Gott hat viele Fahrräder

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Brüder und das schwierige Verhältnis zu Juden

Zur Judenfrage hatten nicht wenige Christen der Christlichen Versammlung eine, vorsichtig gesagt, eigenartige Argumentation, wenn es in der christlichen Jugendzeitschrift Die Tenne 1934 heißt: „Schritt für Schritt erfolgte so die Durchdringung der Nationen mit jüdischer Art und jüdischem Geist. Dieses Volk stand ja unter dem Fluch und sollte auch ein Fluch sein und werden. Denn Gott sorgt dafür, dass sein Wort eintrifft.“27 Der Verfasser, Major a. D. Freiherr Fritz von Kietzell, damals wohnhaft in Berlin, war seit 1926 Schriftleiter der Tenne. An anderer Stelle heißt es: „Geht nicht von diesem Volke heute ein alles durchdringender, alles zu Grunde richtender Einfluß aus, auch in sittlicher Beziehung? Zweifellos, denn wer schwere Schuld auf sich lud, wer unter den Fluch gekommen ist, wird seiner Umgebung zur Last sein […]“28 In einem Beitrag über die Rückkehr der Juden nach Palästina spricht man in der Tenne von der „Säuberung Deutschlands von den staatsfeindlichen, insbesondere von den eingewanderten jüdischen Elementen“29.

Fritz von Kietzell, dem ehemaligen Major des Königlich Preußischen Heeres, werden – wie mehrheitlich auch dem (Schwert-)Adel – die straffe Zucht und das männliche Auftreten der nationalen Bewegung näher gelegen haben als das demokratisch gewählte Parlament der Weimarer Republik. Dennoch zeigte er zunächst Zurückhaltung gegenüber den positiven Leserbriefen zur NSDAP und argumentierte ausweichend. Ein Christ habe es überhaupt mit keiner Partei zu tun. Zwar war auch er der Meinung, dass Gott die NSDAP zur Zurückdrängung der bolschewistischen Gottlosigkeit benutze, aber das wolle er ganz Gott überlassen. Deshalb weigerte er sich, gegen die NSDAP eine klare Stellung zu beziehen, und stellte seinen Artikel unter das Motto: „Was haben wir damit eigentlich zu tun?“30

Inzwischen hatte die NSDAP unter den jungen Gläubigen etliche Anhänger gefunden. Das musste auch Die Tenne einräumen, „daß viele aus unseren Reihen, besonders aus der Jugend, der jungen, mächtig aufstrebenden Bewegung zuneigen. Ein ungeheurer Schwung geht von dort aus, der viele in seinen Bann zieht.“31 1934 erschien das erste Hitler-Bild in der Tenne.

Während die NSDAP in christlichen Kreisen einerseits Anhänger fand, wurde auf der anderen Seite auch Kritik laut. Um dem entgegenzuwirken, schrieb Christian Schatz in einem Rundbrief vom 26.05.1933: „Es wird ernstlich abgeraten, junge Brüder, die der SA (Sturmabteilung)32 oder SS (Schutzstaffel)33 angehören, zu beeinträchtigen […] Wir haben auch als Christen dem Staate gegenüber eine tätige Verantwortung. Vielleicht sind wir in der Vergangenheit in dieser Beziehung, beeinflusst durch unsere englischen Brüder, doch zu weit gegangen.“

Männer in leitender Position der Brüdergemeinden wollten entweder nicht zur Kenntnis nehmen, was politisch auf sie zukommen würde, oder waren nicht dazu in der Lage. Immerhin hatte sich Die Tenne in ihrer Ausgabe 12, 15.06.1931, in dem Beitrag Zeichen der Zeit mit dem Hinweis auf Mein Kampf kritisch geäußert. Wer Mein Kampf gelesen hatte, konnte Hitlers Programm kennen. Das traurige Erwachen kam erst mit dem Verbot der Christlichen Versammlung. Fritz von Kietzell führte nun eine Kommission an, welche die Christliche Versammlung gegenüber dem Staat vertreten sollte. Im Januar 1935 hatte er ein von dem Reichsministerium für kirchliche Angelegenheiten gewünschtes Exposé eingereicht. Dabei erwies sich die Judenfrage als schwieriges Problem, sodass wegen des zunehmenden Antisemitismus der Dienst von Brüdern jüdischer Abstammung nicht mehr erwünscht war. Man teilte die Vorstellung, dass die Juden ein Fluch für die Nation geworden seien.

Bei der Meinungsbildung der christlichen Jugend spielte Die Tenne eine wichtige Rolle, auch wenn Politik erklärt wurde, unter anderem im Zusammenhang mit den Nürnberger Rassegesetzen. Dabei bezog sich die Jugendzeitschrift auf das Vorwort einer Veröffentlichung mit dem Titel Die Nürnberger Gesetze über das Reichsbürgerrecht und den Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre von Dr. jur. Bernhard Lösener, Ministerialrat, und Dr. jur. Friedrich U. Knost, Reichsregierungsrat, im Reichs- und Preußischen Ministerium des Inneren. In dem 1936 im Verlag Franz Vahlen erschienen Band heißt es:

„[…] Gerade von den überzeugten Zionisten ist deshalb am wenigsten Widerspruch gegen die Grundgedanken der Nürnberger Gesetze erhoben worden, weil sie einmal wissen, daß diese Gesetze auch für das jüdische Volk die einzig richtige Lösung darstellen, und weil sie ferner wissen, daß sich das wieder zum Bewußtsein seiner selbst erwachte deutsche Volk damit nur eben die Gesetze gegeben hat, die sich das jüdische Volk schon vor Jahrtausenden gegeben hat (siehe Buch Esra), und die es stark gemacht haben zu dem völkischen Wunder, sein Blut unverfälscht und rein zu erhalten, obwohl alle seine Glieder unzählige Generationen hindurch inmitten fremden Volkstum gelebt haben. Man sollte meinen, daß gerade der reinblütige Jude für die Rassengesetze des neuen Deutschland ein gewisses Verständnis hat […]“

Dieser Beitrag, so zynisch er war, wurde damals zur allgemeinen Beruhigung der Christen in der Tenne abgedruckt, allerdings mit einer ungenauen Quellenangabe. Da mich der Kommentar für mein vorletztes Buch34 interessierte, habe ich lange nach der richtigen Quelle gesucht und sie über die Bibliothek des Justizministeriums NRW schließlich im Landesarchiv NRW gefunden.

Rassenhygiene und Priester-Gen

Wenn sich die bibelkundigen Autoren auf das Buch Esra beziehen, muss man allerdings feststellen, dass zumindest nach heutigen Maßstäben auch in Israel Rassenhygiene gängige Praxis war, wenn man zum Beispiel Esra 9,1-10,44 liest. Heute wäre das undenkbar, Frauen und deren Kinder anderer Nationen und Glaubensrichtungen in die Wüste zu schicken, einfach wegzujagen und diese damit einem ungewissen Schicksal auszusetzen. Wie sollte ich das anders nennen als Rassenhygiene? Wenn zu Anfang des Matthäus-Evangeliums in der Genealogie die komplette Ahnenreihe von Abraham bis Christus – dreimal vierzehn Geschlechter – aufgeführt werden, könnte auch dort von einer reinen Rasse gesprochen werden, auf die man offensichtlich stolz war. Irritierend ist nur, dass als Letzter in der Ahnenreihe Joseph, der Mann der Maria, genannt wird, der Jesus aber nicht gezeugt haben soll. Da erleiden die vererbten Gene einen jähen Abbruch.

Selbst heute ist unter manchen Juden der Glaube an die reinrassige Herkunft noch fest verwurzelt. Auf der Suche nach den Ursprüngen des jüdischen Volkes entdeckten US-amerikanische Gen-Forscher mithilfe von Speichelproben anscheinend ein Priester-Gen, mit dem mutmaßlich schon der Moses-Bruder Aaron ausgestattet war. Etwa fünf Prozent der jüdischen Bevölkerung bezeichnen sich als Kohanim – Nachfahren der alten jüdischen Hohepriester-Kaste. „Entdeckt die Macht Eurer Gene“, fordert das Stammhaus der Leviten, aus dem die Kohanim stammen, im Internet auf: „Das einzigartige Gen, das alle Kohanim verbindet, macht uns zur einzigen authentischen königlichen Linie in der menschlichen Geschichte.“35 Vielleicht aber ist das nur ein einträgliches Geschäft. Denn wer sollte das genetische Vergleichsmaterial von Aaron ausgegraben haben? Eine andere Entdeckung kommt jüdischen Genealogen weniger gelegen: Ihr Volk stammt aus demselben Genpool wie die Araber.

Die Ironie der Geschichte ist: Genetisch/ethnisch unterscheiden sich Israelis beziehungsweise Juden nicht von ihren Nachbarvölkern oder der Bevölkerung ihrer Gastländer. Juden sind in erster Linie eine Religions- und Kulturgemeinschaft. Dass sie darüber hinaus in Abgrenzung der sogenannten arischen auch als Rasse gelten sollten, lag im Interesse der Nationalsozialisten. Der Humangenetiker Prof. Otmar von Verschuer schrieb 1937 in Forschung zur Judenfrage, er verwerfe die Vorstellung, Juden seien von Nichtjuden an der Nasenform oder der Blutgruppe zu unterscheiden. Stattdessen deutet seine Auffassung von der „vergleichenden Rassenpathologie“ darauf hin, dass einzelne Krankheiten in der jüdischen Bevölkerung verbreiteter seien als in der nichtjüdischen.

Biblisch begründete Erklärungsversuche

Auch wenn meine Eltern ein eindeutig distanziertes, kritisches Verhältnis zur NS-Politik hatten und meine Mutter – nicht folgenlos – eine Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft verweigerte, hatten sie dennoch eine Meinung zum Schicksal der Juden, wie ich mich erinnere. Denn auch wir Kinder hatten Fragen und erwarteten wie immer schlüssige, biblisch begründete Antworten. Ich entsinne mich an einen Hinweis in der Bibel – ein Menetekel aus dem Munde Jesu –, das das Schicksal der Juden vorauseilend erklären sollte: Als Jesus gefangen wurde, folgte ihm auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte eine große Menge Volks und Weiber, welche wehklagten. Da wandte sich Jesus zu ihnen und sprach: „Töchter Jerusalems, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder; denn es werden Tage kommen, an welchen man sagen wird: Glückselig die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren, und die Brüste, die nicht gesäugt haben! […] Denn wenn man dies tut an dem grünen Holze, was wird an dem dürren geschehen?“36 Diese nicht ganz verständliche Prophezeiung könnte so interpretiert werden: Jesus stellt das grüne Holz der Verheißung dar, das dürre Holz als das damalige Israel.37

 

Nach Kriegsende und allen Verbrechen vor allem gegenüber Juden im Dritten Reich hätte man denken können, dass auch Verantwortliche der Christlichen Versammlung zu neuen Erkenntnissen gekommen wären. Aber nein! Kurt Karrenberg (1913–1967), Geschäftsführer und Schriftleiter der Christlichen Verlagsgesellschaft, einer der führenden Köpfe der Brüder, schreibt in dem offiziellen Programmheft Warum aus dem Jahr 1960: „Wir glauben, daß zwischen der Gemeinde Jesu als himmlischem und Israel als irdischem Volk Gottes klar unterschieden werden muß. Demnach unterscheiden wir auch zwischen himmlischen Segnungen für die neutestamentliche Gemeinde und irdischen Segnungen für das dereinst wiederhergestellte Volk Israel. Wir vergeistigen also nicht die Israel geltenden Verheißungen, sondern glauben, daß sie, wie die angedrohten Strafen, real an diesem Volk in Erfüllung gehen werden.“38 Damit begibt sich Karrenberg auf dasselbe Niveau wie Fritz von Kietzell, der – wie bereits erwähnt – 1934 schrieb: „Dieses Volk stand ja unter dem Fluch und sollte auch ein Fluch sein und werden. Denn Gott sorgt dafür, dass sein Wort eintrifft.“39

Im Klartext heißt das: Nicht genug der Verbrechen gegenüber Juden im Dritten Reich, weitere Strafen an diesem Volk werden real folgen, damit ein Bibeltext in Erfüllung geht. Anders formuliert: Karrenberg rechtfertigt damit posthum die Ermordung von 6.000.000 Juden, Sinti, Roma und politisch Verfolgten (davon vorwiegend Juden) im Dritten Reich und nimmt weitere Strafen an dem Volk der Juden billigend in Kauf. Er toleriert damit unter anderem, dass 6.000 jüdische Ärzte diskriminiert, ihrer Existenz beraubt, vertrieben und ermordet wurden, dass jüdische Anwälte, Wissenschaftler, Künstler, Literaten, Kaufleute, ganz zu schweigen von der großen Zahl der anderen weniger prominenten Juden, ihre Existenz und zum größten Teil ihr Leben verloren. 1.145 Professoren und Dozenten, darunter zwanzig Nobelpreisträger, wurden entlassen und flohen zum Teil. Als Max Planck in seiner Eigenschaft als Präsident des Kaiser-Wilhelm-Instituts Hitler konsultierte und versuchte, auf ihn einzuwirken, auf die Entlassung der Wissenschaftler zu verzichten, entgegnete Hitler nach einem seiner berüchtigten Wutanfälle: „Wenn die Entlassung jüdischer Wissenschaftler die Vernichtung der zeitgenössischen Wissenschaft bedeutet, dann werden wir einige Jahre lang ohne Wissenschaft auskommen.“40

Hierarchisches Gefälle – gefällige Bibelexegese

Nach all diesen Tragödien der Nazizeit stellt sich die Frage: Hat Bruder Karrenberg nichts dazugelernt? Neben dieser Grundsatzschrift über die Entstehung und dem Lehrprogramm der Versammlung der Brüder verfasste Kurt Karrenberg unter anderem eine Schrift mit dem Titel Prüfet die Geister! Gemeinde und Gemeinschaft. Das Abendmahl. Auch in eigener Sache hätte die Aufforderung, prüfet die Geister, nicht schaden können.

Wäre Karrenberg, wie viele andere tonangebende Brüder, irgendwer im Irgendwo gewesen, hätte man sagen können, da hätte jemand eine Viertelstunde länger nachdenken sollen und kaum jemand hätte seine Veröffentlichungen registriert. Aber er war, außer den oben erwähnten Funktionen, die er innehatte, zudem Autor von Beiträgen für die Zeitschrift Gnade und Friede und Gute Botschaft, des Dillenburger Kalenders und der in Wuppertal erscheinenden Botschaft. Damit genoss er einen Vertrauensbonus in den hierarchisch strukturierten Brüdergemeinden. Dabei lief Karrenberg als Nichttheologe Gefahr, in Unkenntnis der historischen Zusammenhänge vor rund 2000 Jahren und mehr, nicht nur gefällige Interpretationen der Bibeltexte zu offerieren, sondern zuweilen auch gewagte Interpretationen. Denn wenn man die Bibel wörtlich nimmt, kann man damit auch das Böse legitimieren. Das ist die Tragik des tradierten Konzepts der Brüdergemeinden.

Vielfalt statt Einfalt

Die in den vorausgegangenen Kapiteln beschriebenen Verbrechen gegen die Menschheit, wie das internationale Militärgericht der Alliierten in Nürnberg urteilt, Eugenik und Rassenhygiene, sollten für alle Zeiten der Vergangenheit angehören. Denn vor Gott und dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Das sichern heute die Universellen Menschenrechte wie auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in dem es unter anderem heißt: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit […] (Art. 2 (1) GG). Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich […] (Art. 2 (2) GG). Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (Art. 1 (1) GG).“ Zumindest in Europa leben wir – Gott sei Dank – weitestgehend in Frieden. Wer hätte das vor 1945 gedacht? Keine Feindbilder mehr, keine Kopfgeburten mehr, die aus Menschen anderer Nationen, anderer Hautfarbe Feinde machen. „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden“, heißt es in Art. 3 (3) GG.

Wenn ich heute in der Düsseldorfer Altstadt in der Bolkerstraße oder an der Uferpromenade einen Wein trinke, genieße ich gleichzeitig das muntere Treiben des vorbeiziehenden, multikulturellen Publikums – eine bunte Vielfalt, fernab jeglicher eugenischer und rassenhygienischer Normerfüllung wie damals im Dritten Reich. Wer in der Altstadt oder auf der Prachtstraße Königsallee flaniert, erlebt zudem ein babylonisches Sprachengewirr – erst recht zu Messezeiten – von Menschen aus aller Herren Länder. Man begegnet allen Gesellschaftsschichten, jeder Hautfarbe, jeder Moderichtung. Japaner und Chinesen haben mit großen Kolonien ihren Wohnsitz und ihre Niederlassungen in Düsseldorf. Es gibt wieder eine Synagoge (seit 1948, vorher im großen Sitzungssaal des Oberlandesgerichts) und ein jüdisches Gemeindeleben – mit 7.000 Mitgliedern ist sie die drittgrößte Gemeinde in Deutschland. Anstatt Trennendes zu betonen, bemüht man sich, durch einen interreligiösen Dialog Brücken zu bauen. Große arabische Familien-Clans residieren im Sommer im Fünf-Sterne Breidenbacher Hof an der Königsallee, genießen das gemäßigte Klima, lassen sich in den Kliniken medizinisch runderneuern und gehen ausgiebig shoppen. Kein Mensch dreht sich um, wenn die Frauen in schwarzer Burka (Ganzkörperverschleierung) das Straßenbild verändern. Ein Großteil der Düsseldorfer Gastronomie würde zusammenbrechen, wären da nicht die Spanier, Italiener, Griechen, Türken, Japaner, Chinesen und Inder als Betreiber.

Im Rheinland ist man tolerant, kann spontan mit Menschen reden. Hier lässt jeder jeden leben wie sie/ er ist. Deshalb lässt sich’s hier so gut leben. Jeder Jeck is anders ist in Düsseldorf nicht nur eine Redensart, sondern auch Programm. Das ist ein Kontrast zu dem, was mit dem Dritten Reich hinter uns liegt, ein Stück weit auch in dörflichen Gemeinschaften wie auch in streng ausgerichteten christlichen Gemeinschaften.

Mit zwanzig Jahren zog ich nach Düsseldorf. Das ist nicht zuletzt der offenen, unverkrampften rheinischen Lebensart wegen für immer meine Heimat geblieben. Hier konnte ich durchatmen, mir letztlich alle privaten und beruflichen Wünsche erfüllen, unzensiert das kulturelle Leben mit Theater-, Ober-, Konzertbesuchen genießen. Nicht selten führte mich abends der Weg mit Kollegen in die Altstadt, der längsten Theke der Welt. Soziale Kontrolle war Vergangenheit. Dennoch besuchte ich auch in Düsseldorf weitere Jahre die Christliche Versammlung, sang im Chor und hatte vergnügliche Stunden vor allem mit Jugendlichen der Gemeinde, bis ich mich auch von dieser Umklammerung löste. Nun glaube ich zwar immer noch an ein Leben nach dem Tod, aber auch an ein Leben vor dem Tod. Nur noch in großen Intervallen erreichte mich in Düsseldorf der lange Arm der Erziehung meines Vaters.

Wir und die anderen

Glaube nur, glaube nur,

armes Herze glaube nur,

was dein Gott dir hat versprochen,

geht’s auch gegen die Natur!

Er hat nie Sein Wort gebrochen:

Fühlest du, mein Herz, auch keine Spur,

glaube nur, glaube nur.

Glaube nur, glaube nur,

wenn dich das Gewissen schreckt,

und du fühlst dich schuldbeladen,

wenn die Sünde, aufgedeckt,

bei dir zeigt den ganzen Schaden!

Siehst von Bess’rung du auch keine Spur,

glaube nur, glaube nur.

Erbauungslied (Str. 1, 2) von Hermann Heinrich Grafe (1818–1869)

Als Kind wünschte ich mir, so wie die anderen zu sein und von meinen Eltern so akzeptiert zu werden, wie ich bin. Aber in einer Familie mit einem hohen Anspruch an Frömmigkeit war das nicht möglich. Das Prinzip religiöser Normerfüllung oder -abweichung, von gut oder böse, was für Christen zur Dauerreflektion, Selbstzensur oder sogar zum Dauerstress führen kann, war früher – vielleicht auch heute noch – für Mitglieder mancher Kirchen, besonders aber für Gläubige der Evangelischen Freikirchen – damit auch bei uns – Alltag. Dabei zeigen sogar Gestalten der Bibel, dass kein Geschöpf vollkommen ist. Das könnte entlasten und von der Forderung befreien, perfekt sein zu müssen.

Die Vorgaben, was sich schickt, was das Image schädigen könnte, bewegten sich dennoch in unserer christlichen Glaubensrichtung in einem engen Rahmen, der letztlich von einem speziellen Bibelverständnis vorgegeben war und ist.


Das Herz des Menschen

In der bereits zitierten Schrift Versammlungen der Brüder von Kurt Karrenberg aus dem Jahr 1960 ist zu lesen: „Wir halten an der Vollinspiration der Bibel fest und lehnen alle liberale Bibelkritik ab.“41 Im Gegensatz zur historisch-kritischen Theologie sollten also Bibeltexte wortwörtlich absolut irrtumsfrei als Handlungs- oder Verbotsanweisung gelten. Obwohl die Bibel vor mehr als 2000 Jahren in anderen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen verfasst wurde, reichten die Verhaltensregeln bis hin zur Normierung für die Art der Frisur und Länge der Haare. Kein Geringerer als der US-amerikanische Evangelist Billy Graham hatte sogar behauptet, auch Mode sei Sünde. Dieser Logik folgend blieb da wenig Spielraum für modische Kleidung. Ein Gipfel der Eleganz war das nicht. Von meinem Großvater – ich habe ihn nicht erlebt – wurde berichtet, dass es die heilige Stimmung des Versammlungssaales gebiete, derart gemessenen Schrittes den Raum zu betreten, dass sich die Schnürsenkel nicht bewegen durften.

Bei Karrenberg ist weiter zu lesen: „Es liegt uns daran, daß jedes Glied der Gemeinde sich abgesondert hält von der Welt und ihrem Wesen, daß, vor allem in der Ehe, keine Jochgemeinschaft gepflegt wird mit Ungläubigen. Verfall einer Gemeinde hat sich immer dann eingestellt, wenn die Glieder in der gebotenen Absonderung von der Welt lässig wurden.“42 Heute würde man bei solchem Regulierungseifer sagen: Da ist wohl die EU-Kommission einmal zu viel aktiv geworden.

Die weltabgewandte Lebensweise von manchen Gläubigen und das Festhalten an Glaubenssätzen bergen auch Gefahren. Heikel wird es auch dann, biblischen Weisungen zu folgen, wenn es um die dort geforderte körperliche Züchtigung geht oder darum, der Obrigkeit, sprich: Politikern, gegenüber unterwürfig zu sein. Im Brief von Paulus an die Römer heißt es apodiktisch, ohne Wenn und Aber: „Jede Seele unterwerfe sich den obrigkeitlichen Gewalten; denn es ist keine Obrigkeit, außer von Gott, und diese, welche sind, sind von Gott verordnet. Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersteht der Anordnung Gottes; die aber widerstehen, werden ein Urteil über sich bringen.“43 Dieses naive Vertrauen, Gott werde es schon regeln, hatte nicht selten verhängnisvolle Folgen, wie zum Beispiel den Massenmord im Dritten Reich. Auf die christlichen Gemeinden bezogen bedeutet das, in die Politik muss man sich nicht einmischen noch besonders informiert sein. Bequemer geht’s nicht – weder für die Untertanen noch für die Obrigkeit, denn die kann sich damit der Kontrolle entziehen und regieren, wie sie will. Man muss nicht politisch denken, fällt auf politische Phrasen herein, wenn sie nur christlich verpackt sind. Auch auf diesem Gebiet war Hitler ein Meister der Täuschung.

 

Dergestalt entlastet, kann man sich Wichtigerem zuwenden, wie ich kürzlich entdeckte. In einem der vielen kleinen Ringbücher mit handschriftlich verfassten Predigten meines Vaters las ich zu meinem Erstaunen, was außer dem üblichen Sündenkatalog des Weiteren als Sünde gelten solle. Er schrieb in den fünfziger Jahren: „Heute ist die Sünde zur überströmenden Flut geworden. Kino, Bilder, Bücher, Sport, Schulgefährten, Lehrer, Schulräte, Theologen, Irrlehrer untergraben Gottes Wort und Ordnung.“ Diese Aufzählung ist insofern ungewöhnlich, als Vater normalerweise in der Lage war, seine Theorien mit Bibelzitaten abzusichern. Für die Bewertung von Kino oder Sport aber bietet die Bibel nichts Geeignetes. Abgesehen von dem Generalverdacht, sogar gegenüber Lehrern oder Theologen, macht das eher willkürlich zusammengestellte Sündensortiment unausgesprochen deutlich, dass zwischen der geistlichen, geistigen Welt der Gläubigen und der Welt da draußen, wie es immer hieß, eine imaginäre Grenze verläuft.

Wie so manches der reinen Lehre der Christlichen Versammlung war auch das Konzept der Absonderung ein Plagiat dessen, was andere in anderen Zusammenhängen, anderen Zeiten und anderem Zeitgeist vorgedacht hatten, so das gestörte Verhältnis zu Kulturgütern. Es wird nicht übertrieben sein, wenn es in der Schrift Die Sekten der Gegenwart von Paul Scheurlen heißt: „Die Stellung des ‚Darbysmus‘ zu Welt und Kultur ist völlig ablehnend. Die ‚Welt‘ liegt unverbesserlich im Argen. Aussichtslos und schriftwidrig ist der Versuch, sie mit Kräften des Evangeliums zu durchdringen. Die ‚christliche Welt‘ – welch ein Widerspruch! An Politik und Staatsleben kann sich der Christ nicht beteiligen. […] Die Versammlung treibt geflissentlich Wahlsabotage. Hinsichtlich des Kriegsdienstes empfiehlt sie, nach Posten hinter der Front zu streben. Mit Kunst und Literatur sich zu beschäftigen ist ‚weltlich‘. Der Christ hat damit nichts zu tun. Naturfreude am Sonntag ist unchristlich.“44 Dieser Verhaltenskodex wird dem Theologen J. N. Darby zugeschrieben, der als Gründer und Kopf der Brüderbewegung gilt.

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