Sie zu etwas völlig Neuem und Heilendem gelangen. Darin zeichnete sich der intuitive spirituelle Genius des Franz von Assisi aus. Er verschwendete keine Zeit damit, die reichen Kirchen und selbstgefällige Kleriker anzugreifen, nicht einmal habgierige Händler wie seinen Vater; er stieg einfach aus und machte es anders. An ihn erinnert man sich für immer; jene haben in der Geschichte keine Spuren hinterlassen.

Eine einsame Welt

Ich möchte dieses Kapitel mit einem Blick auf ein trauriges Nebenprodukt des Postmodernismus schließen: Postmodernismus und Modernismus lehnen ein personalisiertes Universum ab. Sie ent-zaubern das Universum. Wunder sind nicht mehr zu erwarten; ebenso braucht man nicht mehr zu erwarten, dass das Transzendente aus einem Baum oder Blatt hervorleuchtet und „jeder gewöhnliche Busch von Gott brennt“ (Elizabeth Barrett Browning, Aurora Light, in: Nicholson/Lee: The Oxford Book of English Mysitivcal Verse, 1917). Diese Entzauberung spiegelt den modernen Zustand der Entfremdung und Angst, der im Französischen als ressentiment bezeichnet wird. Mit ressentiment beschreibt man eine Welt, die nicht mehr sicher, nicht mehr heilig und keine Heimat mehr, sondern aus allen Bezügen gelöst ist, zerbrechlich und darum jederzeit für Beeinträchtigungen anfällig. Die Grunderfahrung des so entfremdeten Mitglieds der Gesellschaft lautet: „Ich bin allein“ und „Ich muss allein durchkommen“. Die säkulare Welt ist nicht mehr weit und reichhaltig genug, um sich darin ein Szenario vorzustellen, in dem alle Seiten gewinnen. Es gibt nur noch Nullsummen-Spiele – alles geht abwärts. Unsere Welt kennt nur noch die Geschichte von Gewinnen und Verlieren, und leider endet diese schließlich darin, dass alle Verlierer sind.

Doch diese nur mehr säkulare und leere Weltsicht verlangt nach dem Gegenteil. Haben Sie gemerkt, wie häufig Zeitschriften in den letzten Jahren wieder religiöse Themen wie Engel, Heilige, Wunder aufgreifen? Medien und Marketing orten einen „neuen Trend“, was verrät, dass die Menschen ihre Welt als zu hohl, zu leer, zu entzaubert empfinden. Sie genügt nicht, und Menschen mit ihrem spirituellen Wesen, das man leugnen, nicht aber einfach abschaffen kann, fühlen sich in ihrer Kälte nicht daheim.

Diese Einsicht bricht bei Menschen ziemlich deutlich auf, wenn sie sich dem Ende ihres Lebens nähern. Ich konnte dabei sein, als meine Mutter starb. An einem bestimmten Punkt vor ihrem Sterben sah sie Engel. Nun war meine Mutter durchaus nicht sentimental veranlagt. Nach dem Enneagramm war sie eine „Acht“, eine bodenständige Frau (aus Kansas) und sehr nüchtern-realistisch. Vermutlich habe ich von ihr meine mit „Unsinn“ unverträgliche Art des Katholizismus geerbt. Aber ungefähr eine Woche bevor sie starb, fing sie an, Engel zu sehen, sogar meinen Schutzengel. (Es heißt, wenn man dem Ende näher komme, würden die Vorhänge zwischen den Welten immer dünner werden.)

Meine Mutter sprach gegen Ende sehr oft das Wort heim. Zu meinem Vater sagte sie immer wieder, er solle an ihr Bett kommen und sie „heimbringen“. Er meinte, sie wolle damit sagen, er solle sie nach Hause fahren, denn sie verbrachte ihre letzten Tage im Haus meines Bruders. Nach einiger Zeit begriffen wir, dass sie mit „heim“ etwas ganz anderes meinte.

Die Traurigkeit heutiger Menschen hat ihren Grund oft darin, dass sie sich nicht daheim fühlen. Euthanasie, Abtreibung, Todesstrafe und Kriege bleiben „hoffähig“, solange es nicht wieder einen größeren Zusammenhang wie das Ostermysterium gibt, das dem Leiden der Menschen einen transzendenten Sinn erschließt. Es scheint, unsere Seele und unser Denken müssen sich wieder weiten, damit wir das große Geheimnis Gottes zu tragen vermögen. „Wir sind auf die Erde gesetzt, um hier zu lernen, die Strahlen der Liebe Gottes auszuhalten“, hat William Blake gesagt. Es tut mir leid, dass ich das sagen muss: Aber dieses Lernen geschieht vorwiegend im Leiden. Das Leiden scheint das Einzige zu sein, was stark genug ist, unseren Griff, mit dem wir alles festhalten wollen, zu lockern, und zugleich das, was wir Vernunft oder Verstand nennen.

 

Gott wandelt unseren Schrott in Gnade, unsere Sünde in Erlösung. Paradoxerweise werden wir nicht so sehr dadurch erlöst und frei, dass wir alles recht machen, sondern durch unser Leiden daran, dass wir so vieles falsch gedacht und gemacht haben. Wir kommen zu Gott nicht aufgrund unserer Vollkommenheit (Gott sei Dank nicht!), sondern eher dank unserer einsichtigen Unvollkommenheit. Letztlich muss alles verziehen und versöhnt werden. Um glücklich sein zu können, muss ich mein Leben nicht fest eingerichtet und ganz im Griff haben oder womöglich sogar verstehen. Genau genommen ist dies eine ungeheuer befreiende, frohe Botschaft. Denn wie anders könnte eine solche überhaupt aussehen?

Das Evangelium, das The Fool on the Hill, der „Narr auf dem Berg“, von dem Lennon und McCartney sangen, in die Welt gebracht hat, bietet eine neue „Logik“. Diese Logik des Evangeliums ist viel umfassender und tiefer, viel geräumiger und kann viel mehr Mitempfinden einschließen als jedes andere Gedankensystem, das zu schaffen die Welt je imstande gewesen ist. Vermutlich ist das der eigentliche Sinn von Wahrheit. Warum sollte sich irgendjemand mit dem kleinen Geist des Rationalismus oder dem Nicht-Geist des Nicht-Rationalismus zufriedengeben? Die Logik des Evangeliums ist der große Geist Christi.

2
Jenseits der Opferrolle

Viele Menschen in vielen Teilen der Welt tragen heute eindeutig das Kreuz. Für die in großer Armut Lebenden ist es das Kreuz himmelschreiender sozialer Ungerechtigkeit. Wir in den Wohlstandsländern tragen eher das Kreuz zerbrochener Beziehungen und angeknackster Psychen. Allen gemeinsam ist meinem Empfinden nach, dass sich dies für die meisten nicht wie das Kreuz anfühlt, sondern ganz einfach nur als Leiden.

Jede Zeit kennt ihre eigene Art Leiden; bei Spiritualität in ihrem besten Sinn geht es darum, was man aus seinem Leiden macht. Wir haben verlernt, damit etwas anfangen zu können. Spiritualität, der „Umsetzer“, der aus unserem Leiden etwas Besseres macht, scheint in Vergessenheit geraten zu sein. In einer Kultur ohne transzendente Mitte gibt es niemanden mehr, dem man sein Leiden übergeben kann. In einer Kultur ohne das starke Bild von Kreuz und Auferstehung hat unser Leiden allen Sinn verloren. Wenn ein Volk nicht mehr weiß, dass es Gott gibt, dass er gut ist, man ihm vertrauen kann und er auf unserer Seite ist, bekommt es offensichtlich gewaltige Probleme. Unser Schmerz schießt dann in alle Richtungen und überall nur ins Leere. In dieser Verfassung sind wir heute.

Ich entsinne mich einer Frau, die einmal zu mir kam und mir ganz offen sagte, sie werde immer hasserfüllter und negativer, sowohl in ihrer Familie als auch an ihrem Arbeitsplatz. Während unseres langen Gesprächs kam sie immer wieder auf ihren offensichtlich unheilbaren Schmerz zu sprechen: eine gewaltige Ungerechtigkeit, die sie zu Recht oder zu Unrecht, tatsächlich oder auch nicht wirklich erlitten hatte. Dann rutschte ihr das Eingeständnis heraus: „Mein Schmerz ist wie mein Ausweis.“ Als wir das genauer besprachen, merkte ich – und ich glaube, auch sie merkte es –, dass ihr Schmerz regelrecht zu ihrer Identität geworden war. Sie schien zu wissen, dass sie über eine Art Macht verfügen konnte, wenn sie in die Opferrolle ging; das verlieh ihr unverzüglich eine Art moralischer Überlegenheit über fast jeden anderen. So wurde sie merkwürdigerweise unberührbar und unverwundbar.

Das haben Menschen vermutlich schon immer getan, aber erst in den letzten siebzig Jahren wird es regelrecht zur Mode. Wir kennen sogar eine Art von „geerbtem Opfersein“: Man hat von vornherein einige Pluspunkte, wenn jemandes Urgroßmutter der eigenen Urgroßmutter etwas zu Leide getan hat. Das ist vermutlich die letzte Form moralischer Erpressung. Bei diesem seltsamen Lebensentwurf braucht man lediglich nachzuweisen, dass man ein Opfer ist, und schon hat man moralisch Oberwasser. Man kann dann alle viere von sich strecken und nichts mehr tun, weil man ja diese lähmende Wunde trägt, für die man doch selbst nichts kann. In einem solchen Zustand und Bewusstsein hört man auch auf weiterzuwachsen und belastet seine gesamte Umgebung.

Das Opfer zu spielen ist folglich eine wirksame Methode, um zum moralisch Überlegenen zu werden, ohne sich selbst noch irgendwie weiterzuentwickeln. Man muss dann nicht erwachsen werden, muss nicht loslassen, nicht vergeben, nicht dieses Spiel beenden – erspart sich also alles, was reife Religion als not-wendig erachtet. Man kann dann jemanden anderen anklagen, er sei noch schlimmer als man selbst oder gehöre einer schlimmeren Rasse oder Gruppe als der eigenen an, was einem das Gefühl gibt, der Gute, Bessere und Überlegene zu sein. Wenn sie beweisen können, dass jemand ein Sünder ist, verschafft das vielen Leuten das eigenartige Gefühl, sie seien wesentlich bessere Menschen als die meisten anderen – was aber offensichtlich nicht stimmt.

Ich will dafür einige Beispiele nennen, die ich in der britischen katholischen Zeitschrift The Tablet gelesen habe. Der amerikanische Priester Andrew Greeley, Soziologe und Journalist, behandelte darin im März 1997 in einem Aufsatz mit dem Titel „Oh, to be a Victim“ dieses Phänomen des „Opferseins“. (Nehmen Sie daran nicht vorschnell Anstoß. Wenn Sie den ganzen Aufsatz lesen würden, könnten Sie deutlich sehen, dass in dem Beitrag nicht versucht wird, einseitig Partei zu ergreifen. Vielmehr zeigt er, dass wir bei jedem Problem auf jeder Seite das Opfer spielen können, um uns moralisch über andere zu erheben.)

Diese Art des Opferseins ist für den Autor eine neue Spielart der alten Sünde des Stolzes. „Ich bin aus der Dritten Welt. Du bist aus der Ersten Welt. Ihr habt uns seit Jahrhunderten ausgebeutet. Daher habt ihr euch schuldig gemacht, ja ihr habt auch mich ausgebeutet. Deshalb bin ich euch moralisch überlegen und bin in unserer Beziehung der Bessere.“ Das ist eine Form von Machtausübung; aber es geht dabei nicht um die Art Macht, die Jesus vom Kreuz her vorgelebt hat.

Oder: „Ich bin eine Frau. Du ein Mann. Die Männer haben die Frauen schon immer unterdrückt. Also bist du (ganz persönlich du als Mann) ein Unterdrücker. Ja, du unterdrückst mich. Gesteh deine Schuld, auch wenn es dir nicht viel hilft.“ Das ist – so verallgemeinernd gesagt – ein bisschen unfair; aber ich glaube, es geht hier darum, dem anderen ein schlechtes Gefühl einzuimpfen.

„Ich bin Afro-Amerikaner. Du bist ein weißer Amerikaner. Deine Vorfahren haben die meinigen als Sklaven hierher gebracht. Du bist verantwortlich für die Leiden der Afro-Amerikaner und auch für meine Leiden. Versuche nicht, dich zu verteidigen. Als Weißer bist du von Natur aus Rassist.“ – „Ich bin Jude. Du bist Deutscher. Deine Vorfahren haben mein Volk ermordet. Du musst zugeben, dass du mitschuldig an dem bist, was sie getan haben, und folglich bist du mir moralisch unterlegen. Du behauptest, auch deine Vorfahren seien in einem deutschen Konzentrationslager umgekommen? Das hilft dir nichts. Das deutsche Volk war und ist für den Holocaust verantwortlich. Also ist davon auszugehen, dass du Antisemit bist. Versuche nicht, deine Unschuld zu beweisen, denn das kannst du gar nicht.“ – „Ich bin Nachfahre der Ureinwohner Amerikas. Du bist ein weißer Amerikaner. Dein Volk hat an meinem Volk Völkermord begangen. Du musst gestehen, dass auch du persönlich an dieser Sünde mitschuldig bist, und folglich musst du zugeben, dass ich der moralisch Bessere bin.“ – „Ich bin homosexuell. Du bist hetero und diffamierst mich. Darum bin ich dir moralisch überlegen.“ – „Ich bin palästinensischer Araber. Du bist Jude. Darum bin ich dir moralisch überlegen.“ … und so weiter und so weiter. Alle Opfer haben eine Möglichkeit gefunden, sich als Überlegene zu sehen. Wir anderen alle müssten ihnen moralische Macht zugestehen – zumindest wenn sie es verstehen, sich als Opfer in Szene zu setzen. Obwohl das zu einer einzigartig amerikanischen Form der Anspruchshaltung geworden ist, funktioniert die Opferrolle in weiten Teilen der Welt nicht. Ich vermute, dass sie nur dort auftaucht, wo das Evangelium zumindest gehört wurde (Einführung von Empathie für das Opfer) und nun zum persönlichen Vorteil umgedreht werden kann. Sie funktioniert wahrscheinlich nur dort, wo die Menschen auch ziemlich reich und individualistisch sind und auf oberflächliche Weise um die Macht rangeln.

Eindeutig ist das alles eine gewaltige Verzerrung dessen, was das Kreuz bedeutet, das in Kirchen und Wohnungen hängt. Das Kreuz wurde jedoch eher zu einem Firmenzeichen als zu dem Symbol, auf das wir blickten und das uns umwandelte. Jesus spielte weder das Opfer noch schuf er Opfer. Er wurde ein Opfer, das andere rettete und anderen vergab.

Eine geerbte Opferrolle, auf die wir pochen, bringt uns nicht weiter. Sie lässt uns nur das alte Machtspiel auf eine neue, recht raffinierte und verwirrende Weise weiterspielen. Das ist nicht der Weg des Machtverzichts, den Jesus uns vom Kreuz her gelehrt hat. Man tut dabei nur so, als sei man machtlos; aber in Wirklichkeit geht es einem darum, über andere Macht und Kontrolle auszuüben. Das ist eine Maskierung und Entstellung der wunderbaren und immer riskanten Botschaft Jesu. Es ist gefährlicher, eine Botschaft nur halb zu kennen, als sie überhaupt nicht zu kennen. Das Kennen der halben Botschaft schottet einen zuverlässig gegen die ganze ab. Wenn man die Botschaft dagegen überhaupt noch nicht kennt, besteht zumindest die Chance, sich ihr ganz offen zuzuwenden. Deshalb gibt es die für fromme Ohren bestürzenden Aussagen Jesu von den Prostituierten und Sündern (vgl. Matthäus 21,31), die wussten, dass sie „draußen“ waren. Wer weiß, dass er noch ganz am Anfang steht, kann spirituell gesehen sozusagen einen sauberen Start hinlegen.

In der bisherigen Geschichte der Menschheit ist das anders gelaufen, und leider läuft es auch heute noch anders. Ich glaube, man muss ehrlicherweise sagen, dass das meiste menschliche Leid auf andere abgeschoben wurde und wird. „Sollen die das tragen. Ich will das nicht“, sagt man unbewusst. Und es funktioniert! Es schenkt einem ein Gefühl der Erleichterung, wenn man einen Feind oder ein Problem „da draußen“ hat. Wir können uns dann auf etwas Greifbares konzentrieren und unsere eigene Identität sauberer definieren.

René Girard (1923–2015) sagte, dieser Sündenbock-Mechanismus lasse sich als ein Leitfaden durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch erkennen – ein Thema, auf das wir noch zurückkommen werden. Die Abfolge von Kriegen, Konflikten und Auseinandersetzungen sowie die Dokumentation, „wer wen umbrachte“, war nicht selten das, was viele Leute unter „Geschichte“ verstehen. Dagegen kümmerte man sich über lange Zeiten kaum um die Geschichte der Frauen, die Geschichte jener Arbeiter, die die Pyramiden bauten: Geschichten aus der Perspektive der Verlierer. (Das ist übrigens das, was die Bibel so einzigartig macht; sie lässt diese Schicksale nicht aus.)

Einer der Grundsätze, die uns das spirituelle Leben begreifen lassen, lautet: Kein anderer ist wirklich dein Problem. Immer bist du selbst der Ort der Bekehrung und der Verwandlung. Immer geht es zunächst einmal und vor allem anderen um dich. Immer. Dieses Prinzip können Sie sogar als Lackmustest für authentische Spiritualität verwenden: Geht es ihr darum, dass Sie selbst auf Gott hören? Geht es ihr darum, dass Sie selbst sich auf den Weg machen? Wenn ja, dann haben Sie es mit wahrer Spiritualität zu tun. Fühlen Sie sich stattdessen zur Verdächtigung, zum Verfolgungswahn, zur Klage gegen andere, zu Vorwürfen an die Adresse anderer geneigt und gut dabei? Wenn ja, dann stammt dies vom „Ankläger“, wie bezeichnenderweise einer der Namen Satans im Neuen Testament lautet (vgl. Offenbarung 12,10). Er wird auch „der Vater der Lüge“ (Johannes 8,44) genannt, und zwar deshalb, weil in Wahrheit niemals der andere Ihr Problem ist, sondern Sie sind es selbst; aber der Böse will Ihnen immer das Gegenteil, die Lüge, einreden. Damit hält er Sie davon ab, sich um Ihre eigene, unbedingt not-wendige Umwandlung zu kümmern, und schürt stattdessen ständig weiter den Ungeist des Streits.

Jesus ging mit dem Opferthema völlig anders um. Wir sagten es bereits: Weder spielte er das Opfer, um sich selbst aufzublähen, noch machte er andere Menschen zu Opfern. Er wurde das Opfer, das andere befreite und anderen verzieh. So etwas passiert selten, aber wenn, übt es einen enormen heilenden und versöhnenden Einfluss aus, auch wenn es oft den Zorn und die Ablehnung einiger Ankläger verstärkt.

 

Als sichtbarste Zeugnisse solcher Hingabe aus unserer jüngsten Vergangenheit braucht man dafür nur die Lebensbeschreibungen von Martin Luther King, Oscar Romero oder Gandhi zu lesen. Propheten werden umgebracht, weil sie die Lüge ans Licht bringen. Die Lage spitzt sich dann so zu, dass sich der Hass der „Väter der Lüge“ gegen den Boten richtet, weil er oder sie diese Väter des Gegenstandes beraubt, den sie als Objekt ihres Hasses brauchen. Wenn Lügner ihren Hass gegen einen Entlarver ihrer Lüge abreagieren müssen, bringen sie jeden um, der ihnen offen sagt, sie selbst und ihr Hass seien das wahre Problem.

Diese Botschaft des gekreuzigten Jesus zeigt unmissverständlich, was wir hier und jetzt mit unserem Schmerz erlösend tun können. Christen haben Jesus aber zu jemandem gemacht, der vor künftigem Schmerz bewahren kann. Auf diese Weise haben wir die revolutionäre und verwandelnde Kraft seiner Botschaft, um die es eigentlich geht, völlig übersehen! Die Botschaft Jesu ist schließlich zu einem Kuhhandel mit Gott verkommen, bei dem es nur noch darum geht, institutionell definierte Pflichten zu erfüllen, wie etwa an Gottesdiensten teilzunehmen, auf die man eigentlich keine besonders große Lust hat; aber man geht aus Pflichtgefühl hin (was Ihnen jeder Pfarrer leidvoll bestätigen wird!), um vor Gott eine reine Weste zu haben – und vor allem vor sich selbst. In Jesus sieht man dann nur mehr den großen Problemlöser und Auskunftgeber über die kommende Welt statt den „Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Johannes 14,6), das heißt den, der uns mit all seiner Liebe darin unterweist, wie wir in der jetzigen Welt in Frieden, Freiheit und Liebe leben können. Jenes ist eher eine Art Feuerversicherungs-Religion als die Religion des göttlichen Festmahls im Hier und Heute. Der Widerspruch zu Christus und der Un-Sinn könnten nicht riesiger sein, und daher ist auch der christliche Themen- und Aufgabenkatalog für heute ein völlig anderer geworden, als er es für die christlichen Urgemeinden war.

Im letzten Buch der Bibel, dem Buch der Offenbarung, kommt wiederholt das archetypische Bild vom Lamm Gottes vor (vgl. zum Beispiel Offenbarung 5,6). Es steht im Zentrum einer kosmischen Liturgie. Christen sollte dieses Symbol für alle Zeiten vertraut sein: das Lamm, das geschlachtet ist und zugleich aufrecht dasteht – ein paradoxes Bild für die Kernbotschaft des Evangeliums, die Botschaft vom Kreuz: In ein und demselben Moment geben wir uns Gott hin, sterben uns selbst, und er-stehen zum großen Leben. „Wenn das Samenkorn nicht stirbt, bleibt es allein!“ (Johannes 12,24). Man findet kaum eine ältere Kirche, in der sich nicht irgendwo im liturgischen Raum das Bild des Lammes findet, und dennoch fragt man sich, wie viele Menschen eigentlich jemals seinen archetypischen Sinn erfasst haben und warum dieses zu jenem Sterben bereite Lamm im letzten (mystischen) Buch der Bibel als der Schlüssel zum Öffnen der (gewöhnlich mit dargestellten) „sieben Siegel“ verkündet wird. Das Bild vom Lamm offenbart die Lüge vom Töten im Unverstand, das den Großteil der Menschheitsgeschichte ausmacht. Mehr noch: Es zeigt uns einen Ausweg daraus.