Gott hat viele Fahrräder

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Die unsichtbare Wand


Der breite und der schmale Weg.

Mit freundlicher Genehmigung von Pastorin Cornelia Trick

Der Kinofilm Die Wand nach dem gleichnamigen Roman von Marlen Haushofer macht sowohl deutlich, wie willkürlich Grenzen verlaufen können, als auch, wie unüberwindlich sie zu sein scheinen. Der Film zeigt: Inmitten einer schönen Alpenlandschaft läuft die Schauspielerin Martina Gedeck auf ihren Streifzügen immer wieder gegen eine unsichtbare Wand, hinter der das Leben wie erstarrt erscheint.

Was der Film als harte Realität einer Depression vor Augen führt, kann in Wirklichkeit eine Wand im Leben eines Menschen sein, die er selbst errichtet hat und hinter der er sich gefangen hält, sich dahinter im schlimmsten Fall sogar geborgen fühlt. Wenn zum Beispiel Menschen im Sinne eines noch so gut gemeinten christlichen Paradigmas zum absoluten Gehorsam erzogen werden, sind sie ihrer inneren und äußeren Freiheit wie auch ihrer Individuation beraubt. Sollten sie keinen Ausbruch wagen, ist ihr Leben in unsichtbaren, aber dennoch spürbaren Wänden gefangen. Strikter Gehorsam gegenüber Eltern, Kirche und Staat hat nicht selten immer dann zu Radikalisierung, wenn nicht sogar zu Kriegen geführt, wenn Menschen, Gruppen oder ganze Nationen Exklusivität für sich beanspruchen, andere ausgrenzen oder sogar bekämpfen. So entsteht eine Wand.

Ein Zoo ohne Trennwand

Kürzlich las ich in der Süddeutschen Zeitung (15.04.2014), dass auch der erste israelische Zoodirektor die Bibel beim Wort nahm. Aharon Schulov – so der Name des aus der Ukraine eingewanderten Zoologie-Professors – beherbergte ursprünglich alle 130 in der Bibel erwähnten Tiere in seinem Zoo. Seine biblisch begründete Käfighaltung zeigte aber schon bald Kollateralschäden. Er kannte seine Bibel gut und las bei Jesaja 11,6: „Und der Wolf wird bei dem Lamme weilen; und der Pardel bei dem Böcklein lagern.“ Die Umsetzung dieser Prophezeiung ging schon bald eindeutig zu Lasten der Lämmer und Böcklein. Ob es gelungen ist, Löwen Stroh schmackhaft zu machen, wie es bei Jesaja weiter heißt, ist nicht überliefert.


Der Wolf wird bei dem Lamme weilen; und der Pardel bei dem Böcklein lagern. Gemälde von Franz Hanfstaengl. Mit freundlicher Genehmigung von Hans Grüner.

Pietisten und Brüdergemeinden

Mit Bismarck, der ursprünglich eine eher liberale Religionsauffassung hatte, obwohl dessen Frau pietistischen Kreisen entstammte, entstand im Deutschen Reich eine tolerante Ära nach dem Prinzip: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.“ Das Zitat stammt von Friedrich dem Großen. Preußen war damals, mit Ausnahme seiner Enklaven im Westen, evangelisch.

Bereits Ende des 17. Jahrhunderts bildeten sich Untergruppierungen der lutherischen Kirche, initiiert zunächst von Philipp Jakob Spener und dessen Anhänger. Sie drängten auf lebendige Herzensfrömmigkeit und werktätiges Christentum gegenüber der damals in der lutherischen Kirche herrschenden bloßen Lehr- und Bekenntnisgerechtigkeit. Der Name Pietist wurde Anfangs in Leipzig von den Orthodoxen als Schimpfname im Sinne von Frömmler für einige junge, durch Spener angeregte Leipziger Magister gebraucht, die seit 1689 erbauliche Vorlesungen über das Neue Testament (collegia pietatis) zu halten begonnen hatten; diese aber nahmen ihn bald als Ehrennamen an. Die neue Bewegung betonte besonders die „Wiedergeburt“ oder „Erweckung“ als Merkmal lebendigen Christenglaubens und in Abkehr von der Kanzelpredigt beziehungsweise Alleinherrschaft der Theologen und professionellen Pastoren in der protestantischen Kirche, die Verkündung des allgemeinen Priestertums.

Als Prediger in Frankfurt am Main, später auch in Dresden, beginnt Spener seit 1670 neben den öffentlichen Gottesdiensten erbauliche Hausversammlungen zu halten, um die Bibel zu erklären. Sein Einfluss breitet sich im universitären Bereich in Leipzig und Berlin aus und führt zu Kontroversen, aber auch zu Besetzungen der theologischen Fakultät in Berlin und Halle. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts bleibt Halle die Inspirationsstätte des Pietismus. Bei den Lehrern der zweiten Generation zeigen sich hier allerdings auch die ersten Schwächen in Form von religiöser Schwärmerei und frommen Phrasen. Die Wiedergeborenen beginnen sich von den Kindern der Welt durch Haarschnitt, Kleidertracht und Kopfhaltung zu unterscheiden und allen Vergnügungen, wie Tanz, Theater, Kartenspiel etc., als Sünde eine Absage zu erteilen. Die Weltkinder werden zunehmend Objekte eines zuweilen zudringlichen Bekehrungseifers.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts flüchtet sich der Pietismus, aus der Theologie zurückgedrängt, immer mehr in einzelne religiös angeregte Laienkreise, die sich dem Zeitgeist der Verstandesbildung entziehen. In Württemberg und den Rheinlanden rekrutieren sich Pietisten aus den mittleren und niederen Volksschichten, während er anderenorts in hocharistokratischen Kreisen als eine Art Mode gepflegt und von Schönen Seelen auch als ästhetisch ansprechend empfunden wird. Unter dem Schutz Friedrich Wilhelms IV. tagt im September 1857 in Berlin ein Zusammenschluss aller pietistischen Parteien, die sogenannte Evangelische Allianz. Hier soll es zu einer Verbrüderung aller evangelisch-freikirchlichen Gruppierungen kommen. In der sogenannten preußischen Hofpredigerpartei finden schließlich Gruppen mit pietistischen Neigungen und solche mit einer ausgeprägten Orthodoxie zusammen. In Württemberg hingegen halten sich Pietisten von kirchenpolitischen Herrschaftsstrukturen fern.45

Brüder im Herrn

Einen anderen Ursprung hatten die Brüdergemeinden, denen unsere Familie angehörte. Ihr geistiger Vater war der Brite John Nelson Darby. Seine späteren Anhänger nannte man auch Darbysten oder Plymouthbrüder. Darby stammte aus einer angesehenen Familie Irlands, studierte Jura und war als Advokat tätig. Plötzlich bekehrt, wandte er sich der Theologie zu und wurde zunächst Geistlicher der anglikanischen Kirche, bis er Zweifel an der Rechtmäßigkeit der kirchlichen Ordination bekam. Mit der Berufung auf das allgemeine Priestertum, wie es die Bibel empfiehlt, forderte er die Gläubigen aus kirchlichen Gemeinden dazu auf, sich in freien Vereinen zu versammeln. Das taten auch zahlreiche erweckte Christen, zunächst auch unter den gehobenen Ständen. Sie nannten sich Brüder, auch Brüder im Herrn und, weil in der Stadt Plymouth zuerst eine größere Zahl von ihnen zusammenfand, Plymouthbrüder. In anderen Orten bildeten sich ähnliche Gemeinschaften.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es auch in Dublin (Irland) eine besondere Erweckungsbewegung, die sich über die britischen Inseln nach Frankreich, Holland, Dänemark, Schweden, in die Schweiz und schließlich auch bis Deutschland, die Vereinigten Staaten und bis in die Kolonien ausbreitete. Einer dieser Christen, die das Wort Gottes verkündeten, sich von der Welt absonderten, gleichzeitig die baldige Wiederkunft Jesu erwarteten, war der Zahnarzt und spätere Missionar Anthony Norris Groves. Zu diesen Kreisen fand Darby Kontakt.

Großbritannien, das seit Jahrhunderten freiere Versammlungsrechte besaß, gab entscheidende Impulse für die sogenannte Brüderbewegung. Die Einflussnahme der Briten auf den deutschen Evangelischen Brüderverein erfolgte Mitte des 19. Jahrhunderts. 1852 kam es bereits zu einer Spaltung in zwei Richtungen. Auf der einen Seite ist es die „Freie evangelische Gemeinde“ (H. H. Grafe) und auf der anderen Seite sind es die Elberfelder Brüder (C. Brockhaus).

Nachdem sich die Bewegung in vielen Ländern ausgebreitet hatte, kam sie in England wegen dogmatischer Streitigkeiten ins Stocken. Über die Streifrage, ob Jesus sündlos war, drohten die englischen und waadtländischen (Schweizer) Darbysten in zwei feindliche Parteien zu zerfallen.

Zwischen Thron und Altar

Wie bereits erwähnt, hatte der Reichskanzler Otto von Bismarck eine eher liberale Religionsauffassung. Die Brüder in Deutschland – aber nicht nur diese – hatten bis zum Ende des deutschen Kaiserreiches unter fürstlichen Obrigkeiten gelebt, die ihnen meistens wohlgesonnen waren. Die Obrigkeit hatte allerdings an Kirchen und Freikirchen einen Anspruch an Loyalität. Zur Zeit Luthers stand der Landesfürst zugleich an der Spitze der Kirche. Der Pfarrer war als Untergebener vom Wohlwollen des Herrschers und auch finanziell von ihm abhängig. Was liegt da näher, als sich als Verbündeter und Repräsentant dem Landesfürsten zu verpflichten und sich sogar mit dem Fürsten oder später mit dem König zu identifizieren. Die enge Anbindung der evangelischen Kirche an die weltliche Macht blieb über Jahrhunderte bestehen. Der Schulterschluss zwischen Pfarrer und Obrigkeit war geradezu nahtlos. Damit war die Allianz zwischen Thron und Altar besiegelt. Es wurde gebetet für den Herrscher, später sogar auch für Adolf Hitler, Gesetze wurden von der Kanzel verkündet.46 Abgesichert war die devote Haltung der Christen gegenüber der Obrigkeit durch das Bibelwort im Römerbrief des Apostels Paulus, jedermann sei untertan der Obrigkeit …

 

Wie Friedhelm Menk schreibt, war die „geistlich enge Verbindung zwischen Thron und Altar auch für Freikirchen mit zu einem Stück ihres Wesens geworden.“47 Diese Haltung machte es den Christlichen Versammlungen unmöglich, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg eine positive Beziehung zu der demokratisch gewählten Obrigkeit der Weimarer Republik zu finden. Obwohl die Bibel Gehorsam gegenüber der Obrigkeit fordert, „um des Herrn Willen“48, hieß es auf einmal: Für so eine gottlose, sozialdemokratische Regierung kann man doch nicht beten.49 Mit dieser Einstellung begaben sich die Brüder allerdings in Konflikt mit der biblischen Vorstellung, dass die Obrigkeit von Gott verordnet sei und jeder, der sich dem widersetze, der Ordnung Gottes widerstehe.

Du sollst nicht töten!

Während unter englischen Brüdern die vorherrschende Meinung bestand, ein Christ solle nicht auf Befehl der Obrigkeit zu den Waffen greifen50, sprach man in Deutschland in den Botschafter-Jahrgängen 1914/18, einer christlichen Zeitschrift der Brüdergemeinden, von der gerechten deutschen Sache und dem guten Gewissen, das man im Blick auf die Entstehung und Führung des Krieges haben könne. Ein prominenter deutscher Vertreter, der offenbar Altar, das heißt Christentum, und Thron perfekt in seiner Person vereinte, war General Georg von Viehbahn (1840–1915). Nach dem Abitur lernte er nichts anderes als das Kriegshandwerk und wurde folglich Berufssoldat. Denn Adel verpflichtet, wie man sagt. In Zeiten der Monarchie gab es unter anderem den Landadel und den Schwertadel. Die einen bewahrten die Latifundien, die ihnen irgendwann geschenkt worden waren, die anderen vermehrten den Besitz durch kriegerische Überfälle auf den Besitz anderer Nationen. Wenn ein Angehöriger der kaiserlichen Garde besonders erfolgreich war, konnte ihm der Kaiser den Adelstitel verleihen und/oder ein Stück Land schenken.

Als Königlich-Preußischer Generalleutnant nahm Georg von Viehbahn an drei Kriegen teil, die alle naturgemäß eine Blutspur hinterließen. Einer seiner Leitsprüche war: „Rosse werden zum Streittage bereitet, aber der Sieg kommt von dem Herrn.“51 Beispiele für Kriegsführung und Völkermord und deren Legitimation gibt es im Alten Testament schließlich reichlich. Wenn der Sieger das auserwählte Volk war, handelte es sich trotz hoher Verluste auf der Verliererseite um eine gerechte Sache, wie später auch im Deutschen Reich, wenn es darum ging, Feinde zu besiegen oder Angriffskriege zu führen.

In einer von Georg von Viehbahn verfassten Schrift ist zu lesen: „Es ziemt einem echten Christen, der mit seinem soldatischen Dienen Jesum verherrlichen will, Hohes als Offizier zu leisten. […] Das hohe Ideal jedes Soldaten, seine Truppe siegreich gegen den Feind zu führen, ist auch für den gläubigen die Krone seiner soldatischen Wünsche. Wie er vor jedem Gefecht seinen Herrn mit heißem Flehen um Gelingen an ruft, so wird er nachher Sieg und Ehre aus seiner Hand nehmen.“52

Vielleicht ist irgendwo überliefert, ob von Viehbahns christlichem Gewissen die Kriegsverluste diesseits und jenseits Sorgen bereitet haben. Er machte einerseits Karriere beim Militär, andererseits gab er das Evangeliumsblatt heraus und ein weiteres Blatt mit dem Titel Schwert und Schild. In einer weiteren Schrift, Verlobung und Verheiratung der Gläubigen, warb er ganz im Sinne der Eugenik mit den Worten: „Leibliche Gesundheit ist gottgewollte Vorbedingung für eine gottgewollte Verlobung. […] Gesunde Kinder sind nur von gesunden Eltern zu erwarten. Es ist nicht gottgewollt, eine Ehe einzugehen, welcher gesunde Kinder nach menschlicher Vorausschau versagt bleiben müssen.“53

Von Viehbahn war Mitgründer der Allianz-Bibelschule in Berlin, dem heutigen Forum Wiedenest in Bergneustadt. Gleich im ersten Jahr des Ersten Weltkrieges trafen ihn die Folgen eines Krieges doch noch ganz persönlich. Zwei seiner Söhne fielen an der Front. Diese Verluste gingen ihm so nah, dass er nur ein Jahr später am 15. Dezember 1915 verstarb.54

Warum ich das so schreibe? Der Name von Viehbahn ist mir als Kind und in meiner Jugend immer wieder zu Ohren gekommen, sozusagen als Lichtgestalt. Er war General, adelig und dann auch noch Christ und Evangelist. Das war eine Menge Prestige. Von ihm ging meines Erachtens ein gewisser Glanz auf unsere christlichen Kreise aus, neudeutsch würde man sagen: ein Imagetransfer. Wenn so ein prominenter Mann auch noch gläubig war, dann konnte das auch eine positive Einstellung zum Kriegshandwerk mit sich bringen und einen sogenannten gerechten Krieg daraus machen. Nicht selten dienten der Politik und dem Militär christlicher Nationen die zahlreichen Vorlagen des Alte Testaments als Rechtfertigung für Kriegseinsätze. Nicht erst heute ist mir klar, dass sich beides schwer vereinbaren lässt. Das hatten die englischen Brüder erkannt und kündigten ihren Dienst an der Waffe, sobald sie sich bekehrt hatten, so auch mein Ururgroßvater Johann Heinrich Schwarz aus Alchen (1806–1849). Auch er war ein gläubiger Christ.

Ururgroßvater – der Kriegsdienstverweigerer

Als einer der wenigen Vorfahren hinterließ unser Ururgroßvater seine Lebensgeschichte in Form eines ausführlichen Tagebuches. Auf dicken vergilbten Blättern erfahren wir unter anderem von seinen erfolgreichen Bemühungen, als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden. Er lebte in turbulenten Zeiten. 1813 brachte der deutsche Befreiungskrieg gegen Napoleon die Unabhängigkeit zurück. In dem Krieg bis 1818 – nun angeführt von den Preußen und ihren verbündeten Mächten – wurde das Siegerland von den durchziehenden Truppen wiederholt heimgesucht. Das erklärt auch die Abneigung von Johann Heinrich Schwarz, Soldat zu werden, obwohl just zu dieser Zeit die Wehrpflicht eingeführt worden war. Denn im Zuge der Neuordnung Europas wurden die Rheinlande und Westfalen den Preußen zugesprochen. Damit waren gleichzeitig junge Männer in Westfalen beziehungsweise im Siegerland zur Allgemeinen Wehrpflicht gezwungen, die von Preußen 1814 eingeführt wurde. Karl v. Clausewitz (1780–1831) erklärte damals mit einem Zitat den Krieg als Normalfall. In seiner Schrift Vom Kriege (1816) heißt es: „Der Krieg ist nichts als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“


Sohn und Familie des oben erwähnten Ururgroßvaters Johann Heinrich Schwarz. Hier Ludwig Ferdinand Schwarz (1837–1893) und Katherine, geb. Lütz (1835–1879), und Kinder Carl, Anna, Lina, Berta. Ludwig Ferdinand aus Alchen bei Siegen predigte sonntags in Westerwaldörfern in neu gegründeten Christlichen Versammlungen. Im Nachruf heißt es: „Mit viel Weisheit und Verständnis legte er die Schriften aus, daß alle bis ins Innerste davon berührt waren.“

Brautschau in der Christlichen Versammlung

Ihr Weiber seid unterwürfig euren eigenen Männern, als dem Herrn. Denn der Mann ist das Haupt des Weibes, wie auch der Christus das Haupt der Versammlung ist; er ist des Leibes Heiland. Aber gleichwie die Versammlung dem Christus unterworfen ist, also auch die Weiber ihren Männern in allem. […] Doch auch ihr, ein jeder von euch liebe sein Weib also wie sich selbst; das Weib aber, daß sie den Mann fürchte.

Der Brief an die Epheser von Apostel Paulus (5,22-24 u. 33)

Wäre ich den Vorstellungen und Wünschen meiner Eltern, speziell meines Vaters, gefolgt, hätte ich eine Frau aus unseren christlichen Kreisen geheiratet. Es gab nur einen vergeblichen Versuch meines Vaters, der bei mir allerdings kein Gehör fand. Er hatte die Auserwählte auf Reisen irgendwo im Westerwald entdeckt. Sie führte einen Tante-Emma-Laden. Ohne sie je gesehen zu haben, sagte ich: „Nein, danke.“ Obwohl immer die Drohung im Raum stand, Ehen mit Partnern aus unterschiedlichen Glaubensrichtungen oder ohne Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Gemeinde würden über kurz oder lang scheitern, feiere ich mit meiner Frau Uschi in absehbarer Zeit Goldene Hochzeit.

Meine Eltern hatten sich – wie im Idealfall – in der Christlichen Versammlung in Wattenscheid im Ruhrgebiet kennengelernt und in dieser Stadt die Familie und einen Vertrieb für Bürobedarf gegründet. Beide Elternteile kamen aus einem christlichen Elternhaus, Mutter Gretchen aus dem Siegerland, Vater Friedrich Ferdinand aus dem Ruhrgebiet. Als Gretchen Schwarz in Wattenscheid als Haushaltshilfe begann, besuchte sie sonntags wie gewohnt die Christliche Versammlung. Dort saß der große schöne Mann, den sie von Stund an liebte, bis der Tod sie nach 43 Ehejahren schied. Mutter war 21 Jahre alt, Vater sieben Jahre älter. Vater war, wie man sagt, schon ein gestandener Mann, hatte eine Kaufmannslehre beendet, als Soldat ein Intermezzo im Ersten Weltkrieg hinter sich und war inzwischen selbstständig. Wie ich jüngst in einem der vielen handschriftlich verfassten Predigtbüchern meines Vaters las, hatte er klare Vorstellungen von Haus- und Rangordnung. Er schreibt: „Die jungen Frauen sollten auf ihrem gottgewollten Platz und ihre gottgewollte Aufgabe hingewiesen werden: ihre Männer zu lieben, ihre Kinder zu lieben, keusch mit häuslichen Arbeiten beschäftigt, gütig, den eigenen Männern unterwürfig sein. Dann bleibt keine Zeit mehr übrig zu fremden und bösen Dingen.“ Damit lag Vater ganz auf der Linie der Bibel, die dem Mann einen höheren Rang und größere Freiheit einräumt als der Frau, zum Beispiel das alleinige Recht zur Ehescheidung. Angesichts der vielen Formen der ehelichen Gemeinschaften – bis hin zur Polygamie –, die sich im Alten Testament finden, gibt es in der hebräischen Bibel keinen Begriff für Ehe.

Unbeschadet dessen sind die Regeln für das Zusammenleben auch im Neuen Testament klar, wenn es in Kolosser 3,18 heißt: „Ihr Weiber, seid euren Männern unterwürfig, wie es sich geziemt in dem Herrn. Ihr Männer, liebet eure Weiber und seid nicht bitter gegen sie.“ In Epheser 5,22, wie am Anfang des Kapitels zitiert, wird Ähnliches wiederholt. Das sind für die Männerwelt angenehme Hierarchien und Privilegien, die in einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung, einer anderen Kultur und Zeit entstanden sind. Frauen standen damals ihr ganzes Leben in Abhängigkeit, zunächst vom Vater, dann vom Mann und schließlich sogar vom Sohne. Solche Gesellschaftsmodelle auf die heutige Zeit zu übertragen, ist schon sehr ambitioniert.

Ehefrau Gretchen war nach fünf Jahren Haushaltshilfe schon bald Hausfrau, Mutter und Gehilfin in Vaters kleinem Schreibwarengeschäft. Emanzipation der Frau konnte noch Jahrzehnte eine Utopie bleiben, nicht nur in christlichen Kreisen.

Im Januar 1933, zeitgleich mit der Machtergreifung Hitlers, zog die inzwischen fünfköpfige Familie aus dem Ruhrgebiet in Mutters alte Heimat Siegen zurück. Dort gab es in der großen Sippe der Schwarz-Verwandtschaft Schutz, den man im Ruhrgebiet nicht mehr fand. Zur Zeit des Umzugs wurden die drei Kinder in Omas Haus nach Weidenau geschickt. In Siegen angekommen, gab es noch Restbestände an Schreibwaren und Bürobedarf aus Vaters Vertrieb in Wattenscheid als Erstausstattung für das neue Geschäft in der Tiergartenstraße.

Mutter war zu diesem Zeitpunkt mit meiner Schwester Gretel schwanger und muss wohl nach dem Umzug und der Versorgung von drei Kindern blass und mitgenommen ausgesehen haben. In seltenen Fällen half sie auch schon einmal im Laden aus, der etwa zehn Minuten Fußweg von der Wohnung entfernt lag. Heute spricht man in solchen Fällen von Doppel- oder Mehrfachbelastung einer Hausfrau und Mutter.

Das veranlasste die ältere Mutter eines benachbarten Lebensmittelhändlers, ihr eines Nachmittags ein Gebäckteilchen und Kaffee vorbeizubringen. Mutters Beine waren von ihren ersten Tätigkeiten vorgeschädigt. In ihrer Zeit als Haushaltshilfe durfte sie keine Arbeit sitzend verrichten. Das muss der Anfang ihrer Beinbeschwerden gewesen sein. Nach ihrem Schulabschluss mit vierzehn Jahren hatte sie rund fünf Jahre in Haushalten gestanden. Da es im Wattenscheider Laden wegen der hohen Arbeitslosigkeit wenig zu tun gab, saß Mutter kurz vor dem Umzug nach Siegen mit hochgelegten Beinen und handarbeitete. Sie strickte für meinen älteren Bruder Ferdinand mit blauer Wolle einen kleinen Anzug und wunderte sich, woher plötzlich ein roter Faden kam. Sie griff danach und merkte, dass es Blut war. Da hatte sie das erste Mal ein offenes Bein. Solche Situationen wiederholten sich, wenn zum Beispiel auf einem Spaziergang eine Krampfader platzte. Sie behandelte die Beine mit Zinkleimverbänden und trug Stützstrümpfe. Ihre Beinbeschwerden veranlassten sie, sich regelmäßig nach Tisch, nachdem sie in der Küche vor dem Herd gestanden hatte, für eine Stunde hinzulegen. Spülen war selbstverständlich Gemeinschaftsarbeit der Kinder.

 
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