Richard R. Ernst

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Wenn ich nicht unten war, lag ich im Zimmer auf meinem Bett und verschlang die Bücher von Karl May sowie abenteuerliche Reisegeschichten aus fernen Ländern Afrikas, Asiens und Südamerikas. Die fremden Welten faszinierten mich und weckten meine Sehnsucht und meine jugendliche Neugierde.

Unser zweites Reich war der Garten, der bis zu den Bahngleisen reichte, die in die Ostschweiz führten. Noch heute kann, wer nach St. Gallen, Romanshorn oder Stein am Rhein fährt, einen Blick darauf erhaschen. Von schweren Loks gezogen, fuhren damals die Züge aus der ganzen Ostschweiz langsam vorbei. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs schleppten sich regelmässig Verwundetenzüge aus dem kriegsversehrten Deutschland von Stein am Rhein nach Winterthur, wo die Soldaten interniert wurden. Sie erschienen uns unheimlich. Manchmal stoppten sie eine Weile vor der Einfahrt in den Bahnhof, sodass wir direkt in die Augen der Soldaten blicken konnten. Wir winkten den Verwundeten zu oder schlüpften sogar durch den Zaun zwischen unserem Garten und der Bahnlinie und warfen den verletzten Männern durch die heruntergelassenen Fenster Orangen, Zigaretten oder Schokolade zu, welche sie dankbar entgegennahmen.

An uns Kindern zog der Zweite Weltkrieg vorbei wie hinter einem Nebelschleier. So erging es wohl den meisten Kindern, die zu dieser Zeit in unserem kriegsverschonten Land aufwuchsen.


Richard Ernst im Alter von rund sieben Jahren.


Richard Ernsts Geburtshaus, eine Stadtvilla aus der Gründerzeit, erbaut von Grossvater Walter Ernst im Jahr 1898. Im Keller führte Richard Ernst als Junge gewagte chemische Experimente durch.

Die für uns dramatischste Folge des Krieges war, wie erwähnt, dass unser Vater die meiste Zeit abwesend war. Im Garten hatte meine Familie im Rahmen der «Anbauschlacht» Gemüsebeete angelegt, und wir zogen Kaninchen, mit denen wir spielen konnten, zumindest bis sie als Sonntagsbraten auf den Tisch kamen. So war das damals, aber für uns Kinder war es natürlich ein Schock, zu erfahren, dass unser «Fritzli» gebraten worden war. Uns allen sind auch noch die Nachrichten von Radio Beromünster mit den aufregenden Meldungen zum Stand des Kriegs im Ohr, die wir hörten, sobald unser Vater nach Hause kam. Unausgesprochen klar war jedoch in unserer Familie, wer die «Bösen» in diesem Krieg waren, nämlich unsere nördlichen Nachbarn. Natürlich begriffen wir damals weder die Gründe noch die Bedeutung dieser Ansichten.

Als Bub interessierte mich sowieso mehr die abenteuerliche Seite der Ereignisse als die politische. Wenn ich zum Beispiel abends die Dachluke öffnete und mit dem Feldstecher die GI-Bomber auf ihrem Weg nach Deutschland über uns hinwegdonnern sah, erfasste mich ein Schauer. Dazu beigetragen haben mag auch, dass uns die Eltern diese nächtliche Ausschau strikte verboten, weil eine strenge Verdunkelungspflicht herrschte. Wie sollte ich denn auch wissen, dass von den Fliegern eine reale Gefahr ausging? Erst später erfuhr ich, dass die Stadt Schaffhausen, nur etwas mehr als zwanzig Kilometer von Winterthur entfernt, 1944 von amerikanischen Flugzeugen bombardiert worden war und 37 Todesopfer und Hunderte von Verletzten zu beklagen waren.

Es muss wenige Monate nach Kriegsende gewesen sein, als ich, mit etwa 13 Jahren, eine schicksalhafte Entdeckung machte. Auf einem meiner Streifzüge auf dem Dachboden fand ich eine Kiste voller Glasflaschen mit verschiedenen Chemikalien. Später erfuhr ich, dass diese meinem Onkel Karl gehört hatten, der Ingenieur gewesen war, sich aber auch für Fotografie und Chemie interessiert hatte. Onkel Karl war, lange bevor ich geboren wurde, beim Skifahren tödlich verunglückt, doch einige seiner persönlichen Sachen waren auf dem geräumigen Dachboden vergessen gegangen, bis ich neugieriger Junge darauf stiess.

Eine nach der anderen trug ich die Flaschen vom Dachboden in die Kellerwerkstatt hinunter und baute mir ein eigenes kleines Labor auf. Dann begann ich zu experimentieren. Bald entdeckte ich auch einen Bunsenbrenner und durfte diesen an die Gasleitung anschliessen, die das Licht speiste. In der Folge deklinierte ich mich durch die grundlegenden Experimente der Chemie: mischen, schmelzen, verdampfen, destillieren; ich versuchte sogar, Glas zu blasen. Ich erinnere mich, dass im Keller auch mal konzentrierte Salzsäure oder andere gefährliche Chemikalien in unbeschrifteten Apfelsaftflaschen herumstanden. Meines Onkels Koffer war alles andere als ein kindersicherer Chemiebaukasten, wie man ihn heute kennt, mit Anleitung und Warnhinweisen und dem eindringlichen Aufruf, dass jegliche Handhabung «nur im Beisein eines Erwachsenen» ausgeübt werden dürfe.

Fragmentarisches Wissen holte ich mir selbst aus alten Chemielehrbüchern, die ich in der Bibliothek meines Vaters fand oder später in der Stadtbibliothek auslieh. Ich erinnere mich an das Lehrbuch mit dem Titel «Die Schule der Chemie oder erster Unterricht in der Chemie, versinnlicht durch einfache Experimente». Verfasst war es von Dr. Julius Adolph Stöckhardt, «Königlich-Sächsischer Hofrath und Professor an der Königlichen Akademie zu Tharand», erschienen als 16., verbesserte Auflage im Jahr 1870. Wenn ich heute in einem Anflug von Nostalgie die vergilbten Seiten durchblättere, stosse ich auf Kapitel wie «Unorganische Chemie» oder lese in der Einleitung über «Lebenskraft und chemische Vorgänge», Beschreibungen und Erklärungen, die wortwörtlich aus einem anderen Zeitalter stammen. Darin wurden viele Erkenntnisse vermittelt, die eigentlich schon damals überholt waren und die ich mir später wieder abgewöhnen musste.

Doch für mich war diese geheimnisvolle Welt eine Offenbarung. Dass zur gleichen Zeit am anderen Ende der Welt, in Kalifornien, ein aus der Schweiz stammender Physiker namens Felix Bloch mit seinen Experimenten eine Grundlage für die Kernmagnetresonanz schuf, die später zu meinem Spezialgebiet werden sollte, wusste ich noch nicht; dass ich eben diesem Bloch, der für seine Entdeckungen 1952 den Chemie-Nobelpreis erhielt, in wenigen Jahren begegnen und ganz direkt von ihm lernen würde, natürlich auch nicht.

Zunächst einmal kämpfte ich bei meinen Experimenten in meiner kleinen Welt im Kellergeschoss mit unerwarteten Effekten und entdeckte immer neue, erstaunliche Reaktionen. Ich fühlte mich wie ein Seefahrer auf dem Weg zu unbekannten Küsten. Nichts anderes als die letzten Geheimnisse der Natur schienen nur darauf zu warten, von mir entdeckt zu werden. Gepackt von einer unbändigen Neugierde wurde die Chemie zu einem Zeitvertreib, der mich nie langweilte.

Heute ist mir bewusst, dass diese Beschäftigung auch eine Art Flucht aus meinem komplexbehafteten Dasein war. In meiner verzweifelten Sehnsucht und Suche nach Akzeptanz und Anerkennung fand ich etwas, was mir Respekt vor mir selbst verschaffte. Mein Vater verbot mir die Beschäftigung mit Chemikalien im Keller nicht, unterstützte mich allerdings auch nicht. Meiner Mutter waren meine Tätigkeiten nicht ganz geheuer, sie liess mich jedoch gewähren. In der Schule hatte ich ein Fach gefunden, in dem ich mit guten Noten brillieren konnte, ohne dass das den Lehrer sonderlich beeindruckt hätte. So wurde die Chemie zu dem Betätigungsfeld, das nur mir gehörte, in dem ich mich aber auch von allen anderen abhob. Ich wollte der Einzige sein, der sich damit auskannte, und ich wollte der Beste darin, etwas Besonderes sein. Weder meine Eltern noch meine Schulkollegen hatten die geringste Ahnung von Chemie, auch gab es niemanden in meinem Umfeld, der nur im Entferntesten damit zu tun hatte – diese Wissenschaft war allen so fremd, dass ich sie nicht einmal damit beeindrucken konnte, aber das störte mich nicht. Das Abenteuer Chemie war mir selbst gut genug.

Mit Igor Strawinsky am Bahnübergang

Natürlich musste ich als «Sohn von Familie» auch ein Musikinstrument lernen. Ich war acht oder neun Jahre alt, als ich mit dem Flötenunterricht begann. Zuerst spielte ich Sopranblockflöte, dann Altblockflöte. Kürzlich kam eine Vertreterin des Nobelmuseums zu Besuch und bat mich um diese beiden Flöten. Heute sind sie also in Stockholm in der Vitrine «Richard R. Ernst» zu sehen. Eigentlich mochte ich die Blockflöte nie besonders; am liebsten hätte ich Klavier gespielt. Doch das entsprach nicht dem Plan meines gestrengen Vaters. Er hatte jedem seiner Kinder nach dem obligatorischen Blockflötenunterricht ein bestimmtes Instrument zugedacht: mir das Cello, Verena die Geige und meiner jüngsten Schwester Lisabet das Klavier. Wir sollten, so war wohl die Absicht, bei gesellschaftlichen Anlässen ein Hauskonzert geben können, wie es sich in kultivierten Haushalten gehörte. Verena und ich schluckten die Anweisungen klaglos, doch bei meiner jüngsten Schwester Lisabet kam die Order nicht gut an. Sie beherrschte das Klavierspiel nie, und das viele Üben bereitete ihr grosse Mühe. Doch wusste sie sich zu wehren und setzte sich gegen meinen Vater durch: Sie brach das Experiment ab.

In mir jedoch entflammte eine grosse Leidenschaft für die Musik, genährt von der kulturliebenden Atmosphäre meiner Heimatstadt. Heute hat Winterthur bei vielen Schweizerinnen und Schweizern das Image einer glanzlosen Industriestadt. Vielen unbekannt ist ihre andere Seite: die Museen, die Kunstsammlungen und das Musikkollegium, das ich heute noch gerne finanziell unterstütze. Es würde mich nicht wundern, wenn Winterthur einmal zur Kulturhauptstadt Europas ernannt würde. Aber wie war das erst während des Krieges, als viele Künstler und Musiker nirgendwo sonst in Europa mehr auftreten konnten! Winterthur war zu einem Eldorado für Kultur geworden, die Stadt beherbergte ein berühmtes Symphonieorchester, und die grössten Solokünstler gaben sich im Konzertsaal des Stadthauses die Klinke in die Hand. Der legendäre katalanische Cellist Pablo Casals war da, der Komponist und Dirigent Igor Strawinsky, Schöpfer des Balletts «Der Feuervogel» und des Oktetts für Blasinstrumente (das Originalmanuskript befindet sich noch heute bei der Stiftung Rychenberg in Winterthur), oder immer wieder auch die rumänisch-jüdische Pianistin Clara Haskil, die später das Schweizer Bürgerrecht erhielt.

 


Weihnachten im Familienkreis, um 1946. Vordere Reihe (v.l.n.r.): Onkel Erwin Brunner, Marina Brunner-Sulzer, Grosspapa Brunner, Evi Brunner, Grossmama Brunner, Richard Ernst, Mutter Irma Ernst-Brunner, Georg Brunner. Hintere Reihe (v.l.n.r.): Verena Ernst, Lisabet Ernst, Vater Robert Ernst.


Richard Ernst mit Onkel Erwin Brunner auf dem Zugersee. Die Familie Ernst verbrachte ihre Sommerferien einige Male in einem Kurhaus in Risch.

Und ich als kleiner Junge befand mich mittendrin in dieser ansteckenden Atmosphäre! Oft sah ich die Künstlerinnen und Künstler von Angesicht zu Angesicht, wenn sie nach ihrem Galaauftritt zur Villa Reinhart spazierten, wo sie sich mit ihrem Gönner und Kulturförderer Werner Reinhart zum Stelldichein trafen oder dieser ihnen eine Übernachtungsgelegenheit anbot. Der Weg dahin führte über den Bahnübergang vor unserem Haus, und nicht selten warteten die bekannten Künstler vor der geschlossenen Schranke. Als Kind kannte ich die Musiker nicht, und ich getraute mich auch nicht, mich ihnen zu nähern. Doch allein ihre Präsenz und Ausstrahlung im ehrfurchtgebietenden Konzertaufzug beeindruckten mich.

Meine Flötenlehrerin Linda Bach bewunderte meine Hände und sagte immer wieder, wenn ich zu ihr in die Stunde kam, ich hätte die Finger eines begabten Cellospielers. Das muss mir wohl geschmeichelt haben. Mit elf Jahren begann ich mit dem Cellounterricht. Doch ein Meisterschüler wurde ich nicht, obwohl ich es doch so sehr wollte. Ich schaffte es einfach nicht, die Töne auf den Saiten richtig zu greifen; meine manuellen Fähigkeiten entsprachen zu meiner eigenen Enttäuschung nicht meinem Gehör. Und den Unterricht fand ich langweilig, es schien mir wie ein mühevolles Erlernen eines Handwerks, das dem Hochgefühl, das ich beim Hören empfand, so gar nicht entsprach.

Letztlich war mir die Musiktheorie sowieso lieber. Im Musikunterricht mussten wir Schüler jeweils Musikdiktate üben – und darin war ich regelmässig der Beste. Ich erkannte die Intervalle blitzschnell und konnte sie korrekt notieren. Ich liebte es auch, die Musik zu analysieren – und zu komponieren. Mit zwölf Jahren schrieb ich kleine Stücke für zwei Streichinstrumente, später fügte ich einen Part für Klavier hinzu, und dann führte ich meine «Werke» mit meinen Schwestern an den Geburtstagen unserer Eltern vor deren halb offener Schlafzimmertür auf.

Bald wollte ich auch Klavier spielen lernen, um meine eigenen Kompositionen mehrstimmig testen zu können. Doch mein Vater erlaubte mir nicht, ein «zweites» Instrument zu erlernen; ein Schreibmaschinenkurs schien ihm nützlicher. Dabei könne man auch «Tasten» anschlagen, sagte er. Ich war sehr enttäuscht, aber was sollte ich tun? Ich zeichnete die Klaviertasten auf ein Blatt Papier und übte sozusagen tonlos. Und sobald meine Eltern aus dem Haus waren, setzte ich mich doch an unser familieneigenes Piano und versuchte, mir das Klavierspiel selbst beizubringen oder meine Kompositionen darauf zu üben.

Die auf Papier gebannten Melodien faszinierten mich fast mehr als die Musik. Von meinem Taschengeld kaufte ich mir die Partituren aller mir bekannten Werke und ging mit diesen in die Hauptproben der Abonnementskonzerte, die wir als Musikschüler kostenlos besuchen durften. Dort verfolgte ich das auf der Bühne Gespielte in meinen Partituren, die ich nicht selten mit ebenso musikbegeisterten Kameraden diskutierte und tauschte. So machte ich mir die Musik zu eigen. Mir gefiel die Idee, mit den Partituren die Musik quasi zu «besitzen» und die transzendente Kraft der Melodien auf diese Weise «fassen» zu können.

Die klassische Musik war mir in meiner Jugend sehr wichtig, sie half mir, trotz meines kümmerlichen Selbstbewusstseins zu «überleben». Mein erstes Berufsziel war sogar Musiker oder Dirigent, doch dafür hatte ich dann doch zu wenig Talent. Heute wage ich zu behaupten, dass mir die Beschäftigung mit den Partituren den Zugang zu den Geheimnissen der Chemie erleichterte. Denn ist die Chemie nicht im weitesten Sinn vergleichbar mit einer Symphonie? Wie hier die einzelnen Instrumente, die Geigen, die Celli, die Hörner und Pauken zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfinden, mischen sich dort die Elemente, die Atome und Moleküle, und lassen etwas Neues entstehen. Und wie der Dirigent die einzelnen Partituren, so muss der Chemiker die Materie und deren Eigenschaften vollständig durchdringen, damit statt einem Chaos etwas Schönes entstehen kann.

Die Leidenschaft für die klassische Musik ist mir bis heute geblieben. Noch immer habe ich eine Sammlung von Taschenpartituren, die ich mir als Jugendlicher von meinem Taschengeld gekauft hatte. Heute, in meinem fortgeschrittenen Alter, ist mein Gedächtnis nicht mehr das beste, aber die Melodie einer Solosuite von Bach oder das Oktett von Igor Strawinsky summt mir immer wieder wohltuend durch den Kopf.

«Du wirst einmal den Nobelpreis erhalten, grosser Bruder»

Meine jugendliche Sturm-und-Drang-Zeit endete eines Nachts in Polizeigewahrsam. In Winterthur gab es ein traditionsreiches Restaurant an der Marktgasse: das Restaurant Walfisch. Damals fanden dort regelmässig Volksmusik- und Oberkrainerkonzerte statt. Vor und während des Krieges war das Lokal als Treffpunkt der Fröntler, der Schweizer Nazi-Sympathisanten, berüchtigt gewesen. Nach dem Krieg blieb es vor allem in rechtsgerichteten, konservativen Kreisen beliebt.

Diese waren die «natürlichen» Feinde von uns Kantonsschülern. Deshalb versuchten wir, ihre Versammlungen immer wieder zu stören, mehr aus einer jugendlichen Rebellion heraus als aus politischer Überzeugung. Im Jahr 1951 brachte uns unser Rebellentum in erhebliche Schwierigkeiten. Im Restaurant Walfisch fand wieder einmal eine politische Veranstaltung statt. Ein etwas älterer Kollege hatte sich illegal Tränengaspetarden aus Armeebeständen beschafft. Diese warfen wir durch die Fenster, mitten in den Versammlungsraum. Die Teilnehmenden stoben auseinander und retteten sich mit einem Sprung durch Türen und Fenster auf die Marktgasse. Ob ich selbst eine Granate warf, weiss ich nicht mehr, aber ich war dabei. Mit Genugtuung verfolgten wir das Geschehen, doch unsere Schadenfreude verging uns schnell, als die Polizei eintraf. Passanten hatten uns an die Ordnungshüter verraten, die uns umgehend in Gewahrsam nahmen und aufs Revier brachten. Als sich herausstellte, dass wir aus angesehenen Winterthurer Familien stammten, entschärfte sich die Situation für uns. Eine Busse setzte es dennoch – und mein Vater regte sich mächtig auf, dass sein Sohn in eine solche Affäre verwickelt war und sein Name beschmutzt wurde.

Trotzdem wäre der Eindruck, dass ich ein besonders rebellischer Schüler war, falsch. Mehrheitlich war ich ein ruhiger, eher unauffälliger Gymnasiast. Zu Hause war ich gehorsam, die strenge Erziehung meiner Eltern nahm ich stoisch hin, genauso wie meine Schwester Verena. Wir hatten ja alles, es mangelte uns an nichts, ausser vielleicht an Liebe und Anerkennung. «Dumm geboren und nichts dazu gelernt», schalt mich mein Vater oft, wenn er unzufrieden mit meinen Leistungen war oder schimpfte. Ich litt sehr unter Selbstzweifeln und mangelndem Selbstvertrauen. Ich war nie zufrieden mit mir selbst, und ich weiss nicht, ob das Fluch oder Segen ist. Der Begriff «Zufriedenheit» existiert schlicht nicht in meinem Vokabular, noch heute nicht. Manchmal frage ich mich sogar, ob ich den Nobelpreis überhaupt verdient habe. Mit diesen Zweifeln zu leben, ist nicht einfach – für mich nicht, aber auch nicht für meine Nächsten.

In dieser Zeit interessierte ich mich auch sehr für Literatur. In meiner Jugend fesselten mich zum Beispiel die grossen russischen Romane ganz besonders: «Der Idiot» oder «Die Brüder Karamasow» von Fjodor Dostojewski verschlang ich, die Werke von Leo Tolstoi, Alexander Puschkin oder Boris Pasternak machten mir grossen Eindruck. Aber auch die Romane des schwedischen Autors August Strindberg las ich mit Leidenschaft. Als ich das Gedicht «Im Nebel» von Hermann Hesse las, traf es mich wie ein Blitz. Es drückte genau das aus, was ich fühlte:

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Einsam ist jeder Busch und Stein,

Kein Baum sieht den andern,

Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,

Als noch mein Leben licht war;

Nun, da der Nebel fällt,

Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,

Der nicht das Dunkel kennt,

Das unentrinnbar und leise

Von allen ihn trennt.

Seltsam im Nebel zu wandern!

Leben ist Einsamsein

Kein Mensch kennt den anderen

Jeder ist allein.

So erinnere ich mich an die Gymnasiumszeit vor allem als eine Zeit seelischer und intellektueller Qual. Die Dinge, die wir dort lernten, schienen mir sinnlos. Vor allem die Sprachen machten mir Mühe; in Englisch, Deutsch und Französisch pendelten meine Noten zwischen einer ungenügenden Drei und einer knappen Vier. Französisch war meine Hasssprache, in Latein brachte ich kein vernünftiges Wort heraus. In meinen Lieblingsfächern Chemie und Physik war ich den Lehrern jedoch schon weit voraus, sodass ich gezwungenermassen in die Oberrealschule wechseln musste, also in die mathematisch-physikalisch orientierte Abteilung. Im Sprachunterricht konnte ich mir einfach die Wörter nicht merken. Die schwierigsten chemischen und mathematischen Formeln zu behalten, fiel mir hingegen sehr leicht.


Die Oberrealklasse der Kantonsschule Im Lee von Lehrer Hans Läuchli (4. Reihe, 1. v. r.), 1951. Richard Ernst (2. Reihe, 3. v. l.) sitzt neben seinem Schulfreund Werner Hablützel (1. Reihe, 1. v. l.).


Ausflug mit den Kadetten Winterthur in die Schweizer Alpen, um 1946. Richard Ernst war als Jugendlicher einige Jahre Mitglied der Kadetten, der Jugendorganisation der Schweizer Armee.

Man erkannte in mir einen Legastheniker, der die Sprachen schlecht lernte, keinen geraden Satz hinkriegte, die Buchstaben verwechselte. Auch mein Vater litt an dieser Schwäche. Wenn er einen Brief oder einen Bericht schreiben musste, gab er diesen meiner Mutter, damit sie ihn korrigierte. Heute würde man mir wohl eher ein Aspergersyndrom attestieren, das als schwache Ausprägung im Autismusspektrum eingeordnet wird. Meine Frau Magdalena, die jahrelang Primarlehrerin war, sagt, sie habe bei mir so ziemlich alle Symptome, die dieser Störung entsprechen, entdeckt.

Denn nicht nur Fremdsprachen bereiteten mir Mühe, auch das Sprechen selbst. Ein Gespräch zu führen, vor allem in Gesellschaft, lag mir gar nicht; mir fehlte jegliche Schlagfertigkeit. Deshalb schwieg ich lieber. Meine Kollegen hielten mich für verschroben, vielleicht sogar arrogant, ein Muttersöhnchen aus guter Familie. Im Studium weigerte ich mich, eine Assistenz anzunehmen, obwohl mir eine angeboten wurde. Der Gedanke, vor einer Klasse von Studenten referieren zu müssen, bereitete mir unendlich viel Pein. Meine Mitstudenten glaubten, ich hätte es als Sohn aus wohlhabender Familie nicht nötig. Doch das war nicht der Grund. Ich war ein Einzelgänger, nicht weil ich es wollte. Ich konnte nicht anders.

Die Gesprächskultur in unserer Familie half nicht wirklich. Es gab nämlich keine. Am Mittagstisch hatten wir Kinder ruhig zu sein; das Einzige, was zu hören war, waren die Nachrichten von Radio Beromünster. Gab es einmal Streit unter uns Kindern oder in der Familie, beendete ihn mein Vater mit den Worten: «Streiten gehört sich nicht in unseren Kreisen, das macht man nur in Arbeiterfamilien.» So legten sich das Unausgesprochene, die Wortlosigkeit wie ein zäher Nebel über unser Familienleben. Ich erinnere mich an eine Einladung bei Bekannten. Wir sassen im Wohnzimmer, und niemand wusste, worüber man sich unterhalten sollte. Da nahm mein Vater ein Buch aus dem Regal und las daraus vor. Später gab es dann kaum noch Einladungen. Wir waren meistens für uns alleine. Einzig meine Grosseltern, die Eltern meiner Mutter, kamen jeden Sonntagnachmittag zu Tee und Kuchen. Doch statt bei dieser Gelegenheit etwa wichtige oder unwichtige Familienangelegenheiten zu diskutieren, verschwand mein Vater in sein Büro.

 

Ich schickte mich in diese Atmosphäre. Meine Schwester Verena sagte allerdings kürzlich, ich hätte sehr wohl darunter gelitten, dass nie diskutiert wurde. Vielleicht passte ich mich an, vielleicht kam mir die Situation aber auch entgegen. Auch ich verzog mich in mein Zimmer und beschäftigte mich mit dem, was mir wirklich Spass machte. Ich vertiefte mich in meine Bücher und arbeitete an meinen Experimenten. Dabei entwickelte ich einen unbändigen Willen, bis zum Ende zu gehen. Einen Versuch vorzeitig abzubrechen oder etwas unerledigt zu lassen, kam für mich nicht infrage. Bei meinen Schwestern galt ich als «Schanzknochen», als Streber, der einsam für sich lernt. «Du wirst einmal den Nobelpreis erhalten!», sagten sie – allerdings meinten sie das eher spöttisch als prophetisch.

Dieser unabdingbare Wille, dieser innere Drang, mich zu beweisen und dafür meine Ziele um jeden Preis zu erreichen, die Fähigkeit, mich zu fokussieren und die Arbeit im Labor fortzusetzen, all dies hat mir auf meinem beruflichen Weg wahrscheinlich nicht unwesentlich geholfen. Viele Jahre später sagte ein Forscherkollege einmal, er kenne niemanden, der so hart und ausdauernd arbeiten könne wie ich. Doch vorerst ging es einmal nur darum, mehr oder weniger unversehrt durch den Orkan der jugendlichen Gefühlswelt zu navigieren. Das pralle Leben draussen, die Versuchungen der Jugend, sie lockten mich weniger, als es mir vielleicht gutgetan hätte.

Bis zur Matura hatte ich meine Probleme in beinahe allen Fächern so weit im Griff, dass ich das Reifezeugnis mit keiner einzigen ungenügenden Note und mit blanken Sechsen in Mathematik, Physik und Chemie erlangte. Der Weg war frei für das Studium der Chemie, was ich schon immer gewollt hatte. Doch bald stellte sich heraus, dass auch das nicht die erhoffte Befreiung von Mühsal bedeutete.