Gott hat viele Fahrräder

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Mir waren die Hände gebunden





Die bestrahlte Alpenmilch und der Traubenzucker versprachen mir zunächst keine strahlende Zukunft. Ich hatte Milchschorf, eine Krankheit, die bei Säuglingen oder Kleinkindern häufig ausbricht, wenn die Ernährung nach dem Abstillen, oder wenn gar nicht gestillt wird, auf Kuhmilch umgestellt wird – flüssig oder als Pulver. Mit der veränderten Zusammensetzung von Fett, Eiweiß, Kohlenhydraten, Vitaminen und Mineralstoffen der Kuhmilch, besonders dem erhöhten Eiweißgehalt der Kuhmilch, ist der menschliche Organismus jedoch überfordert. Die Symptome zeigen sich, so steht es zumindest in alten ärztlichen Ratgebern, in Form von entzündlichen Absonderungen der Haut und Schleimhäute, von bräunlichen Schuppen oder Grind auf der Kopfhaut, von nässenden Hautausschlägen im Gesicht und am Hals und schließlich auch in Form von Krusten. Da die Haut juckte, wurden mir die Hände verbunden, damit ich mich nicht mehr kratzen konnte. Ich hatte keine freie Hand mehr. Obwohl ich schon früh meinen Freiheitsdrang entdeckte, wie folgendes Beispiel zeigt, waren mir als Kind dennoch oft die Hände gebunden.



Eines Tages gelang es mir, mich vorübergehend von den Binden zu befreien. Damit Mutter einkaufen gehen konnte, wurde ich für ein paar Stunden der befreundeten Nachbarin Frau Volkart anvertraut. Ob ich in dieser Zeit selbst die Mullbinden von den Händen gerissen oder die Nachbarin ein Erbarmen hatte, ist nicht überliefert. Jedenfalls erblickte Mutter auf dem Heimweg schon von Weitem ein dunkles blutverschmiertes Gesicht hinter der Fensterscheibe. Richard hatte mit bloßen Händen sein Gesicht zerkratzt und schrie bitterlich. Verbundene Hände, permanenter Juckreiz, gegen den sich die eigenen Hände nicht wehren konnten, würden Psychotherapeuten als Ereignis frühkindlicher Traumatisierung diagnostizieren, das, obwohl später verdrängt, dennoch Spuren hinterlässt. Es war ein langer Weg, bis ich nicht mehr zuließ, dass mir im übertragenen Sinn die Hände gebunden wurden.










Der kleine Richard mit Bleyle-Hose und langen Strümpfen





Ein anderes Mal hätten meine Aktivitäten noch ernsthaftere Folgen haben können. Ich stand in einem Laufställchen in der Küche. Auf der Kante des Küchenschranks lag ein superscharfes Rasiermesser, das regelmäßig mithilfe eines Lederriemens neu geschärft wurde. Rasieren mit Wegwerf-Rasierklingen war noch nicht sehr verbreitet und schließlich auch teuer. Deshalb konnte ich jeden Morgen meinen Vater beobachten, wie er sich mit dem Rasierpinsel einseifte und den Seifenschaum anschließend mit dem Rasiermesser abschabte, um sich zu rasieren. Das gefiel mir offenbar, ohne indessen die Gefahren zu erahnen, die bei unbefugtem Gebrauch des Rasiermessers drohen würden. In einem unbeobachteten Moment ruckelte ich meinen Laufstall so lange in Richtung Küchenschrank, bis ich das Rasiermesser zu fassen bekam. Nun versuchte ich nach dem Prinziep

trial and error

 endlich selbst die Rasur. Was ein Erwachsener macht, kann ja wohl nicht falsch sein.

Me too-effect

 oder

learning by doing

 würde man heute das nachvollziehbare Verhalten eines Kindes nennen. Ganze Generationen haben schließlich durch Anschauungsunterricht Überlebenstechniken und Handwerkliches gelernt. Als man mich nach den ersten Selbstversuchen entdeckte, war ich blutverschmiert nur noch bedingt vorzeigbar. Nur die Augen leuchteten noch im Gesicht.







Homöopathie – wer heilt, hat recht





Familie Fuchs und Onkel und Tanten der Familie Schwarz trafen sich traditionell zu Pfingsten im Tiergarten ganz in der Nähe unserer Wohnung. Etwas weiter lag die Numbach mit einem schönen Ausflugslokal, ein beliebtes Ziel auch für die

Weidenauer Christliche Versammlung und Sonntagschule

. Tante Lina, stets dabei, berichtete mir später: „Du warst klein und wurdest noch im Kinderwagen gefahren und dein Gesicht sah so aus wie ein Reibekuchen,

eine

 Kruste. In diesem Gesicht waren aber strahlende, fröhliche Augen und ein lachender Mund. Deine kleinen Hände waren mit Mull umwickelt. Aber du warst dabei und vergnügt.“



Da Mutter mich nicht stillte und ich auch Kuhmilch nicht vertrug, war, wie bereits erwähnt, der Nahrungsersatz Edelweiß-Buttermilchtrockenpulver. In der Hoffnung auf Linderung brachte man mich zur Höhensonnenbehandlung in die Praxis eines Kinderarztes. Das Leiden hätte noch lange dauern können, wäre da nicht die Empfehlung gekommen, einen Heilpraktiker aufzusuchen. Lorsbach hieß der begabte Homöopath, der Heilung versprach, und zwar, wie er sagte, nachhaltig, von innen heraus. Die Symptome würden noch einmal schlimmer zum Ausbruch kommen, dann aber abnehmen.

Erstverschlimmerung

 würde man heute sagen. So war’s dann auch. Beschwerden dieser Art kamen nie wieder. Mein Vertrauen in die Homöopathie ist bis heute geblieben.



Die von dem Arzt Samuel Hahnemann (1755–1843) entdeckte Heilmethode nach dem Prinzip „Gleiches beziehungsweise Ähnliches wird durch Gleiches beziehungsweise Ähnliches geheilt“ war damals wie heute sehr verbreitet. Sein Hauptwerk

Organon der rationellen Heilkunde

 musste während der Lebenszeit Hahnemanns fünfmal neu aufgelegt werden. Heilpraktiker hatten im Übrigen bis zu Beginn des Dritten Reiches, anders als heute, neben Ärzten ebenfalls Verträge mit den gesetzlichen Krankenkassen.



Wenn man weiß, dass das noch nicht vollständig entwickelte Gehirn eines Kindes sich vor allem in den ersten drei Lebensjahren strukturiert, ist es nicht unerheblich, welche Botschaften es in dieser Zeit empfängt und wie intensiv der Körperkontakt mit der Mutter ist. Dabei spielt das größte Kontaktorgan des Menschen, die Haut, eine nicht zu unterschätzende Rolle in Sachen Kommunikation. Nun war ich schon nicht, wie es in dem Lied heißt, als

Knäblein an der Mutterbrust

 gestillt worden und hatte dann auch noch die Haut der Güteklasse

Rühr mich nicht an

! Wer will schon bräunliche Schuppen, Grind, nässende Hautausschläge und Krusten anfassen? Auf der anderen Seite wurde mein eigenes Bedürfnis nach Körperkontakt mit anderen durch Binden an den Händen sprichwörtlich

unterbunden

. Auch wenn ich mich selbst nicht mehr bewusst erinnere, hat mein frühkindlicher Körper die Erlebnisse von damals im Unterbewusstsein gespeichert.










1942, mit der kleinen Gerda sind wir nun sieben









Der genormte Mensch







Wir brauchen unbedingt ein kurzes Wort zur Bezeichnung der Wissenschaft von der Verbesserung des Erbguts, die sich keineswegs auf Fragen zweckmäßiger Paarung beschränkt, sondern vor allem in Bezug auf den Menschen, auch all diejenigen Einflüsse berücksichtigt, die in einem wenn auch noch so geringem Maße dazu beitragen, den tauglichen Rassen oder Einschlägen eine bessere Behauptungschance gegen die weniger tauglichen zu bieten, als sie sonst bestanden hätte. Das Wort „eugenics“ schien zur Bezeichnung dieses Gedankens geeignet zu sein.





Francis Galton, in: Hereditary Genius (Erbliches Genie), London 1883



Wer in Zeiten des Nationalsozialismus zur Welt kam, größere gesundheitliche Schäden aufwies als die eher harmlosen, behandelbaren, wie bei mir, konnte Schwierigkeiten bekommen. Denn der Staat ließ nur starke, gesunde Menschen der nordisch-arischen Rasse gelten. Laut Hitler sollten die Menschen

flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl

 werden. Hebammen, Ärzte und Gesundheitsämter wurden aufgefordert, Neugeborene mit Behinderungen zu melden. Das zeigt unter anderem der Beitrag des Arztes und Eugenikers Dr. Heinrich Schade, der im Übrigen nach Kriegsende als Professor in der Landesheilanstalt Düsseldorf Grafenberg weiterarbeitete. Noch 1974 verbreite er mit seinem letzten Buch

Völkerflut und Völkerschwund. Bevölkerungswissenschaftliche Erkenntnisse und Mahnungen

 im neonazistischen Vowinckel Verlag rassistisches Gedankengut.



1937, zur Zeit, als ich geboren wurde, erschien unter dem Titel

Erbbiologische Bestandsaufnahme

 ein Aufsatz von besagtem Professor Schade, in dem er die gesetzliche Maßnahme der „Inventarisierung der Bevölkerung auf dem Wege über die Gesundheitsämter“ und deren Vertiefung „durch eine eingehendere wissenschaftliche Allgemeinuntersuchung der gesamten Bevölkerung“

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 in verschiedenen Bezirken in Hessen zusammenfassend darstellt. Angestrebt war eine vollständige Erfassung, ausgehend von Aufzeichnungen von Fürsorgestellen für Trinker, Geschlechts-, Gemüts- und Nervenkranke sowie von Fürsorge-, Hilfsschul- und Vormundschaftsakten ergänzt durch Daten und Akten der Nervenkliniken und Gefängnisse nach dem Vorbild der

erbbiologischen Bestandsaufnahme

 in Frankfurt am Main. Dort war 1937/38 bereits die Hälfte der Bevölkerung in dem 250.000 Akten umfassenden Erbarchiv erfasst und zum größten Teil in Karteikarten dokumentiert.



Was war dem vorausgegangen? Schade hatte 1935 eine bis dahin einmalige anthropologisch, medizinische Erhebung im Schwalm-Eder-Kreis durchgeführt, mit der er sich 1939 habilitierte. Laut Schade sollte die Untersuchung „unter Berücksichtigung des genealogischen Aufbaus der ‚Bevölkerungsbewegung‘ Aufschluss geben über die gesunden und krankhaften körperlichen und geistigen Eigenschaften der Bevölkerung und die Verbreitung ihrer Erbanlagen. Dazu gehört auch die Häufigkeit von Erbkrankheiten“.

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 Das Ergebnis entsprach dem, was er sich erhofft hatte, und zwar, dass häufig ganze Sippen mit Debilen intellektuell ein im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung deutlich niedrigeres Niveau haben. Solche Menschen wurden dann als erbkrank im Sinne des Erbgesundheitsgesetzes diskreditiert. Nach dem 1935 beschlossenen

Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des Deutschen Volkes

 wurden nach eugenischen Maßstäben die somatische und psychische Qualität von deutschen Staatsangehörigen festgelegt, die für eine gesunde Nachkommenschaft verantwortlich gemacht wurden. Eine Ehe durfte erst gar nicht geschlossen werden, wenn ein Partner nicht den Kriterien der Erbgesundheit entsprach. Dass auch rassisch Andersartige nicht erwünscht waren, hatte zur Folge, dass 1937 in einer Nacht- und Nebelaktion, an der Schade ebenfalls beteiligt war, die Sterilisation der sogenannten

Rheinlandbastarde

 beschlossen wurde.

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 Sie waren zwar gesund, dennoch rassisch unerwünscht.

 







Nürnberger Gesetze







Der Stärkere hat zu herrschen und sich nicht mit dem Schwächeren zu verschmelzen, um die eigene Größe zu opfern. Nur der geborene Schwächling kann dies als grausam empfinden, dafür aber ist er auch nur ein schwacher und beschränkter Mensch; denn würde dieses Gesetz nicht herrschen, wäre ja jede vorstellbare Höherentwicklung aller organischen Lebewesen undenkbar. Die Folge dieses in der Natur allgemein gültigen Triebes zur Rassenreinheit ist nicht nur die scharfe Abgrenzung der einzelnen Rassen nach außen, sondern auch ihre gleichmäßige Wesensart in sich selbst. Der Fuchs ist immer ein Fuchs, die Gans eine Gans …





Adolf Hitler: Mein Kampf. 656. – 660. Auflage. München 1941, S. 312, 11. Kapitel „Volk und Rasse“.

 (sämtliche Ausgaben bis 1941: 7.800.000 Exemplare)



Am 15. September 1935 hatte der Reichstag auf dem Nürnberger Parteitag das

Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre

 beschlossen, mit dem eine Geschlechtsgemeinschaft zwischen Juden und Deutschen verboten wurde. Da die Versuche, die

jüdische Rasse

 naturwissenschaftlich zu definieren oder äußerlich zu identifizieren, gescheitert waren, griffen die NS-Ideologie und die Gesetzgebung auf die Religionszugehörigkeit des Betroffenen oder seiner Ahnen als entscheidenden Anknüpfungspunkt zur Bestimmung der Rasse zurück. Ein Konfessionswechsel änderte an der Zugehörigkeit zu diesen Gruppen nichts.



Während das einen Monat zuvor beschlossene

Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre

 der Ideologie der Rassenhygiene folgte, regelte das am 18. Oktober 1935 beschlossene

Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des Deutschen Volkes

 nach eugenischen Maßstäben die somatische und psychische

Qualität

 von deutschen Staatsangehörigen, die für eine gesunde Nachkommenschaft verantwortlich gemacht werden.



In § 1 (1) heißt es:

Eine Ehe darf nicht geschlossen werden: a) wenn einer der Verlobten an einer mit Ansteckungsgefahr verbundenen Krankheit leidet, die eine erhebliche Schädigung der Gesundheit des anderen Teiles oder der Nachkommenschaft befürchten lässt; b) wenn einer der Verlobten entmündigt ist oder unter vorläufiger Vormundschaft steht; c) wenn einer der Verlobten, ohne entmündigt zu sein, an einer geistigen Störung leidet, die die Ehe für die Volksgemeinschaft unerwünscht erscheinen lässt; d) wenn einer der Verlobten an einer Erbkrankheit im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses leidet. (2) Die Bestimmung des Abs. 1 Buchst. d. steht der Eheschließung nicht entgegen, wenn der andere Verlobte unfruchtbar ist. § 2 Vor der Eheschließung haben die Verlobten durch ein Zeugnis des Gesundheitsamtes (Ehetauglichkeitszeugnis) nachzuweisen, dass ein Ehehindernis nach § 1 nicht vorliegt.



Die beiden in Nürnberg abgefassten Gesetze werden deshalb auch

Nürnberger Gesetze

 genannt. Was Vertreter der Eugenik und Rassenhygiene seit Jahrzehnten zuvor propagierten, setzten nun die Machthaber des Dritten Reiches mit Unterstützung der Ärzteschaft und Justiz in die Praxis um.



In einem Ahnenpass hatten nun deutsche Bürgerinnen und Bürger einen Nachweis über ihre arische Abstammung zu führen. Im Abschnitt

Der Rassengrundsatz

 heißt es, dass es oberste Pflicht eines Volkes sei, seine Rasse, sein Blut von fremden Einflüssen reinzuhalten und die im Volkskörper eingedrungenen fremden Blutseinschläge wieder auszumerzen. Diese im nationalsozialistischen Denken verwurzelte Auffassung gründet sich auf die (pseudo-)wissenschaftliche Erkenntnis der Erblehre und Rassenforschung. Als fremd galt hier vor allem das Blut der auch im europäischen Siedlungsraum lebenden Juden und Zigeuner, das der asiatischen und afrikanischen Rassen und der Ureinwohner Australiens und Amerikas (Indianer). Obwohl eine Zufallsverbindung von Partnern unterschiedlicher Herkunft genetisch und biologisch sinnvoller erscheint, sollte nun nur noch

reinrassig

 geheiratet werden.



Der Erlass des deutschen Reichsinnenministers vom 6. Februar 1936 forderte, eine

erbbiologische Bestandsaufnahme

 in den Heil- und Pflegeanstalten durchzuführen.







Antisemitismus im protestantischen Siegerland







Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau; denn ihr seid einerin Christo Jesu.





Apostel Paulus: Brief an die Galater, 3,28.

 (Das heißt, mit der Taufe gibt es keine Hierarchie mehr, auch nicht zwischen Mann und Frau.)



Für so manches, was evangelikale Christen gesellschaftlich vertraten und vertreten, konnten sie nicht allein ein Erstgeburtsrecht in Anspruch nehmen, sondern es war eine naive Rezeption dessen, was der Zeitgeist vorgab, so zum Beispiel der verdeckte oder offen ausgesprochene Antisemitismus. Obwohl Juden durch die deutschen Verfassungen und Gesetzgebungen, insbesondere die Verfassung des Preußischen Staates vom 31. Januar 1850, die völlige Gleichstellung mit den übrigen Staatsbürgern erhielten, war der latente Antisemitismus nicht auszurotten. Vor allem, wenn er von der Kanzel gepredigt wurde, verfehlte er seine Wirkung nicht. Wenn Christen ihren Vertrauensbonus dazu missbrauchen, geschickt verpackte rassistische Ideen zu verbreiten, ist das besonders infam. Vor allem der Dom- und Hofprediger Adolf Stoecker (1835 – 1909) in Berlin schreckte vor antisemitischen Agitationen nicht zurück. 1878 gründete er die

Christlich-Soziale Arbeiterpartei

, die 1881 in

Christlich-Soziale Partei

 umfirmiert wurde, und 1880 die

Berliner Bewegung

 als Zusammenschluss antisemitischer Gruppierungen. Da sein Versuch, die Arbeiterschaft für die Christlich-Sozialen zu gewinnen, gescheitert war, wandte er sich nun erfolgreicher mit antisemitischer Propaganda an den kleinbürgerlichen Mittelstand. Auch bei Studenten fand er Zuspruch. Zu den verschiedenen antisemitischen Strömungen gehörte unter anderem die Kritik an der völligen staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden. Für Stoecker war der Antisemitismus nicht nur ein Rand-, sondern ein Zentralthema seines gesamten Denkens und öffentlichen Redens. Besondere Erfolge feierte Stoecker in seinem Wahlkreis, den ausgedehnten Waldgebieten an Lahn, Eder und Sieg, also nicht zuletzt im Siegerland. Der Chronist U. F. Opfermann kommentiert: Dieser „Bayerische Wald für protestantische Politiker, und seine mental in einer traulichen Vormoderne verharrenden Bewohner müssen ihm als ideal für seine Zwecke erschienen sein“.

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Stoecker kandidierte fortan immer in diesen Gebieten und das hinterließ Spuren. Ein Parteimitglied der 1878 von Stoecker gegründeten antisemitischen

Christlich-Sozialen Arbeiterpartei

 war in Siegen der reformierte Pfarrer Julius Winterhager, der als Ortsschulinspektor ausgerechnet für die Schule der jüdischen Gemeinde zuständig war. „1934 hielt ein Pfarrer und Reichsredner der NSDAP in Eiserfeld, Schwerpunkt des protestantischen Fundalismus, eine scharfe antisemitische Rede. Er lobte Luther und Adolf Stoecker als antisemitische Vorkämpfer und beschimpfte ‚ernste Christen‘, die ‚in Eiserfeld jüdische Geschäfte christlichen vorziehen‘ würden.“

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Dass ein prominenter Prediger und Mitglied des Generalsynodalvorstandes im kirchlichen Raum wie bei Amtsbrüdern Zuspruch und Nachahmer fand, muss nicht weiter verwundern, erst recht nicht, wenn er seine Botschaften zusätzlich durch die

Neue evangelische Kirchenzeitung

 verbreiten konnte, deren Herausgeber er war. Auch seine Parteigenossen bewunderten an ihm, die Judenfrage volkstümlich gemacht zu haben. Als unterstützende Autorität konnten die

Christlich-Sozialen

 Martin Luther zitieren, so etwa dessen Forderung nach Vertreibung aller Juden und Beschlagnahme ihres Vermögens.

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 Damit lieferten die Meinungsbildner eine Vorlage für das, was sich nach 1933 ereignen sollte. So sah es 1935 auch der ehemalige Stadtverordnete Otto Beckmann in einer posthumen Laudatio auf Stoecker und damit die von ihm geführte politische Bewegung als

Vorläufer des Nationalsozialismus

.

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Das Siegerland war einer antisemitischen Bewegung sehr aufgeschlossen, da dort die Chrislich-Soziale Bewegung stark verwurzelt war. In der katholischen Minderheit des Siegerlandes hingegen, dem katholischen Sauerland wie bei der katholischen Berleburger Minderheit kamen die nationalsozialistischen Botschaften schlecht an. Noch im September 1943 verurteilten Bischöfe in einem Hirtenwort an die deutschen Katholiken, das in Kirchen verlesen wurde, die mörderische Praxis der NS-Politik. Es verurteilte grundsätzlich die Tötung menschlichen Lebens und bezog sich mit den Worten, dies betreffe auch

Menschen fremder Rassen und Abstammung

, auf die Massenverbrechen an Juden, Sinti und Roma, wenn es die Opfer auch nicht beim Namen nannte.

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 Ganz anders im Siegerland: „Überall im Siegerland und in Wittgenstein wurde die Übergabe der Regierungsgewalt an die verbrüderten Rechtskräfte (‚Kabinett Hitler‘) am 30. Januar 1933 mit Freudenfeuer, Fackelzügen, Dankgottesdiensten und Festveranstaltungen volksfestartig begangen.“

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Bis 1933 – 200 Juden im Siegerland





1933, als meine Eltern aus dem Ruhrgebiet nach Siegen zogen, gab es im Siegerland mehr als 200 Juden, von denen 115 als Angehörige der jüdischen Gemeinde in Siegen gemeldet waren. Nicht nur Letztere waren bedroht, sondern auch nichtreligiöse Juden und konvertierte Juden zum evangelischen oder katholischen Glauben – zwei von ihnen, David und Deborah Kogut, waren evangelisch-freikirchlich. Bis zum Auswanderungsverbot am 23. Oktober 1941 hatten rund vierzig Prozent der Juden ins Ausland flüchten können, vor allem wohlhabende und jüngere. Wenn die Verbliebenen keinen Suizid begingen, war ihr Schicksal durch Deportation in Vernichtungslager vorgezeichnet.



Ursprünglich hatte es keine Juden im Siegerland gegeben, da die hiesigen Fürsten durch Gesetze den Aufenthalt unterbanden. Das änderte sich mit der französischen Besatzungszeit (1806–1813). Nun ließen sich jüdische Händler in Siegen nieder, einer von ihnen war Isaac Rosenberg. Nach 40jährigem Kampf erlangte er sogar das Bürgerrecht. Die Gemeinde wuchs im 19. Jahrhundert stetig. Die Mitglieder, fast ausschließlich Händler, unterhielten etliche Geschäfte in der Oberstadt wie Tietz, Marx, Herrmann, Ferber, Jacoby. Es bestanden nur wenige gesellschaftliche oder wirtschaftliche Kontakte zur christlichen Bevölkerung. 1904 wurde die schöne Synagoge feierlich eingeweiht, die schließlich am 10. November 1938, einen Tag nach der Reichskristallnacht, dem Brandanschlag der Nazis zum Opfer fiel. Am 9. November, als insgesamt 267 jüdische Gotteshäuser brannten, war die Siegener Synagoge schlicht und einfach vergessen worden. SS-Männer in Zivil holten das gründlich nach. So ist zu erklären, dass die Siegener Synagoge eine der wenigen ist, die brennend fotografiert wurde, weil Fotografen darauf vorbereitet waren. Am selben Tag wurden alle jüdischen Männer verhaftet und 3 – 6 Wochen später in das KZ Oranienburg bei Berlin eingeliefert. Auch vor konvertierten Juden machten Nazis nicht halt.

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Zum Thema Juden berichtet meine älteste Schwester Magdalene: „Eines Tages musste ich zur Post und kam über die Bahnüberführung. Eine Menge Leute standen auf der Brücke und sahen auf den Bahnsteig hinunter. Ich blieb auch stehen, sah viele Leute mit Judenstern am Arm und Gepäck und hörte jemand leise und entrüstet sagen, das Gepäck würden die nicht behalten und wer weiß, wohin die Leute kämen.“ Weiter berichtet Magdalene, dass unsere Mutter gesagt habe, dass der achtzehnjährige Sohn unseres Metzgers als Bewacher in Dachau sei und seine Eltern, selbst tief betroffen, Entsetzliches munkelten. Auch unsere Nachbarin, Frau Volkart, erzählte, dass eine Verwandte ihr mitgeteilt habe, in Hadamar stürben die Leute in der Landesheil- und Pflegeanstalt wie Fliegen an der Wand. Da inoffizielle Berichte wie diese die Menschen erreichten, ist die oft wiederholte Ausrede, man habe nichts gewusst, mehr als unglaubwürdig.

 



Die Botschaft, jüdische Geschäfte zu boykottieren, war nicht neu. 1933 aber herrschte offen praktizierte Gewalt. In Siegen wie a

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