Der verlorene Sohn der Theologie

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Der Erasmus-Biograph W. Ribhegge ist sogar überzeugt, dass Erasmus mit der Spaltung der Kirche auch eine Spaltung Europas und der Wissenschaftswelt vorausgesehen (oder zumindest geahnt) hat28. Gerade in der Gegenüberstellung zu Erasmus, der trotz aller Kirchenkritik und ungeachtet der nahezu revolutionären Ausrichtung seines Reformprogramms hinsichtlich der Bildung wie der Kirche strikt sich der Einheit verpflichtet fühlte, enthüllt sich die Persönlichkeit Luthers: Luther war eine Spalter-Natur29.

Es bedeutete sehr viel, wenn ein so ausgeglichener Charakter wie Erasmus in einem Schreiben vom 8.5.1524 Luther gleichsam ins Gesicht sagte, er sei vom Satan irregleitet worden, ihm jeden Willen zur sachlichen Auseinandersetzung abspricht und ihn an die Seite von Aufrührern stellt, die die Wissenschaft in den Ruin treiben und einen blutigen Konflikt über das Land bringen würden. Umgekehrt hatte auch Luther gegenüber seinen Vertrauten Erasmus bereits heftig kritisiert: Er monierte dessen Bildungsdünkel, beklagte sich darüber dass Erasmus Hieronymus dem Augustinus vorziehe, vermisste jeden theologischen Tiefgang. So schreibt er an J. Oekolampadius, dass Erasmus‘ Aufgabe mehr in der Einführung in die Sprachen und in dem Aufruf zum Studium der Hl. Schrift bestanden habe; ansonsten aber sei er nicht zu den »meliora studia«30 vorgedrungen und sei einem Moses vergleichbar, der zwar an die Grenzen des Gelobten Landes geführt, es indes selbst nicht betreten habe31.

Mit dem Brief vom 8.5.1524, den er von Erasmus empfangen hatte, war Luthers verzweifelter Versuch einen Monat vorher, Erasmus dazu zu bringen, nicht gegen ihn zu schreiben, endgültig gescheitert. Nun war die Zeit der bloßen Mahnungen und vorsichtigen Zurechtweisungen vorbei. Luther und Erasmus standen in Front gegeneinander.

Der Konflikt entbrannte mit aller Schärfe, als Erasmus im September 1524 seine Abhandlung (»diatribe«) »De libero arbitrio«/«Über den freien Willen« veröffentlichte. Im Hintergrund stand Luthers 13. These, die er während der Heidelberger Disputation vorgetragen hatte, wonach durch den Sündenfall die menschliche Natur so radikal verderbt sei, dass auch der menschliche Wille auf sich gestellt nur Todsünden begehen könne. Wir verstehen diesen Konflikt nur, wenn wir uns vor Augen halten, dass Erasmus eine Geltung des freien Willens nicht für irgendwelche Tätigkeiten des Menschen behauptet hatte32, sondern gerade auch für die menschliche Mitwirkung am Heil. Für Erasmus ist der Mensch im göttlichen Heilswerk nicht bloß passives Objekt, dem aufgrund seines Christusglaubens die rechtfertigende göttliche Gnade zuteil würde; vielmehr muss der Mensch aus freiem Willen mit dieser Gnade mitarbeiten, wenn er das Heil erlangen will. Obwohl Erasmus den Hauptanteil an der Rechtfertigung der göttlichen Gnade zuschrieb und durch seine Abhandlung Luther keinesfalls direkt provozieren wollte, so führte diese doch zu einem Dammbruch in der Beziehung zu Luther.

Luther reagierte Ende 1525 darauf mit seiner Schrift »De servo arbitrio«/«Vom knechtischen Willen«. Diese erst nach einem Jahr recht späte Reaktion stellte für sich genommen schon einen Affront gegen Erasmus dar; hatte Luther doch in einem Brief vom 12.11.1524 an Spalatin mitgeteilt, dass er einen Ekel vor dem Büchlein des Erasmus empfinde.

Wie emotional Luther auf Erasmus‘ Abhandlung antwortete, zeigt auch die Tatsache, dass etwa ein Drittel von »De servo arbitrio« in persönlichen Angriffen auf Erasmus bestand. Er sei ein Skeptiker, der – völlig unchristlich – keine festen Behauptungen (»assertiones«) aufzustellen wage und, was noch viel schlimmer ist, er erwähne Christus mit keinem Wort33. Mit der gewohnt drastischen Ausdrucksweise nennt Luther ihn »ein Schwein aus der Herde Epikurs«34. Was Luther also macht, ist – und so hat es auch Erasmus empfunden – , dass er Erasmus das Christsein abspricht.

Diese Auseinandersetzung, die von seiten Luthers diffa­mieren­de Züge trug, war nicht nur ganz unterschiedlichen Mentalitäten – Erasmus, der Ireniker35, Luther der »Streittheologe«36 – geschuldet. Luther dachte in der Frage der Willensfreiheit existentiell, und dazu gehörten auch klare Bestimmungen über das, was dem Menschen möglich sei. Luther lehnt jeden Beitrag des Menschen zur Rechtfertigung, soweit er über den Glauben hinausgeht, ab und glaubt, gerade dadurch eine klare, auch Gewissheit vermittelnde Grenzziehung zu erreichen, die dem Glaubenden Sicherheit gibt37.

Nicht nur im Vergleich mit der Scholastik, sondern auch im Lichte des Humanismus erscheint Luther als ein Dekonstruktivist, der notwendige und sachlich begründete theologische Komplexitäten abbauen will. Die Humanisten, allen voran Erasmus, hatten indes eine komplexere geistige Welt geschaffen, die auf Vermittlung mit der Scholastik drängte und diese nur in ihren extremen rationalistischen Auswüchsen attackierte, ansonsten aber trotz aller Kirchenkritik gerade auf philologischer Ebene eine Bereicherung der Scholastik darstellen konnte.

II. Luther und die Apokalyptik

Wer Luther und seine Zeitgenossen nach ihrer kirchlichen Memoria befragt hätte, wäre zweifellos mit folgenden kirchlichen Ereignissen konfrontiert worden, an die man sich noch in aller Lebendigkeit erinnerte: das »Exil« des Papsttums in Avignon unter französischer Dominanz – auch als »Babylonisches Exil« bezeichnet – und das große Abendländische Schisma, das die westliche Christenheit in die Gefolge zuerst zweier, am Ende sogar dreier Päpste spaltete und erst zu Beginn des 15. Jh. auf dem Konzil von Konstanz überwunden wurde. Schmerzliche Erinnerung war aber auch der Konflikt zwischen dem Papst und der Kirchenversammlung zu Basel, die als Konzil begonnen, dann aber die päpstliche Zustimmung verloren hatte und schließlich zu einem gegen die Kirche gerichteten Unternehmen geworden war. Aus Luthers Perspektive war die Kirche daher seit 200 Jahren nicht mehr zur Ruhe gekommen, und es waren nicht die üblichen Querelen und Streitigkeiten, die man aus früherer Zeit kannte, sondern existenzbedrohende Ereignisse. Zu ihnen gehörte auch der Siegeszug der Osmanen, die 1453 mit der Eroberung Konstantinopels dem seit mehr als einem Jahrtausend existierenden und uraltes christliches Erbe bewahrenden oströmischen Reich ein Ende setzten. All diese Schrecknisse zusammen mit der seit 1348 grassierenden Pest, die Europa wellenartig überfiel und gerade zu Beginn ihres Auftretens nahezu entvölkerte, wurden als Anzeichen dafür genommen, dass die Endzeit angebrochen sei, in der die satanischen Mächte losgelassen würden, bis sie schließlich durch ein wunderbares Eingreifen des Himmels in der Wiederkunft Christi endgültig in die Hölle geworfen würden. Diese Vorstellungen vom Anbruch der Endzeit waren seit langem schon theologisch unterfüttert. Apokalyptische Texte des Alten wie des Neuen Testamentes, vor allem natürlich die Geheime Offenbarung des Johannes, aber auch nicht kanonisierte Bücher aus der Zeit des späten Judentums und der Kirche des zweiten Jahrhunderts hatten schon sehr früh dazu inspiriert, Mutmaßungen über das Ende der Zeiten und die Wiederkunft Christi anzustellen. Es waren sektiererische, stark dem Judentum verhaftete Gruppen wie die Kerinthianer und Montanisten (z.B. Tertullian und Laktanz), die über ein tausendjähriges Friedensreich spekulierten, das vor der großen Drangsal und der alle Geschichte abschließenden Wiederkunft Christi der Menschheit geschenkt würde. Diese als Chiliasmus oder Millenarismus bezeichnete Interpretation verlor ab dem 4. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Man vermied zeitliche Festlegungen entweder generell, indem man die tausend Jahre nur mehr allegorisch oder spirituell deutete (z.B. Origenes), oder aber dachte sie als Zeitraum zwischen der Auferstehung Jesu und der Gründung der Kirche einerseits und der Wiederkunft mit der allgemeinen Auferstehung der Toten (Augustinus). Gerade diese letztere, im westlichen Christentum beheimatete Sichtweise war dem Denken in Zeiten und Jahren noch so weit verhaftet, dass sie dem Millenarismus wieder einen neuen Nährboden bieten konnte. Dies war vor allem in politischen und religiösen Krisenzeiten der Fall.

Dass auch Luther von der Apokalyptik in einem weiteren Sinn beeinflusst war, ist in der modernen Lutherforschung weitgehend unstrittig; schreibt man doch seine auch für den heutigen Protestantismus peinlichen Ausfälle gegen das Papsttum und gegen den Islam, vor allem aber gegen das Judentum einer solchen Prägung zu38.

Auch Luther muss die Nöte seiner Zeit als so bedrängend empfunden haben, dass er nicht mehr daran zweifelte, in der unmittelbaren Endzeit zu leben. Noch in einer Predigt zum zweiten Adventssonntag 1533 wird Luther ein »Knacken« in der Welt registrieren und von einem Altern und Krankwerden der Menschheit sprechen, so wie auch der einzelne Mensch kurz vor seinem Tod alt und krank wird39. Diese Übertragung des Lebenslaufes auf die Weltgeschichte lässt auf eine sehr resignative Grundstimmung Luthers schließen, der in der Tat zu diesem Zeitpunkt vor dem Scherbenhaufen seines Werkes gestanden haben muss: Die Einheit unter den Reformatoren war zerbrochen und in eine erbitterte Gegnerschaft umgeschlagen, die Lutheraner, Calvinisten, Zwinglianer und die Anhänger Thomas Müntzers für immer trennte. Zudem hatten die Bauernaufstände des Jahres 1525 Blutschuld auf den kleinbürgerlichen Ordnungsmenschen Luther geladen, der die Hoffnungen, die er selbst unter den Bauern geweckt hatte, nicht nur rüde abgewiesen, sondern auch die Fürsten zu einem harten Gegenschlag aufgerufen hatte. So ist es auch mehr als nur eine auf die Zukunft gerichtete Spekulation, wenn er in einer Predigt zum 4. Dezember 1530 die Greise angesichts der Unordnung in der Welt sagen lässt: »Ich bin müde«40. Es scheint, als ob ein tiefer Schatten sich auf die Psyche des Reformators gelegt hätte, der ihn empfänglich machte für eine apokalyptische Weltsicht, die einen Fortgang der Geschichte nicht mehr annehmen kann und vielleicht auch nicht mehr will.

 

Wir dürfen annehmen, dass diese Grundstimmung nicht auf den alternden Luther beschränkt war. Die Arbeiten D. Emmes zu Luthers Jugend- und Studienzeit sowie zu den Motiven seines Klostereintritts legen sogar die Möglichkeit von bipolaren Störungen beim jungen Luther nahe, also einen Wechsel von manischen und depressiven Zuständen. Es ist nicht ganz abwegig, Luthers Empfänglichkeit für apokalyptische Strömungen der über das damals übliche Maß hinausgehenden Gewalttätigkeit zuzuschreiben, der Luther bei seinen Eltern ausgesetzt war. Vermittelt durch die in seiner Erziehung gründende Vorstellung eines strafenden und zornigen Gottes mag sich das Leiden an den Nöten der Zeit aufgetürmt haben zu einem endzeitlichen Horrorszenario. Darin gab es nur mehr Hell und Dunkel, Gut und Schlecht, eine letzte Scheidung der Geister, die nichts Unentschlossenes oder Halbes mehr zuließ. Luthers apokalyptisches Denken war nicht nur eine Sache des Intellekts oder auch der persönlichen Zeiterfahrung; gerade hier spielt auch seine Psyche eine enorme Rolle als eine Kraft zur Selektion und Transformation von Traditionen.

Ein Indiz für diese Kraft zur Selektion liefert die Tatsache, dass Luther entgegen allem Erwarten die längste Zeit seines Lebens – ausgenommen die letzten Lebensjahre – sich kaum für die Geheime Offenbarung des Johannes, also für die kanonisierte Schrift der Apokalyptik interessiert und sie nur sehr vereinzelt interpretiert hat41. Nach H.-M. Barth bildete die Vielzahl der Interpretationsversuche und der Exegetenstreit um die rechte Auslegung eine Barriere für Luther, der dort, wo er sich auf die Geheime Offenbarung bezog, häufig die eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen sprechen ließ42. Für einen passionierten Exegeten, der überdies eine an der Hl. Schrift orientierte Theologie auf dem Plan hat, ist das sehr ungewöhnlich. Es bestätigt aber die Dominanz von Selektion und Transformation in Luthers Denken.

Noch eine andere, selbst in ihrer Undeutlichkeit durchaus aussagekräftige Spur führt in Luthers apokalyptische Gedankenwelt: Obwohl er ihn wohl nicht persönlich kennen­gelernt hatte, war Luther von dem franziskanischen Bußprediger Johann(es) Hilten (ca. 1425–1507) tief beeindruckt43. Hilten, der in Erfurt studiert hatte, wirkte als Bußprediger in Reval und später als Lektor in Dorpat, wurde aber 1477 nach Weimar strafversetzt, nachdem er an seinen bisherigen Wirkungsstätten durch massive Kirchenkritik und durch Schwarmgeisterei aufgefallen war. Der Lutheraner und Reformator von Gotha, Friedrich Myconius, der ab 1529 sowohl Melanchthon als auch Luther mit Hiltens Schriften bekannt gemacht hatte, spricht davon, dass Luther im Weimarer Franziskaner­kloster »väterlich bewacht« worden sei. Man hatte also ein Auge auf den umtriebigen Mönch, der im ersten Jahrzehnt des 16. Jh. – das genaue Jahr ist reine Spekulation – nach Myconius in der Leprosenstation seines Ordens zu Eisenach mit der Kirche versöhnt starb.

Soweit der Kern seiner Lebensgeschichte. Die Reformatoren indes machten aus Hilten einen frühen Propheten ihrer eigenen Bewegung. Er soll, so die Legendenbildung, für das Jahr 1516 das Auftreten eines Mannes vorausgesagt haben, der nicht nur – wie Hilten selbst – die Missbräuche im Mönchtum anprangern, sondern das Mönchtum ganz und gar zugrunde richten werde44.

Selbst wenn diese Prophezeiung so nicht gemacht worden sein sollte – Hiltens Kirchenkritik schloss mit Sicherheit auch das Papsttum ein und war wohl auch grundsätzlicher Art. Rom war in den Augen Hiltens die apokalyptische Dirne45 - ein Bild, das nicht nur für aktuelle Fehler und Laster steht, sondern Rom und das Papsttum in den Dienst Satans stellt. Damit zusammen hängt auch Hiltens Weis­sagung, dass im Jahre 1600 die Türken nicht nur Deutschland erobern und damit der kaiserlichen Macht ein Ende setzen würden, sondern auch Italien und den Kirchenstaat unter ihre Gewalt brächten. Von diesen Ereignissen erwartete er eine grundsätzliche Reform von Staat und Kirche, die in eine Herrschaftsübergabe weltlicher wie kirchlicher Gewalt an den für 1551 erwarteten wiedergekommenen Christus münden sollte. Hilten agierte also in dem Bewusstsein, dass das Weltenende recht bald bevorstünde.

Aus einer Tischrede Luthers aus dem Jahre 1538 wird ersichtlich, dass Luther nicht nur die recht abgewogenen Informationen des Myconius benutzt hat, um sich selbst ein Urteil über Hilten zu bilden. Luther habe, so die Aufzeichnungen46, zuerst davon gesprochen, dass der fromme Johannes Hus unschuldig erwürgt worden sei und nun gerächt werden müsse, »entsprechend der Prophetie des Johannes Hilten, der auch zu unserer Zeit getötet worden sei«. Wider den Bericht des von ihm hochgeschätzten Myconius geht Luther also neun Jahre später von der Ermordung Hiltens aus. Und er zitiert aus dem Legendenschatz um Hilten dessen im Tode gesprochenen tiefgründigen Worte: »Ein anderer wird kommen, und ihr werdet ihn sehen«. Diese »Prophetie«, so Luther, sei erfolgt, »me adolescente« /«als ich ein junger Mann war«47. Luther kam es wohl gar nicht so sehr auf die Geistesverwandtschaft oder auf die Inhalte der Kirchenkritik Hiltens an; hier gab es, wie wir noch sehen werden, bedeutendere Vorläufer für den Reformator. Auch die Prophezeiungen Hiltens vom Weltenende waren für Luther eher von sekundärer Bedeutung. Was ihn interessierte, war, dass zumindest im dunklen Gebräu der Gerüchte und Legenden ein Hinweis auf die heilsgeschichtliche Bedeutung seiner eigenen Person herauszulesen war. Hilten ist für Luther so etwas wie Johannes der Täufer für Jesus! Dabei spielt vor allem auch eine Rolle, dass Hilten in unmittelbarer geographischer und auch zeitlicher Nähe (»me adolescente«) zu Luther stand; das hatte er einem Hus oder Wyclif voraus.

Es mag sein, dass der als Haupt der reformatorischen Bewegung in diesen Jahren stark angeschlagene Luther durch diese Manipulation sich wieder ins Spiel bringen, zumindest aber seine welt- und kirchengeschichtliche Bedeutung wieder stärken wollte.

Auch kann man feststellen, dass Luther im Alter seine ursprünglich restriktive Haltung in Sachen Berechnung des Weltenendes aufgab. In seiner »Supputatio annorum mundi«, einer von ihm im Jahre 1541 verfassten Geschichtstabelle, entwickelt Luther eine Einteilung der ganzen Heilsgeschichte seit der Entstehung der Welt, wobei er nach dem Pfingstereignis eine dritte Weltperiode bis zum Jüngsten Tag ansetzt. Er verweigert zwar auch hier eine genaue Datierung des Jüngsten Tages, doch ist er überzeugt, dass mit dem Jahr 1540 das 5500. Weltenjahr vollendet sei, und er fügt hinzu: »Deshalb muss man das Ende der Welt erwarten (»sperare«), denn das sechste Jahrtausend wird nicht vollendet werden48.

Wo immer Luther auf ganz konkrete Endzeitereignisse zu sprechen kommt, versteht er sie allegorisch: Das Fallen der Sterne vom Himmel wird für ihn zum Bild für den Untergang des Christus-Glaubens in der römischen Kirche. Der Reformator ordnete also das weitverbreitete Denken in apokalyptischen Theorien seinem ureigenen theologischen Anliegen unter.

Keineswegs aber war dieses apokalyptische Denken nur eine Sache des späten Luther. In einem Brief an Spalatin vom 4.11.1520 verbindet Luther die Vorstellung vom Reich des Antichristen mit der gegen ihn selbst gerichteten päpstlichen Bannbulle, die für ihn von höchster Blasphemie und ein satanisches Werk ist49. Satan, so heißt es dort, habe von Anfang der Welt an noch nie so unverschämt gegen Gott geredet wie in dieser Bulle. Damit gibt Luther Spalatin sogleich vor, wie die Bannbulle zu lesen und wie mit ihr interpretatorisch zu verfahren sei: Luther will nicht, dass man über ihre fehlende Schärfe nachsinnt, sie gar als eine moderate Verurteilung interpretiert, die noch Brücken zur Verständigung stehen lässt50. Als Angriff auf seine eigene Person und die mit ihr verbundene Sache ist sie in seinen Augen als absoluter Bruch zu deuten. Der Brief an Spalatin macht deutlich, wie Luther diesen Bruch für seine Anhänger zementiert: Die Bannbulle hat für ihn apokalyptischen Charakter; sie ist nicht nur eine Verurteilung, sondern ein letztes Um-sich-Schlagen des Bösen, bevor das Reich Satans untergeht. Die Apokalyptik ist hier zum Instrument des Kirchenkampfes geworden.

Näherhin ist es der Papst, der schon in der frühen Zeit zum Antichristen wird51. Luther hat, wie auch sein Biograph V. Leppin zugibt, den dann auch tatsächlich erfolgten Bann schon lange erwartet52 und ihn mit einer Art Gegenbann – die Schrift »Adversus execrabilem bullam antichristi« – beantwortet. Luther war also nicht bereit, die Chance zur Revision seiner Lehre, die ihm die Bannandrohungsbulle bot, zu nutzen. Er wollte keinen Kompromiss, sondern den Bruch – nicht den Bruch mit der Kirche als solcher, wie er sie sich als biblisch verfasste vorgestellt hat, wohl aber mit der konkret verfassten Kirche. Und es gelang ihm, seine Anhänger in diesen Bruch hineinzuzwingen, indem er den Papst zum Antichristen oder »Endchristen« erklärte. Diese Kritik traf nicht nur die Person des amtierenden Papstes; während der Dauer der Endzeit musste jeder Papst die Verkörperung des Antichristen sein. Und damit war auch die ganze hierarchische Struktur der Kirche getroffen, das kirchliche Amt insgesamt. Der sprechendste Ausdruck dafür war die Verbrennung der Bücher des kanonischen Rechtes zusammen mit der Bannbulle durch Luther und seine Anhänger am 10.12.1520 in Wittenberg.

Diese Identifizierung des Antichristen mit dem Papst hat Vorläufer: Der Zisterzienserabt Joachim von Fiore (ca. 1130–1202), dessen geschichtstheologische Spekulationen von einem erst anbrechenden Zeitalter des Heiligen Geistes über die radikale franziskanische Bewegung auch in Kreise des Sektierertums hinein­wirkte und dort vielfältige Abwandlungen fand, versetzte den Wirkungsort des Antichristen vom Tempel zu Jerusalem in den römischen Lateran. Der englische König Richard Löwenherz nahm diesen Transfer dann auch zum Anlass, um den von König Heinrich IV. eingesetzten Gegenpapst Clemens III. (1084–1100) anzuklagen, der Antichrist zu sein53. Damit war eine wichtige Schamgrenze überschritten: Der Antichrist – wir lassen beiseite, dass es in manchen Vorstellungen mehrere Antichriste gab, deren zerstörerische Gewalt zum Ende der Zeiten dem Höhepunkt zustrebte – kommt nicht mehr von außen (wie etwa Mohammed), sondern sitzt im Inneren der christlichen Welt, und er kann mit einer konkreten Person identifiziert werden. In der mit härtesten Bandagen geführten Auseinandersetzung zwischen Kaiser Friedrich II. und Papst Gregor IX. (1227–1241) sowie Innozenz IV. (1243–1254) werfen sich die Gegner gegenseitig vor, der Antichrist zu sein.

Im 14. Jahrhundert waren es die von der päpstlichen Haltung gegenüber der radikalen Regelauslegung enttäuschten franziskanischen Spiritualen um Johannes Petrus Olivi, Angelus von Clareno und Ubertino von Casale, die den Antichristen ins Zentrum der Kirche hineinversetzten. Olivi konstruierte dazu einen »mystischen Antichristen«, der einer verweltlichten Kirche vorstehe und vom eigentlichen Antichristen zu unterscheiden sei; kein Zweifel, dass damit nur der Papst gemeint sein konnte.

Auch der 1307 hingerichtete belesene und gebildete Laie Fra Dolcino, der eine beeindruckende Anhängerschar (die »Apostoliker«) um sich versammeln konnte, verband apokalyptische Spekulationen mit radikaler Kirchenkritik. Es sei der Reichtum, der die Kirche ihres apostolischen Anfang entfremdet und sie unter die Herrschaft der Diener Satans (= Kleriker) gebracht habe54. Dolcino muss von allen kirchlichen Reformversuchen zutiefst enttäuscht gewesen sein, dass er mit einem Federstrich die Kirchengeschichte negierte und zu den Uranfängen der Kirche zurückkehren wollte. Ein solches Zurück war nichts anderes als eine Gewalttat gegenüber der sich organisch entwickelnden Kirche55. Diese Gewalt konnte, wie in der spätmittelalterlichen Flagellanten-Bewegung, die sowohl in Italien als auch in Deutschland recht stark war, reflexiv auf die Reformer selbst gerichtet sein (man geißelt sich selbst) oder – wie bei den Anhängern Dolcinos – sich gegen die Repräsentanten der »verweltlichten« Kirche richten56. Je mehr man dabei an der Reformfähigkeit zweifelte, je düsterer das Bild von der Kirche sich einfärbte, desto grundsätzlicher wurde der Antichrist-Vorwurf. Das Schwärmertum des emotional sehr aufgeladenen Spätmittelalters entdeckte mehr und mehr den Widerspruch zwischen der mächtigen und reichen Kirche der Gegenwart und den bescheidenen Anfängen der urchristlichen Gemeinde – eine Entwicklung, die nicht mehr durch das Versagen einzelner kirchlicher Amtsträger zu erklären war, sondern zu einer Strukturkritik an der Kirche herausforderte.

 

Eine solche Radikalisierung finden wir bei Wyclif. Auch Wyclifs Vorstellungen von der Kirche gingen weit über die Reform von Missständen hinaus: Er hatte die ganze Kirchengeschichte vor Augen als eine Geschichte des Verfalls, in der die apostolische Armut ersetzt wurde durch Macht und Reichtum. Auch die Lehre Jesu sei in den Jahrhunderten danach verfälscht worden, wobei er Papst Innozenz III. und dem vierten Laterankonzil (1215) vorwirft, durch die Festlegung auf die Transsubstantiationslehre (Wesensverwandlung der Eucharistie) geradezu alle satanischen Kräfte entfesselt zu haben. Wer die kirchliche Entwicklung so deutet, kann nicht mehr anders, als die ganze kirchliche Hierarchie zu verwerfen. Und dies hat Wyclif auch getan: Seine Vorstellung vom Antichristen war korporativ, d.h. sie bezog sich nicht mehr auf einzelne Personen, sondern auf das kirchliche Amt insgesamt, mehr noch, auf die ganze sichtbare Kirche. Vorrangig trifft dies natürlich vor allem das Papsttum als solches. Dabei spielte es keine Rolle, dass er sich mit der Frage nach dem Zeitpunkt des Weltenendes nicht näher beschäftigte; wer in der äußersten Letztzeit lebt – und genau dies war seine Überzeugung – braucht über Datierungsfragen nicht mehr zu spekulieren. Dieser (sichtbaren) Kirche des Satans wurde von Wyclif die verborgene, wahre Kirche Jesu gegenüber gestellt, in der sich die wahren Jünger Christi um das unverfälschte Wort der Hl. Schrift versammeln.

Diese Radikalität wurde trotz des enormen Einflusses, den Wyclif in ganz Europa hatte, auf dem Kontinent anfänglich noch nicht geteilt. Weder die Prä-Hussiten in Böhmen – Johan Milič (†1374), Matthias von Janov (†1394) – noch J. Hus (†1415) selbst gingen so weit, das Papsttum als solches als antichristlich anzuklagen; nur einzelnen Päpsten unterstellte man, der Antichrist zu sein. Matthias von Janov etwa, von dem wir einen der längsten Traktate über den Antichrist aus dieser Zeit besitzen, verdammte den in Avignon residierenden Clemens VII. als Antichristen und mutmaßte, er könnte sogar der »Antichristus summus« sein, die höchste Verkörperung der widergöttlichen Macht unmittelbar vor dem Weltenende; doch ein Urteil über das Papsttum insgesamt war damit nicht verbunden. Was aber auffällt, ist die Gewalt, mit der das Thema »Antichrist« die theologischen Kirchenkritiker und mehr und mehr auch das gläubige Volk beherrschte.

Mit der Verbrennung von Hus auf dem Konzil zu Konstanz tritt eine Änderung ein: Die Wyclif’sche Position vom Antichristen kann sich nun auch auf dem Kontinent, zuerst und vorrangig in Böhmen unter den sich zunehmend radikalisierenden Hussiten durchsetzen.

Die Verurteilung von Hus nicht durch einen Papst, sondern durch ein Konzil konnte von seinen Gesinnungsgenossen nicht anders verstanden werden, als dass die Kirche als ganze zum Instrument des Satans, zum mystischen Körper des Antichristen geworden sei. Damit war die Tür geöffnet, dass die »ecclesia spiritualis«, wie sie Joachim von Fiore prophezeit hatte, zu einem gegen die Kirche gerichteten Kampfbegriff wurde: Die »Geistkirche« war nun nicht mehr als eine im Hl. Geist (für Joachim mittels des Mönchtums) erneuerte Kirche zu denken, sondern als die wahre, aber verborgene Kirche, die der sichtbaren Kirche mit ihren Ämtern und rechtlichen Strukturen diametral gegenüber steht.

Von dieser Verborgenheit der wahren Kirche und ihrer Heiligen ist auch Luther überzeugt57. Auf dem Hintergrund seines apokalyptischen Denkens kann die Vorstellung von der Verborgenheit der wahren Kirche Christi nicht mehr nur so verstanden werden, dass die Kirche immer auch eine Kirche der Sünder ist und sich die Heiligkeit oft unter einer dominant gewordenen Sünde verbirgt; vielmehr wird hier ein radikaler Bruch vollzogen. Ein deutliches Indiz dafür ist, dass Luther bereits 1519 während der Leipziger Disputation auch dem Allgemeinen Konzil die Irrtumslosigkeit absprach58. Nach Luther kann die Kirche in ihren Institutionen also nicht geist-mächtig urteilen und handeln. Damit war sie zu einer Einrichtung geworden, die, weit entfernt, Heilsinstitution zu sein, dem Wirken des Bösen preisgegeben war.

Das hatte natürlich auch enorme Auswirkungen gerade für das Gespräch zwischen Luther und seinen theologischen Gegnern, das damit schwer belastet, ja eigentlich unmöglich gemacht wurde. Wer Luther entgegentrat, konnte sich nicht mehr auf die Lehre der Kirche berufen. Diese musste sich nun umgekehrt vor Luther rechtfertigen. Luthers Apokalyptik hatte letztlich dazu geführt, dass das Ringen um seine Lehre nicht mehr auf dem Boden der Kirche stattfand, sondern – bereits bevor die Konfessionen getrennt und alle sich dieser Spaltung bewusst waren – als ein Kampf zwischen zwei gegensätzlichen geistlichen Mächten in Erscheinung trat.

Die sichtbare, römische Kirche ist für Luther eine falsche Kirche, die sich gegen das Evangelium wendet59. Dass sie Werkzeug und Erscheinung des Antichristen ist, macht es gänzlich sinnlos, auf eine Reform dieser Kirche zu setzen. Luther konnte sein eigenes Wirken daher nur im Sinne einer Sammlungsbewegung verstehen, die die Jünger wahren Glaubens innerhalb einer dem Dämon verfallenen Gemeinschaft aufsammelt und aus der römischen Kirche herausführt. Die Kirchenspaltung war daher weder ein Zufallsereignis noch, wie man das heute oft glauben macht, die Folge einer kurzsichtigen Fehlreaktion der Kirche.

Zugespitzt hat sich dieser Kampf am Papsttum. Nennen wir einmal einige Titel der antipäpstlichen Schriften Luthers: »Adversus execrabilem Antichristi bullam«(1520), »Von dem Papsttum zu Rom wider den Romanisten zu Leipzig« (1520), »De captivitate babylonica ecclesiae praeludium« (1520), »Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet« (1545) – wir sehen bereits an den Titeln, dass das Papsttum als solches mit dem Antichristen verbunden wird und dass dies nicht nur ein Anliegen des späten, sondern bereits des frühen Luther war. Was sich im Verlauf der Jahre steigert, ist allein die Bösartigkeit, ja die –durchaus sehr publikumswirksame – Unflätigkeit, mit der er das Papsttum überhäuft.

Luther konnte, wie wir gesehen haben, in die Kiste apokalyptischer Vorstellungen greifen, die Modelle für seine eigene Endzeitdeutung bereithielt. Was ihn dazu trieb, ist schwer und nur unter Hinzuziehung psychologischer Kriterien zu beurteilen. D. Wendebourg schreibt zum Stichwort »Kirche« im »Luther-Handbuch«, dass die Kirche für Luther kein Thema gewesen sei, »das im Mittelpunkt seines Interesses stand«60. Das ist merkwürdig für jede Phase seines Lebens: für den jungen Luther, der nach fromm-protestantischer Über­lieferung gegen den Willen des Vaters in den geistlichen Stand eingetreten und Mönch geworden sein soll; für den Luther der ersten reformatorischen Zeit, der sich, wie immer er seine eigene Theologie auch entwickelte, dies nur in Absetzung und Grenzziehung zur Kirche tun konnte; für den alten Luther, der sein Werk organisatorisch und institutionell verankern musste. Dieser Befund ist nicht minder merkwürdig, wenn man an das von ihm angenommene Wirken des Antichristen in der Kirche denkt. Am ehesten erklärt sich die These Wendebourgs, wenn man annimmt, dass das Antichrist-Motiv getragen war von einem tiefgründigen und sehr weit zurückreichenden Hass gegen die Kirche. Luther wäre demnach von einem anti-kirchlichen Affekt geprägt gewesen, der von einem anfänglichen Desinteresse umschlug in einen Hass, der mit Hilfe der These vom Wirken des Antichristen in der Kirche eine Selbstrechtfertigung suchte. In diesen Hass hat er seine Mitläufer mithineingezogen, indem er dieses Motiv zum Instru­ment eines totalen Bruches mit der Kirche machte.

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