Die Hirntod-Falle

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DIE GEBURT DES »HIRNTODES«

»Der Tod als die Gränze der natürlichen Rechtsfähigkeit ist ein so einfaches Naturereignis, daß der selbe nicht, wie die Geburt, eine genauere Feststellung seiner Elemente nöthik macht.«

Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861), in: System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 2, 1840, S. 17.

»Der von der Bundesärztekammer geforderte Nachweis von Koma, fehlende Atmung und Ausfall der sogenannten Hirnstammreflexe beweist – auch bei peinlicher Verfolgung aller Ausschlusskriterien – nicht den Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen.«

Dr. med. Martin Klein, Arzt für Neurologie, Stellungnahme zur Anhörung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages am 25. 9. 1996. Ausschussdrucksache 579/13.

Wann immer in einer rechtlichen Grauzone normative Fakten geschaffen werden, sind Ethikkommissionen als Dienstleistende mit Argumentationshilfen nicht weit, wie z. B. bei der Rechtfertigung der Gleichung Hirntod = Tod. Dennoch verbieten de facto und auch per definitionem sowohl der hippokratische Eid als auch die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert, das Töten von sterbenden Patienten. Das bestätigt auch das Strafgesetz. Jede andere Sichtweise würde auf eine sanktionierte Tötungshandlung hinauslaufen. Diese Feststellung hinderte den Gesetzgeber aber nicht daran, diese Hürden mit terminologischen Tricks zu überspringen: Nach seiner Ansicht sind noch lebende Organspender bereits »Verstorbene«, wie die folgende Argumentation zeigt.

Während des Gesetzgebungsverfahrens 1996 hatte das Bundesministerium des Innern in einem Schreiben51 die Bundesministerien für Gesundheit und für Justiz darauf aufmerksam gemacht, dass die Entnahme von Organen nur bei zweifelsfrei nicht mehr Lebenden gesetzlich zugelassen werden dürfe. Wer aber eine rechtlich logische Konsequenz erwartete, die sich aus dieser Aussage hätte ergeben können, sah sich getäuscht. Dr. Dieter Schnappauf, der Verfasser des Schreibens, empfahl nach allem vorher Gesagten im Hinblick auf die strittige Todesdefinition, man solle die Überschriften des entsprechenden Abschnitts im Gesetzentwurf eindeutiger formulieren als »Spende und Entnahme von Organen bei Verstorbenen«. Wenn die Definition des Todes offengelassen würde und der Lebensschutz des erstrebten Vorteils willen relativiert werde, sei die Wirkung, die davon ausgehe nicht nur »verfassungspolitisch fatal, sondern im Hinblick auf die vorgenannten Anforderungen aus dem Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich nicht haltbar«.

Die Empfehlung zeigte Wirkung, nicht nur als Formulierungshilfe für Wortbeiträge in den darauffolgenden Anhörungen, der 1., 2. und 3. Lesung des Transplantationsgesetzes, sondern vor allem bei der Abfassung des Änderungsantrages vom 24. 6. 199752, der frühestens einen Tag vor der Abstimmung im Deutschen Bundestag von den Abgeordneten zur Kenntnis genommen werden konnte. Die Tatsache, dass sich der überwiegende Teil der herbeigeeilten Abgeordneten erst kurz vor der Abstimmung im Foyer des Plenarsaals bei den dort ausgelegten Drucksachen bediente, lässt die Vermutung zu, dass ein Teil von ihnen nicht im Detail darüber informiert war, über welche Antragsinhalte er abzustimmen hatte. Die Details des Änderungsantrages aber machten deutlich, dass die Antragsteller den Empfehlungen von Dr. Schnappauf gefolgt waren.

»Es ist nicht Sache des Staates, zu entscheiden, wann das Leben des Menschen endet«

Zu der Frage, ob der Gesetzgeber generell befugt ist, hier Entscheidungen zu treffen, äußerten sich verschiedene Staatsrechtler kritisch, wie zum Beispiel Professor Hans-Ullrich Gallwas aus München in der Anhörung des Gesundheitsausschusses im Deutschen Bundestag am 28. Juni 1995: »Es ist nicht Sache des Staates, zu entscheiden, wann das Leben des Menschen endet, ob der Hirntote schon ein Toter oder noch ein Sterbender ist.« Und später heißt es: »Dem Staat ist wegen der Verfassung verwehrt, menschliches Leben zu bewerten und je nach dem Ausgang der Bewertung das Grundrecht des einen dem Grundrecht des anderen zu opfern.53 Der Staat verpflichtet sich vielmehr zum Schutz der Persönlichkeit umso intensiver, je geringer der zeitliche Abstand zum Todeszeitpunkt ist. Denn der Patient vermag sich nicht mehr zu wehren.« In Deutschland wurde während des Gesetzgebungsverfahrens 1995/96 ausführlich debattiert und auch berichtet. In Harvard, USA, war es 1968 ad hoc in Fragen der Todesdefinition zu einer schnellen Lösung gekommen.

Unbeschadet dieser Einwände verabschiedete am 25. Juni 1997 der Deutsche Bundestag mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit ein Transplantationsgesetz54, das die Entnahme und Verpflanzung von Organen regelt, umfassende Bestimmungen zur Organvermittlung enthält und ein Verbot des Organhandels. Mit der Verabschiedung des Gesetzes und der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten Roman Herzog am 5. November 1997 wurde nun eine medizinische Praxis legitimiert, die weder das deutsche Straf- noch das Verfassungsrecht rechtfertigt. Die normative Kraft des Faktischen hatte gesiegt.

Wenn man nun in Deutschland das Kleingedruckte auf der Rückseite eines Organspendeausweises liest, fällt zumindest kritischen Leserinnen und Lesern auf, dass etwas nicht stimmen kann. Dort ist nicht mehr von einem sogenannten »Hirntod« die Rede, sondern vom wirklichen Tod des Menschen. Das ist ebenso falsch wie irreführend. Denn ein sogenannter irreversibel hirngeschädigter Mensch ist ein wehrloser sterbender Patient und nicht bereits ein Verstorbener.

USA: Der Report des Ad Hoc Commitee

In den USA wurden ethische Barrieren viel früher übersprungen und auch rechtliche Tabus gebrochen. Die normative Kraft des Faktischen – viele Herzen waren bereits transplantiert – forderte eine standesrechtliche Regelung, damit Ärzte straffrei bleiben, wenn sie durch Explantationen komatöse Patienten töten. Den Ausweg aus dem rechtlichen Dilemma fanden acht Monate nach der ersten Herzverpflanzung Dienstleistende aus Philosophie, Theologie und Medizin der Harvard Medical School, USA. Der Report des Ad Hoc Commitee war weltweit meinungsbildend. Der Begriff »ad hoc«, d. h. eigens zu diesem Zweck, bedeutet im englischen Umgangssprachgebrauch auch so viel wie »auf die Schnelle, oberflächlich, ohne zu vertiefen«. In dem Report von 1968 wird empfohlen, sterbende Patienten mit schlagendem Herzen explizit im Interesse der Transplantationsmedizin, für tot zu erklären. Pragmatisch heißt es gleich im ersten Satz:

»Unsere primäre Absicht ist, das irreversible Koma als neues Todeskriterium zu definieren. Es gibt zwei Gründe für die Notwendigkeit einer Definition:

1. Fortschritte der wiederbelebenden und unterstützenden Maßnahmen haben zu verstärkten Bemühungen geführt, diejenigen zu retten, die hoffnungslos verletzt sind. Manchmal haben diese Bemühungen nur einen teilweisen Erfolg, so dass das Ergebnis ein Individuum ist, dessen Herz fortgesetzt schlägt, während das Gehirn irreversibel geschädigt ist. Die Bürde ist groß für die Patienten, die einen permanenten Verlust ihres Intellekts erleiden, ebenso für ihre Familien, für die Krankenhäuser und für diejenigen, die Krankenhausbetten benötigen, die schon von diesen komatösen Patienten belegt sind.

2. Obsolete Kriterien zur Definition des Todes können zu Kontroversen bei der Beschaffung von Organen für Transplantationen führen.«

Seit dieser Zeit dient das »Hirntod«-Konzept als Scheinlegitimation für das Töten sterbender Menschen durch den Akt der Organentnahme. Weder das Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School in den USA noch die Bundesärztekammer in Deutschland konnten ihre Hypothese, der »Hirntod« sei der Tod des Menschen, bis heute wissenschaftlich begründen. Dennoch übernahm auch die Rechtslehre die interessengesteuerte Argumentation der Transplantationsmedizin. Im Jahre 1968 verabschiedeten die USA auch ein einheitliches Gesetz zur Organspende (Uniform Anatomical Gift Act). Die Harvard-Kriterien verlangten zunächst allerdings »totere Tote« im Verhältnis zu den heute gültigen Todeskriterien. Vier Merkmale zur Feststellung des Hirntodes wurden festgelegt: (1) keine Rezeptivität und Reaktivität, (2) keine spontanen Bewegungen und Atmung, (3) keine Reflexe und (4) flaches Elektroenzephalogramm (EG).55 Hirntote sollten also zu keiner einzigen Bewegung mehr fähig sein dürfen. Insofern ist es irreführend, wenn sich die Bundesärztekammer auf den Harvard-Report beruft. Das Ausbleiben aller Reflexe war 1968 zunächstein zentrales Todeskriterium, da das Rückenmark nach dieser Definition morphologisch zum Gehirn gezählt wurde. Weil die strenge Regelung das erwartete Aufkommen potenzieller »Organspender« negativ beeinflusste, verabschiedete man sich von den Kriterien noch im selben Jahr.

Heute gelten insgesamt bis zu 17 mögliche Bewegungen beim Mann und 14 bei der Frau als mit dem Status einer Leiche vereinbar.6 Schweden, Dänemark, Polen, Deutschland und Italien waren die letzten europäischen Länder, deren Bevölkerung, aber auch ein großer Teil der Mediziner, Juristen und Theologen, sich dem Hirntod-Diktat widersetzten.

Wer hat das Urheberrecht an dem Hirntod-Konzept?

In »Der entseelte Patient« (Berlin 2004) schreibt die Kulturwissenschaftlerin Prof. Dr. Anna Bergmann:

»An dem Durchbruch dieser Todesdefinition war maßgeblich der deutsche Neurochirurg Wilhelm Tönnis (1898 – 1978) beteiligt. Seit 1937 leitete er in Berlin die Abteilung für Tumorforschung und experimentelle Pathologie des Kaiser-Wilhelm-Instituts. In seiner Funktion als beratender Neurochirurg beim Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe war seine Forschung in die medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus eingebettet. In den sechziger Jahren arbeitete Tönnis in der Bundesrepublik Deutschland als Direktor der Abteilung für Tumorforschung und experimentelle Pathologie des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung an der Wiederbelebbarkeit von hirnverletzten Patienten. Die 1963 von ihm und seinem Mitarbeiter Reinhold A. Frohwein aufgestellten Kriterien für einen Behandlungsabbruch bzw. den »cerebralen Tod« eines an der Lungenmaschine noch beatmeten Komapatienten wurden, wie Gesa Lindemann herausgearbeitet hat, für die Durchsetzung des heute gültigen Hirntodkonzepts bedeutsamer als alle neurophysiologischen Beweisführungen amerikanischer Hirnforscher zusammen. (…) Diese Forschungen ebneten den Weg für den Eintritt in eine neue experimentelle Phase der Transplantationsmedizin, deren Gelingen durch die Verwendung von Organen aus einem lebenden Körper erfolgversprechender erschien als bisherige Verpflanzungsversuche mit Herztodleichen.«56

 

Die Literatur der Transplantationsmedizin gesteht anderen Medizinern das Erstgeburtsrecht zu. Die französischen Wissenschaftler Pierre Mollaret (1898 – 1987) und Michael Goulon prägten vier Jahre zuvor, 1959, den Begriff »coma depassé (endgültiges Koma). Sie bezeichneten damit den irreversiblen Ausfall der Hirntätigkeit. Erst mit der Einführung der künstlichen Langzeitbeatmung konnte der Zustand coma depassé beobachtet werden. Die Autoren setzten coma depassé allerdings nicht mit dem Tod des Menschen gleich, geschweige denn, dass sie einen Zusammenhang mit der Transplantationsmedizin sahen. Vor der Erfindung der Herz-Lungen-Maschine im Jahr 1952 galt der irreversible Kreislaufstillstand als Kriterium des Todes.

WANN IST DER MENSCH WIRKLICH TOT?

»Es ist nicht Sache des Staates, zu entscheiden, wann das Leben des Menschen endet, ob der Hirntote schon ein Toter oder noch ein Sterbender ist. (…) Dem Staat ist wegen der Verfassung verwehrt, menschliches Leben zu bewerten und je nach dem Ausgang der Bewertung das Grundrecht des einen dem Grundrecht des anderen zu opfern. Der Staat verpflichtet sich vielmehr zum Schutz der Persönlichkeit umso intensiver, je geringer der zeitliche Abstand zum Todeszeitpunkt ist. Denn der Patient vermag sich nicht mehr zu wehren.«

Professor Dr. jur. Hans-Ullrich Gallwas (Staatsrechtler in München). Stellungnahme zur Anhörung des Gesundheitsausschusses im Deutschen Bundestag am 28. Juni 1995, Protokoll Nr. 17, S. 8/9.

»Wir müssen mindestens auf Zeit damit leben, dass wir uns im Einzelfall durch einen Widerspruch gegen diese moderne Form des Kannibalismus wehren können.«

Prof. Dr. jur. Hans-Ullrich Gallwas, Schreiben vom 22. 10. 1997 an Richard Fuchs. Zitiert mit freundlicher Genehmigung des Absenders.

Während auf der einen Seite aktive Sterbehilfe im Gewand eines humanitären Aktes als Kostendämpfungsmaßnahme gehandelt wird, gelten Sterbende andererseits als begehrte Ressource für verwertbare Körperteile – Organe, Gewebe, Knochen, Haut, Zellen. Um Ärzten eine strafrechtliche Verfolgung zu ersparen, wenn sie einem noch lebenden Patienten Körperteile entnehmen, gilt nun in vielen Ländern gesetzlich geregelt der Hirntod als Tod des Menschen, wobei die Diagnose – so paradox es klingen mag – an einem noch lebenden Patienten vorgenommen wird. Bevor der Hirntod als Position auf dem Totenschein zu finden war, konnten Ärzte sichere Todeszeichen zuverlässig bestimmen. Schon vor einer Weile wurde der Tod des Menschen so beschrieben, wie im Brockhaus von 1924: »Tod, der vollständige Stillstand der Herztätigkeit, der Atmung, des Kreislaufs und aller damit zusammenhängenden Lebensprozesse eines Organismus, erfolgt durch Altersschwäche (Marasmus), durch Krankheit oder gewaltsame äußere Einflüsse.« Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, wurden Verstorbene drei Tage aufgebahrt bis auch durch äußere sichere Todeszeichen wie Totenstarre, Totenflecke, Fäulnis, erkennbar war, dass ein Mensch wirklich verstorben ist. Der junge Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762 – 1836) in Weimar forderte den Bau von Leichenhäusern, in denen die Verwesung scheinbar Toter abgewartet werden müsse. Auf sein Drängen hin wurde 1792 in Weimar das erste Leichenhaus in Deutschland gebaut.

Es heißt zwar, »nichts ist so sicher wie der Tod«, dennoch haben bange Zweifel im kollektiven Unterbewusstsein überlebt, bevor man auf diese totsichere Art den Tod feststellte. Sie sind auch durch Märchen und Legenden dokumentiert, wie der Mordfall Schneewittchen. Von der Stiefmutter ermordet, war sie dreimal klinisch tot und am Ende doch wieder zum Leben erweckt worden. Unterschwellige Ängste erhielten frische Nahrung, als der französische Arzt Jacpuès-Jean Bruhier d’Ablaincourt 1742 eine 500 Seiten starke Dissertation über »Die Unsicherheit der Kennzeichen des Todes« veröffentlichte. Er listete darin zahlreiche ungewöhnlicher Vorfälle auf. Als das Buch 1754 auf Deutsch erschien, löste es in akademischen Kreisen heftige Diskussionen über den Scheintod aus.

Im 19. Jahrhundert gab es in Frankreich – wie die Autorin: Zaria Gorvett schreibt57 – 30 Theorien, wie man feststellen konnte, dass jemand gestorben war – einschließlich der Methode, dass man ihre Brustwarzen quetschte oder Blutegel an ihrem Fuß ansetzte. Anderenorts waren die zuverlässigsten Methoden, den Namen des Patienten laut zu rufen. Wenn der Patient auf diese Rufe dreimal nicht reagierte, galt er als tot. Eine weitere Methode: Man hielt einen Spiegel unter die Nase, um feststellen zu können, ob der Spiegel beschlug.

Wirklich überzeugt war die etablierte Medizin von keiner dieser Methoden. Im Jahr 1846 initiierte die »Akademie der Wissenschaften« in Paris einen Wettbewerb, in dem es darum ging, wer »die beste Methode fand, wie man Anzeichen des nahenden Todes erkennen und vorzeitige Beerdigungen vermeiden könne. Ein junger Arzt versuchte sein Glück. Eugène Bouchut (1818 – 1891) fand heraus, dass ein Mensch dann mit Sicherheit tot ist, wenn sein Herz aufgehört hat zu schlagen. Er machte den Vorschlag, das neu erfundene Stethoskop einzusetzen, um den Herzschlag abzuhören – wenn der Arzt innerhalb von zwei Minuten nichts hörte, dann konnten die Menschen ohne Bedenken beerdigt werden. Der Titel seines 1848 gehaltenen preisgekrönten Vortrags: »Zeichen des Todes und auf welchen Weise man verhindern kann lebendig begraben zu werden.«

Er gewann diesen Wettbewerb, und seine Definition des »klinischen Todes« hielt dauerhaft, wurde schließlich unsterblich in Filmen und Büchern und gehörte zum Allgemeinwissen. »Man brauchte nicht viel zu machen, darum konnte im Grunde jeder einen Menschen ansehen, seinen Puls fühlen und dann entscheiden, ob er tot oder lebendig war«, sagt Robert Veatch vom »Kennedy Institute of Ethics«. Heute aber machen Mediziner geltend, dass man an Herz-Kreislauf verstorben Menschen nicht selten reanimieren kann.

Eine zufällige Entdeckung in den 1920er Jahren machte die Todesfeststellung wieder komplizierter. Ein Elektro-Ingenieur aus Brooklyn, New York, hatte nachgeforscht, warum Menschen sterben, wenn sie einen Stromschlag erlitten haben – und stellte sich die Frage, ob ein geeigneter Stromschlag sie auch wieder ins Leben bringen könnte. William Kouvenhoven verbrachte die nächsten 50 Jahre seines Lebens mit der Suche nach einer Möglichkeit, wie man das schaffen könnte, eine Arbeit, die schließlich zur Erfindung des Defibrillators führte. Dies war die erste von einer großen Zahl von revolutionären neuen Techniken, wozu auch künstliche Beatmung und künstliche Ernährung gehörten, Katheter und Dialyse-Geräte. Zum ersten Mal konnte man trotz nachlassender oder eingeschränkter Körperfunktionen das Leben verlängern. Unser Todesverständnis wurde unsicherer, auch durch die Erfindung des EEG – das eingesetzt werden kann, um Hirnaktivität festzustellen.

Seit den 50er Jahren entdeckten Mediziner weltweit, dass einige ihrer Patienten, die sie vorher nur für komatös gehalten hatten, in Wahrheit überhaupt keine Hirnaktivität mehr aufwiesen. In Frankreich wurde dieser mysteriöse Zustand als »Coma dépasse« bezeichnet, was wörtlich einen Zustand jenseits des Komas bedeutet. Man hatte die »Leiche mit schlagendem Herzen« (beating-heart cadaver) entdeckt, Menschen, deren Körper lebten, obwohl ihre Gehirne tot waren.

Nun gab es eine völlig neue Gruppe von Patienten, eine, die 5.000 Jahre der Medizinpraxis einfach wegwischte, die aber auch neue Fragen aufwarf darüber, wie man nun den Tod feststellen kann, und die einige komplexe philosophische, ethische und juristische Probleme mit sich brachte. »Es geht hin und her, wie man diese Menschen bezeichnen sollte, aber ich denke, »Patient« ist der zutreffende Begriff«, sagt Eelco Wijdicks, Neurologe aus Rochester, Minnesota. Diese Leichen mit schlagendem Herzen sollten nicht mit anderen Arten von bewusstlosen Patienten verwechselt werden, wie z. B. mit solchen im Koma. Obwohl diese nicht aufstehen können und auf die Nennung ihres Namens nicht reagieren, weisen sie immer noch Hirnaktivität auf, und sie haben Schlaf- und (nicht-reaktive) Wachphasen. Ein Patient im Koma kann sich möglicherweise vollständig erholen.

Ein anhaltender vegetativer Zustand ist eindeutig schwerwiegender – bei diesen Patienten ist das Großhirn auf Dauer und unumkehrbar beschädigt – aber obwohl sie niemals wieder zu Bewusstsein kommen werden, sind sie nicht tot. Um als »Leiche« mit schlagendem Herzen zu gelten, muss allerdings das gesamte Gehirn abgestorben sein. Das schließt das »Stammhirn« ein, die primitive, schlauchförmige Masse am untersten Teil des Gehirns, die die lebenswichtigen körperlichen Funktionen kontrolliert, wie z. B. die Atmung. Aber etwas verwirrend ist, dass unsere anderen Organe nicht so betroffen sind vom Tod ihres »Headquarters«, wie man vermuten könnte. Alan Shewmon, Neurologe vom UCLA und ausgesprochener Kritiker der Hirntod-Definition, hat 175 Fälle dokumentiert, in denen die Körper der Patienten über mehr als eine Woche überlebt haben, nachdem der Mensch gestorben war. In einigen Fällen schlugen ihre Herzen weiter und funktionierten noch 14 Jahre – bei einer »Leiche« dauerte dieses Nachleben noch zwei Jahrzehnte.

Wie ist das möglich? Tatsächlich gibt es biologisch gesehen keinen bestimmten Moment des Todes; jeder Tod ist in Wahrheit die Folge von einer Reihe von kleinen Toden, wobei die unterschiedlichen Gewebe zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausfallen. Ist die Todesdefinition im Grunde eine religiöse oder philosophische Frage und nicht eine medizinisch/juristisch. Jahrhundertelang haben Soldaten, Schlachter und Henker beobachtet, wie bestimmte Teile des Körpers weiterzucken nach der Enthauptung oder Zerstückelung. Schon lange vor dem Einsatz von lebenserhaltenden Maßnahmen berichteten Ärzte im 19. Jahrhundert von Patienten, deren Herzen noch stundenlang weiterschlugen, nachdem ihre Atmung ausgesetzt hatte. Bei dem Leben-Tod-Kontinuum ist bekannt, dass die Haut und die Stammhirn-Zellen noch mehrere Tage überleben, nachdem der Mensch gestorben ist. Man hat lebende Muskelzellen in Leichen gefunden, die schon seit zweieinhalb Wochen tot waren. Sogar unsere Gene leben noch lange weiter nach unserem letzten Atemzug. Anfang dieses Jahres (2016) haben Wissenschaftler tausende Gene entdeckt, die noch Tage nach dem Tod aktiviert werden können, einschließlich derjenigen Gene, die an Entzündungen beteiligt sind, welche gegen Stress-Symptome wirken. Hirntote mit schlagendem Herzen können nur wegen dieses stückweisen Ausfalls existieren. Was uns zu dem ewigen medizinischen Problem zurückführt: Wenn das Herz noch schlägt, wie können Ärzte dann sagen, man sei tot?

Heute sind die Grenzen zwischen Leben und Tod fließend geworden.

Tot ist nicht mehr nur die Leiche mit sinnlich erfahrbaren sicheren Todeszeichen, sondern bereits der Mensch, der zuvor definitorisch – mitunter z. B. zum Nutzen Dritter – für tot erklärt worden ist. Heute offerieren Ärzte, je nach Interessenlage, verschiedene Todesdefinitionen. Ein noch lebender Patient gilt beispielsweise während seines Sterbeprozesses, wenn er die Kriterien des »Hirntodes« erfüllt, schon als Leiche, obwohl er auf der Intensivstation gepflegt wird, noch warm und durchblutet ist.

Ärztliches Handeln steht in einem engen rechtlichen Zusammenhang mit neueren Definitionen des Todes. Denn die Möglichkeiten der Intensivmedizin, gestörte Vitalfunktionen, insbesondere Atmung und Kreislauf, über einen längeren Zeitraum künstlich unterstützen zu können, hat zu der Auffassung geführt, den Todesbegriff neu definieren zu müssen und zu können. Nicht mehr der Stillstand von Herzschlag und Atmung soll nun mit dem Individualtod gleichgesetzt werden, sondern der »Partialtod« (des Gehirns), das Absterben von einzelnen Organen, das mittelbar oder unmittelbar den Verlust des Bewusstseins und den Untergang aller übrigen Organe und Zellverbände zur Folge hat. Für diese Phase wird darüber hinaus auch der Begriff »Individualtod« oder »Organtod« gebraucht.58 Eine Phase funktionellen Stillstands von Herztätigkeit und Atmung, während derer eine Wiederbelebung grundsätzlich noch möglich erscheint, wird als »klinischer Tod« bezeichnet.

 

In beiden Fällen ist der Sterbeprozess noch nicht abgeschlossen. Der wirkliche Tod tritt erst ein, wenn nach einer nicht genau definierten Zeit von etwa acht oder auch mehr Minuten nach Eintritt des Herz-/ Kreislauf-Todes der sauerstoffmangelbedingte Hirntod festgestellt ist, oder wenn nach Abstellen der Beatmung bei einem »Hirntoten« nach etwa 30-minütigem Kreislaufstillstand der Partialtod des Herzens eingetreten ist. Darum bezeichnet man den Untergang sämtlicher Organe und Zellverbände, der durch den definitiven Ausfall aller Stoffwechselvorgänge gekennzeichnet wird, als »Totaltod«.59

Während der klinische Tod heute weder aus rechtlicher noch aus medizinischer Sicht als Ende des menschlichen Lebens, als »Tod an sich« gewertet wird, gilt der Partialtod des Gehirns bereits, wie es im Totenschein NRW heißt, als »sicheres Todeszeichen«. Bevor sich der »Hirntod« dort etabliert hat, waren in dieser Rubrik nur Indizien wie Totenstarre, Totenflecke und Fäulnis zu finden. Mit der rechtlichen Sanktionierung des Zugriffs auf »hirntote« Patienten für die Transplantationsmedizin wurde eine Schwelle überschritten, die auf lange Sicht weitere Grundrechtsverletzungen befürchten lässt.

Die Beantwortung der Frage, »Wann ist der Mensch tot«?60 füllt inzwischen zahlreiche Bücher. Denn mit der Entwicklung der Intensivmedizin auf der einen Seite und dem Zugriff auf das »Ersatzteillager Mensch«61 auf der anderen Seite sind Unsicherheiten entstanden, auch im Zusammenhang mit anderen Fragen, wie: Dürfen Ärzte alles, was medizintechnisch machbar ist? Wo liegen die Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht? Wie entscheiden Ärzte in einem Pflichtenkonflikt, wenn sie am Anfang oder Ende des Lebens zu Nutzen oder Lasten eines Menschen oder eines ungeborenen Lebens entscheiden sollen?

In Zeiten explodierender Biotechnologie, -medizin und Reprogenetik stellt sich immer wieder die Frage nach dem Erlaubtsein des Machbaren. Die biologisch-medizinische Grenze der Intensivmedizin ist da erreicht, wo ein schwerkranker Patient zum Sterbenden wird. Das war traditionell der Zeitpunkt für den Rückzug der Ärzte. Diese Grenze ist heute nicht immer zu erkennen, und sie wird, wenn es um die Vernutzung des Sterbenden geht, auch nicht mehr respektiert. Nicht immer zu erkennen ist auch, ob, wann und unter welchen Umständen es Sinn macht, Menschen nach plötzlichem Herzkreislaufstillstand zu reanimieren. Das Resultat verfehlter oder halbherziger Reanimationen sind oftmals »hirntote« Menschen oder Patienten im apallischen Syndrom, sog. Wachkomapatienten.

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