Der Weg der Weisheit

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Wissen und doch nichts wissen

Postmoderne Geisteshaltung geht davon aus, dass man nichts wirklich wissen kann und alles ein soziales oder sogar intellektuelles Konstrukt ist, das schon bald wieder durch neue Informationen überholt sein wird. Paradoxerweise glaubt der Postmodernist gleichzeitig, er wisse mehr als jeder andere, und zwar genau aus dem Grund, weil es nichts Absolutes gebe, keine zeitlos wahre Wirklichkeit. Damit ist man schließlich so weit, dass man sich fast gottähnlich („ich weiß“) und zugleich extrem ratlos gibt („ich muss mir meine eigene Wahrheit ganz allein erschaffen, denn es gibt keine allgemeingültigen Anhaltspunkte“). Die Folge ist, dass der postmoderne Mensch in einem schizophrenen Zwiespalt lebt. Eine derartige Überforderung hätten sich die Menschen früherer Zeiten nie zugemutet. Kein Wunder also, in welchem Ausmaß heute sogar Kinder von Depression und Selbstmord gefährdet sind.

Postmodernes Denken ermächtigt dazu, alles in Misskredit zu bringen und abzuwerten, was uns schließlich in einen Zustand der Einsamkeit und Absurdität versetzt. Philosophisch bezeichnet man dies als Nihilismus (von lat. nihil, das heißt „nichts“). Am Nihilismus kranken wir heute alle mehr oder weniger, aber am meisten die ganz oben und die ganz unten in jeder Gesellschaft. Die Elite verfügt über die Freiheit, alles, worüber sie sich erhebt, gering zu schätzen und abzuwerten. Die Unterdrückten finden schließlich eine Erklärung für ihren traurigen Zustand. Diese Tragödie lässt sich deutlich bei den Minderheiten und Unterdrückten in der Welt ablesen sowie auch an der suchtartigen Spaßkultur der Reichen. Die Reichen schweben auf einem trügerischen Hoch, die Armen sacken in ein ungerechtes Tief, und letztlich sind beide Verlierer.

Der Jurist und Schriftsteller Stephen Carter, ein erstrangiger Kulturkritiker, beschuldigt viele seiner eigenen schwarzen Brüder und Schwestern sowie Amerika insgesamt, in eine nihilistische und unvermeidlich materialistische Weltsicht verfallen zu sein; die einzige Ausnahme seien diejenigen, die ihren religiösen Wurzeln treu geblieben sind (in: The Culture of Disbelief, „Die Kultur des Unglaubens“, 1994). Wir könnten dies von den meisten Bevölkerungsgruppen im Westen sagen, aber nur ein Schwarzer selbst kann das seinen eigenen Leuten vorhalten. Er konstatiert, in Amerika glaube man an nichts anderes mehr als an Macht, Besitz und Prestige, und all dem hänge man nur noch ein fadenscheiniges religiöses Mäntelchen um. Der jüdische Philosoph und Psychologe Michael Lerner sagt seiner jüdischen Leserschaft ziemlich das Gleiche (in: The Politics of Meaning, „Sinn-Politik“, 1996).

Ein weiterer Aspekt der postmodernen Geisteshaltung ist, dass sie nachhaltig vom „Markt“ geprägt ist. In einer vom Markt beherrschten Gesellschaft wie der heutigen hat nichts mehr in sich einen Wert, sondern nur noch einen Marktwert. Die allererste und oft einzige Sorge der Markt-Mentalität kreist um die Fragen: „Verkauft sich das? Bringt das etwas ein? Sind wir stärker als die Konkurrenz? Nach wenigen Jahren schon lässt diese Mentalität uns sehr hohl und konturlos werden und stachelt uns trotzdem noch einmal für einen weiteren Tag lang an. Der „Tempel“ der Schöpfung ist damit zum bloßen Kauf- und Verkaufsplatz verkommen. Kein Wunder, dass Jesus angesichts einer entsprechenden Szene in Wut geriet, „eine Geißel aus Stricken“ machte und die Händler damit aus dem Tempel jagte (vgl. Johannes 2,15).

Wenn wir den eigentlichen Sinn für den Wert verlieren, den etwas hat, geht uns jegliche Hoffnung darauf verloren, noch echte Werte zu finden, geschweige das Heilige. Selbst bei religiösen Menschen, die nicht wirklich beten, verfällt die Religion praktisch zu einer „Marktwert“-Religion. Es geht ihnen nicht mehr um das große Geheimnis, das mystische Einswerden und die Verwandlung, sondern nur noch um sozialen Rang und Macht. Moralvorschriften und priesterliche Hierarchien dienen dann nur noch dazu, die Menschen einigermaßen zu zivilisieren. Die Religion vieler, wenn nicht sogar der meisten Christen des Abendlandes spielt sich in den Kategorien von „Vergehen und Strafe“ ab, statt in denen von „Gnade und Barmherzigkeit“, wie sie Jesus verkündet hat.

Das wird dann zur einzigen Weise, auf die der postmoderne Christ glaubt, dem grundsätzlich konturlosen, schlechten Roman namens „Leben des Menschen“ etwas Gestalt geben zu können. Sie mag wie eine Antwort oder sogar eine Frohbotschaft aussehen, ist in Wirklichkeit aber wieder genau das gleiche alte Rezept wie in der ganzen bisherigen Menschheitsgeschichte: Wer groß und stark ist, gewinnt; Prometheus ersetzt Jesus. Ich muss zugeben, dass das auch das einzige Evangelium war, das ich in meinen frühen Seminarjahren mitbekommen habe. Welch frohe Überraschung war es dann für mich, als ich mich schließlich in die Evangelien versenkte und darin die Anleitung zu einer wirklichen Verwandlung der Menschen entdeckte!

Als Grundwerte einer nihilistischen Weltsicht bleiben schlussendlich nur mehr Vulgarität und Schock übrig. Wenn es keine Kriterien mehr für echte Qualität gibt, kann man es nur noch mit Quantität wettmachen, das heißt durch ständige Steigerung von Emotion, Gewalt, Sex und Lautstärke, was gewöhnlich zu einer vollständigen Entwertung von fast allem führt. Bald lautet die Sorge nur noch: „Wie kann ich mich hemmungsloser als alle anderen aufführen?“, und: „Wie kann ich alles verspotten, bevor es mich enttäuscht?“ Da es keine Heldinnen und Helden mehr gibt, verfällt der Einzelne in eine Art von negativem Heldentum, indem er möglichst hemmungslos alle menschlichen Schwächen, Süchte und Gemeinheiten öffentlich auslebt. Ich muss dann selbst nicht mehr erwachsen werden, sondern kann mir darin gefallen aufzuzeigen, dass alle anderen im Grunde genommen auch nicht besser und sowieso alle verlogen sind. Geht es so nicht auch weithin im politischen Leben zu? Bei diesem ganzen Spiel geht es darum, sich gegenseitig möglichst tief in den Dreck zu ziehen, was rein gar nichts mit der Abwärtsbewegung zu echter Demut zu tun hat. Es handelt sich lediglich um die Abwärtsspirale eines allumfassenden Skeptizismus. Wir bringen nicht mehr die Disziplin auf, menschliche Lebensformen zu entwickeln, weil wir nicht mehr glauben, dass es solche überhaupt gibt.

Seltsamerweise artet dies zu einer säkularen Form des Puritanismus aus; denn immer noch versuchen wir, die Sünden der Welt aufzudecken und zu verabscheuen; nur definieren wir sie jetzt anders. Die Art, wie Sexskandale in Washington behandelt werden, unterscheidet sich recht wenig davon, wie die alten irischen Priester darauf versessen waren, in ihrer Pfarrei alle Unzüchtigen aufzuspüren. Wir meinen, wir könnten unser Schatten-Ich in den Griff bekommen, statt es in eine größere Ganzheit einzubeziehen, indem wir es annehmen, ihm vergeben und es verwandeln. Kein Wunder also, dass sich Jesus überhaupt nicht auf das Schatten-Ich konzentrierte, sondern fast nur auf das wahre Selbst.

Wo es für die Welt keinen zusammenhängenden Sinn oder göttlichen Zweck gibt, fällt es viel leichter, nach jemandem zu suchen, den man entlarven, anklagen, vertreiben oder bloßstellen kann. Schließlich muss ich ja einen Schuldigen dafür finden, dass ich so unglücklich bin! Solange ich versuche, mich mit dem Geheimnis des Bösen auf andere Weise zu befassen als mit einer Haltung des Vergebens und Heilens, erschaffe ich weiterhin negative Ideologien wie Fundamentalismus hier, Nihilismus dort, in ihren zahllosen Spielarten. Der eine fordert vollkommene Ordnung; der andere behauptet, eine solche sei grundsätzlich gar nicht möglich. Jesus tat keines von beidem; er lebte vielmehr mitten im Zwiespalt des Menschen.

In den letzten Jahren haben wir erlebt, was wir vor Kurzem noch für undenkbar gehalten hätten. Diese Schauspiele beschränken sich durchaus nicht auf einzelne kulturelle Tabubrecher, sondern dieser Trend äußert sich im Hauptstrom zeitgenössischer Kunst und Medien, im Schreiben und in jedem Aspekt des Lebensstils: Von wem wird denn noch erwartet, sich an die klassischen Disziplinen von irgendetwas zu halten, zumal es solche angeblich ja überhaupt nicht mehr gibt?

Es ist die eine Sache, die Jahre disziplinierten Übens auf sich zu nehmen, die man braucht, um eine bestimmte Kunst oder ein Handwerk zu beherrschen, und sich dann auf neue und kreative Weise auf dem Papier oder in einem anderen Medium auszudrücken. In manchen Fällen mag daraus große Kunst werden. Bevor man die Regeln brechen kann, muss man sie aber zuerst einmal kennenlernen. Im „Brechen von Regeln“ kann sich eine gewaltige Kreativität oder gar echte Heiligkeit äußern. Aber wenn man, noch ehe jemals einen Pinsel in der Hand gehabt zu haben, gleich damit anfängt, Farbe aufs Papier zu klecksen, und dies als großartigen Selbstausdruck bezeichnet, bleibt es eine kurzlebige Sache. Diese „Kunst“ verfügt über nichts, was sie mit dem kollektiven Gedächtnis oder dem Archetypischen verbinden würde. Sie zeigt nur, was ich fühle. Das Ich steht beherrschend und lässt anderen so gut wie keinen Platz. Alle Anknüpfung für Gemeinschaftliches, das sich mit anderen teilen ließe, fehlt.

Private Gefühle sind unsere heutige Form der Wahrheit; es ist eine Art vollständigen Aufgehens in sich selbst – verständlich, denn es gibt ja keine allgemeinen Muster mehr. Menschen meinen, wenn sie ihre privaten Gefühle zum Ausdruck brächten, leisteten sie etwas Großartiges. Das kann man in Talkshows sehen: Menschen, die sich da aussprechen, haben nie etwas anderes gelesen oder studiert, zu nichts anderem gebetet und auf nichts anderes gehört als auf ihre eigenen tyrannischen Gefühle. Doch sind sie fest davon überzeugt, sie hätten ein Recht darauf, dass ihre uniformierten Ansichten über das Sozialsystem, die Religion oder die Ökosteuer öffentlich bekannt gemacht und ernst genommen werden! Kein Wunder, dass unsere öffentliche Diskussion verfällt, selbst in den Bereichen von Gericht, Parlament, Universität und auch Kirche.

 

Es stimmt, dass viele Leute wütend und frustriert sind und etwas darüber zu sagen haben; aber wir sollten auch auf größere Geister hören, auf größere Herzen, größere Seelen, die nicht lediglich darauf versessen sind, sich selbst kundzutun: „So bin ich“, sondern auch das größere Spektrum von „So sind wir“ ansprechen und insbesondere die großen Lebensthemen (im 5. Kapitel wird davon ausführlicher die Rede sein). Das sind Menschen, die dazu beitragen, große Lebensperspektiven aufzubauen, Menschen, auf die zu hören und mit denen zu reden sich lohnt. Ich denke, dies bedeutet, Teil des großen Prozessionszugs der Menschheit durch die Geschichte zu sein, statt nur ein isoliert in der Gegend herumstehendes Individuum; Glied am kosmischen Leib Christi zu sein, statt sich nur mit der widersprüchlichen Selbstbezeichnung eines „individuell Glaubenden“ zu versehen.

Ein eingefleischter Individualist ist keineswegs ein Glaubender; denn glauben heißt, sich im Vertrauen an etwas zu binden, sich auf etwas oder jemanden ganz und gar einzulassen, zu etwas dazuzugehören und definitiv Verantwortung zu tragen. Bevor wir unsere heutige im spirituellen Sinne verfallende, minimierte Lebenskultur wieder aufbauen können, müssen wir zunächst einmal selbst intensiv an etwas angeschlossen sein. Dies erst weckt wahre Religion; denn re-ligio heißt „Rück-Bindung“, „Wieder-Anbindung“. Vielleicht ist das auch eine Umschreibung für „sich wieder auf elementare Grundwerte einlassen“.

In unserem kulturellen Zwiespalt bewusst leben

Jede Sichtweise geschieht von einem bestimmten Standpunkt aus. Solange man nicht seine eigenen, kulturell und zeitbedingten Sichtweisen wirklich kennt, wird man sie kaum relativieren oder bedenken wollen, dass sie nicht die einzig möglichen sind. So lebt man mit einem hohen Maß an Illusion und Einseitigkeit, die schon so manches Leid und so manchen Unfrieden ausgelöst haben. Ich denke, genau darum ging es auch Simone Weil, als sie sagte: „Die Liebe zu Gott ist die Quelle aller Wahrheit.“ Nur ein nicht nur in uns selbst gründender universaler Bezug verschafft unserem Geist und Herzen einen ganz verlässlichen Ausgangspunkt.

Einer der Schlüssel zur Weisheit besteht darin, seine eigenen Zwiespältigkeiten zu erkennen, seine eigenen süchtigen Abhängigkeiten und Fixierungen sowie den Umstand, dass man aus irgendeinem Grund viele Dinge einfach nicht wahrnehmen will. Solange man die eigenen Denk- und Verhaltensmuster nicht durchschaut (das meint Kontemplation in ihrer Frühphase), ist man nicht in der Lage, das zu sehen, was man nicht sieht. Kein Wunder also, dass Teresa von Ávila sagte, Selbsterkenntnis sei das erste und unerlässliche Eingangstor zur „Seelenburg“. Ohne ein selbstkritisches Bewusstsein dafür, wie eng die eigenen Perspektiven sind, besteht kaum Aussicht, dass jemand wirklich Erkenntnis oder bleibende Weisheit erlangt.

Die Postmoderne zerschlägt aus Enttäuschung in einem wütenden Rundumschlag alles, was ihr im Weg steht, um sich den drei beherrschenden Maximen der Moderne (siehe unten), die unser Zeitalter geprägt hat, zu widersetzen. (Wie wir noch sehen werden, hat dieses Zerschlagen, deconstruction, nicht nur negative, sondern auch positive Auswirkungen. Ohne ein gewisses Maß an Dekonstruktion wird alles zum Götzen. Die Propheten waren daher „religiöse Dekonstruktivisten“.)

Erstens glaubte die Moderne, die Wirklichkeit beinhalte eine feste Ordnung. Das postmoderne Denken behauptet, es gebe überhaupt keine Ordnung. Paradoxerweise nähert sich die Postmoderne sowohl dem Nihilismus als auch der Mystik; denn sie vertritt die Auffassung, entweder sei niemand oder es sei jemand verantwortlich. Das Einzige, was wir inzwischen sicher wissen, ist, dass unser Denken und unser Verstand es jedenfalls nicht sind! Von daher erklärt sich das Neuerstehen von Spiritualitäten in allen nur erdenklichen Formen. Die alten Kirchen bekommen unversehens eine Menge Konkurrenz, während sie eine lange Zeit hindurch über ein Monopol verfügen konnten.

Ich finde es bemerkenswert, dass im Englischen die Priesterweihe als Holy Orders bezeichnet wird, also wörtlich als „heilige Ordnungen“. Diese Bezeichnung dürfte verraten, was vom Priestertum im Grunde erwartet wird: Ordnung, ordnende Leitlinien, Grenzvorgaben, Kontrolle, Klarheit. Das sind an sich keine schlechten, vielmehr dringend notwendige Eigenschaften, und das Verlangen nach ihnen könnte sogar erklären, warum sich die Kirche mit den Grundvorstellungen der Moderne wohler fühlte als mit der „heiligen Unordnung“, die sich jetzt zeigt.

Das Kreuz ist eindeutig eine Ausrufung der Unordnung im Herzen der Wirklichkeit. Echtes Christentum glaubte noch nie an eine perfekte Ordnung oder an ein totales Chaos, sondern an eine mit Widersprüchen behaftete Wirklichkeit. Zudem erklärte es diese eine und einzige Welt zur Welt Gottes. Jesus wurde am „Zusammenprall der Gegensätze“ gekreuzigt.

Zweitens dachte die Moderne, die Wirklichkeit lasse sich mittels der menschlichen Vernunft erkennen; das Naturgeschehen sei voraussagbar und daher zu einem gewissen Grad beherrschbar. Doch die Quantenphysik sagt, dass sich mit den Begriffen der „Indetermination“, der „Probabilität“, mit „Chaostheorien“ und Heisenbergs „Unschärfeprinzip“ vermutlich zutreffender das letzte Geheimnis der Wirklichkeit bezeichnen lasse als mit den Begriffen der klassischen Physik.

Das bedeutet für den modernen Geist eine gewaltige Demütigung. Die Physik hat entdeckt, dass man sowohl im Kleinsten (bei den Atompartikeln) als auch im Größten (den Galaxien und Schwarzen Löchern) unvermeidlich auf das Geheimnis stößt! Alles wirkt erkennbar, wird aber dann doch wieder unerkennbar, wenn man an die Ränder gelangt. Die Beherrschung muss schließlich dem Geheimnis Platz machen; statt Festhalten ist Loslassen angesagt. Plötzlich haben wir nichts mehr zu sagen. Manche vermerken, die Physiker mutierten zu Mystikern und die Priester zu Psychologen – und interessanterweise wollen beide die nicht-rationalen Aktionen der Menschen und den tragischen Charakter vieler Ereignisse zu erhellen versuchen.

Der kleine Wissenschaftler bleibt in der Mitte und geht weiterhin davon aus, dass er in einem völlig kohärenten System lebt. Die großen Wissenschaftler wie Albert Einstein, der „Mann des 20. Jahrhunderts“, entdecken hingegen wieder das Geheimnis. Einstein sagte: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.“ Er hatte nie die Überheblichkeit zu denken, er habe seine „einheitliche Feldtheorie“ vollständig gefunden, also das endgültige Paradigma, mit dem sich alle Kräfte im Universum erklären ließen. Seine bescheidene Aussage mutet an wie der Glaubensakt eines großen Geistes und großen Naturwissenschaftlers. Er erinnert mich an Dantes Bild für den Gipfel des Paradieses: eine „weiße Rose“ – in äußerster Einfachheit und Schönheit. Alles passt zusammen, alles hält zusammen. Dieses Wissen, dass alles eine Einheit in Vielfalt ist, ist uns verloren gegangen.

Reife Religion weiß, dass der Mensch sich bestenfalls über die letzte Wirklichkeit Metaphern, Symbole, Bilder erhoffen kann. Hier auf Erden sind nicht eigentlich wir die Erkennenden, vielmehr werden wir erkannt; nicht wir verknüpfen alles, vielmehr werden wir verknüpft: Nicht wir schaffen die großen Zusammenhänge, sondern wir werden in die Zusammenhänge einbezogen. Dann bleibt nur noch niederzuknien und den heiligen Boden zu küssen, und der vermeintlich autonome Geist ließe so von seiner Tyrannei ab.

So erschreckend es zunächst klingen mag, der Zerfall überkommener Denkstrukturen könnte uns durchaus wieder zu jener Demut und Einfachheit zurückführen, derer es zur Begegnung mit Gott bedarf. Doch müssen wir auch sagen, dass die Kirchen, sicherlich die römische Kirche, den Gott der Bibel vernachlässigt und sich mehr mit einem Gott der Philosophen verbunden haben, mit dem wir jedoch angesichts seiner „Besonderheit“, seiner Vorlieben und willkürlichen Entscheidungen sowie seiner absoluten Freiheit größte Schwierigkeiten haben. – Die Moderne bescherte uns die Vorhersehbarkeit und Voraussagbarkeit, mit denen wir uns durchaus wohlfühlten; jetzt, in der Postmoderne, hat wieder ein ganz Anderer das Steuer in der Hand, und wir müssen uns (von der Moderne her gesehen) in die Tragik und (neuerdings) zugleich höchste Geschenkhaftigkeit ergeben. Das kommt der Bibel viel näher, auch wenn es mehr Angst macht.

Drittens glaubte der moderne Geist, die Erfüllung des Menschen bestehe vor allem darin, alle Gesetze der Wissenschaft und Natur zu entdecken und genau kennenzulernen. Wir sollten sie – wo immer möglich – nutzen und uns ihnen nur fügen, wo wir sie nicht durchschauen oder ändern können. Um weitere Fortschritte zu machen, mussten wir daher vor allem unser wissenschaftliches Wissen ausbauen. Mochte es sich nun um medizinisches Wissen oder um die Erforschung des Weltraums handeln – mit zunehmendem Wissen würden wir jedenfalls nach und nach alle Schwierigkeiten in den Griff bekommen.

Jeder vor 1960 Geborene wurde von dieser Denkungsart stark geprägt. Aber heute sind wir von ihr nicht mehr so fraglos überzeugt und glauben auch nicht mehr, dass die traditionelle Bildung allein dem menschlichen Wachstumsprozess gerecht wird. Wir sind uns zudem nicht mehr so sicher, ob wirklich alles Naturgeschehen vorhersehbar ist und der Mensch seine Erfüllung darin findet, alle Gesetze der Natur genau zu kennen und das Universum so weit wie möglich in den Griff zu bekommen. Wer noch mit der Moderne denkt, möge sich nur einmal überlegen, wie und warum seit einiger Zeit alle möglichen Formen von Aberglaube, Okkultismus und Magie Zulauf erhalten, wie und warum UFO-Theorien und alle möglichen Arten von New-Age-Vorstellungen und schamanischen Reisen boomen und die Felder des Unbewussten, Irrationalen, Nichtrationalen, Symbolischen und auch des „Spirituellen“ Hochkonjunktur haben. Selbst sehr gebildete Menschen neigen ihnen zu. Die Götter von Körper, Gefühl und Erlebnishunger verlangen nach Gehör und machen dem Gott der Vernunft das Feld streitig.

Darin liegen eine negative und auch eine gute Botschaft. Es macht Angst, in einer Zeit des Übergangs zu leben: Sie fällt auseinander; man weiß nicht, was sie alles mit sich bringt; sie bietet nichts Zusammenhängendes; alles wird eher rätselhaft; wir können keine überschaubare Ordnung erkennen oder hineinbringen. Das ist die postmoderne Panik. Sie verbirgt sich hinter einem Großteil heutiger Skepsis, Angst und weit verbreiteter Gewalttätigkeit.

Genau besehen enthält die biblische Offenbarung recht wenig an Verheißungen eines wohlgeordneten Universums. In der Bibel geht es vielmehr darum, Gott im Gegenwärtigen zu begegnen, im jeweils inkarnierten Augenblick, auch im Skandal des Partikulären und nicht in gescheiten Theorien, und zwar in einem Maß, dass es eigentlich recht verwunderlich sein müsste, weshalb wir überhaupt darauf gekommen sind, das Ganze genau sortieren und in den Griff bekommen zu wollen.

Die Bibel sagt immer wieder, der Weg des Menschen sei tatsächlich ein Weg, und zwar ein Weg, auf den immer wieder Gott rufe und dessen Etappen er bestimme – ein Weg auch, auf dem wir mehr verwandelt als über alles genau unterrichtet würden. Ich glaube, uns wäre es viel lieber, möglichst bald einen gedruckten Reiseführer in der Hand zu halten. Dann könnte unser Lebensweg ein Besichtigungsausflug sein; so verstehen ja nicht wenige die Religion: als einen (vielleicht sogar interessanten) Besichtigungsausflug. Bei der Vorstellung, unser Leben gleiche eher einer Art Bildungsreise, hängt man das Thema, sich auf etwas ganz und gar einzulassen und sich verantwortlich einzubringen, recht tief, selbst wenn Vertreter der Religion erwarten, dass die Leute folgsam alles mitmachen und nicht vom Weg abweichen. Dagegen ist mit der Sichtweise, das Leben sei ein fortwährender Prozess der Verwandlung und des Wachstums, das Risiko verbunden, dass die Menschen „alle mit dem einen Geist getränkt“ (1 Korinther 12,13) werden, sich ihm und seiner Führung anvertrauen. Ist es nicht traurig, dass wir uns lieber auf Konformität und Gruppenloyalität eingeschworen haben, statt uns auf eine wirkliche Veränderung einzulassen?

Oft geht großer Kreativität und echten Wachstumsschritten eine Art Chaos voraus. Finsternis weckt die Sehnsucht nach Licht. Vertrauen geht großen Schritten in ein neues Wissen voraus. Unsicherheit und Ungewissheit sind die Schwelle zum Geheimnis, zur Hinwendung und zum Weg zu Gott – einem Weg, den Jesus „Glaube“ nennt. (Wie seltsam ist es doch und tatsächlich eine Häresie ersten Ranges, dass wir, statt in diese dunkle Nacht des Glaubens einzutreten, auf das Bemühen um Sicherheit und Kontrolle verfallen sind!)

 

Ich sehe heute Menschen starken Glaubens, Menschen, die sich der größeren Wahrheit verschrieben haben, Menschen, die Kirche zwar lieben, aber nicht länger die Knie vor einem Götzenbild beugen. Sie haben es nicht mehr nötig, eine Institution zu verehren; sie verwerfen sie nicht, aber scheuen sich auch nicht, gegen sie von der größeren Wahrheit Zeugnis zu geben. Das ist ein großer Fortschritt auf dem Weg zur Reife der Menschen. Noch vor wenigen Jahren herrschte das Entweder-oder-Denken vor: „Entweder sie ist vollkommen oder ich trete aus.“ Langsam entdecken wir, was viele von uns als den „dritten Weg“ bezeichnen: den Weg weder der Flucht noch des Streits, sondern den Weg einfühlsamen Wissens, der Achtsamkeit und Hoffnung.

Sowohl dem Weg des Streits als auch dem Weg der Flucht fehlt es an Weisheit, obwohl sie in der Hitze der jeweiligen Situation wie endgültige Antworten erscheinen. Aber in einer Welt des Entweder-oder gibt es den dritten Weg nicht: den Weg, über den ersten wie den zweiten Weg hinauszuwachsen, alles zusammenzuhalten, kreativ zu sein auf Einssein in Vielfalt hin.

Das dualistische Denken zieht es offensichtlich vor, die Dinge nach Schwarz-Weiß-Manier mit anderen zu vergleichen und zu bewerten. Der Preis, den dieses dualistische, aufspaltende Denken kostet, besteht darin, dass die eine Seite des Vergleichs immer idealisiert und die andere verteufelt oder zumindest herabgesetzt wird. Für Ausgewogenheit oder nüchterne Ehrlichkeit ist da kaum Platz, geschweige denn für Liebe. Die Weisheit dagegen hält „Vernünftiges“ und „Romantisches“ immer zusammen: so Aristoteles und Plato, Thomas von Aquin und Bonaventura, Sigmund Freud und C. G. Jung – Geist und Sinne.

Tatsächlich lässt sich sagen: Je größere Gegensätze jemand auszuhalten und zu durchleben vermag, eine umso größere Seele wohnt in ihm. Wir neigen von unserem Temperament her meist eher der einen oder der anderen Seite zu. Wenn man sich auf eine Seite schlägt, befreit es von Spannung und Angst. Nur wenige bringen den Mut auf, ständig die unauflösbare Spannung in der Mitte auszuhalten. Das genau ist die „Torheit“ des Kreuzes, bei der man nicht „beweisen“ kann, dass man richtig liegt, sondern nur zwischen dem guten und dem bösen Schächer „hängt“ und den Preis für deren Versöhnung zahlt (vgl. Lukas 23,39ff).

Das tertium quid, der „versöhnende Dritte“, ist sehr häufig der Heilige Geist. Aber wie schon oft gesagt wurde, ist der Heilige Geist die „vergessene Person“ des dreifaltigen Gottes. Wir wissen nicht, wie wir Wind, Wasser oder die vom Himmel herabschwebende Taube (vgl. Johannes 3,8) in ein Dogma fassen oder in den Griff bekommen können. Solche schönen, aber immer auch unzureichenden Bilder für Gott sollten uns bei all unserem Wissen und Erklären bescheiden bleiben lassen.