Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung

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In der Behindertenhilfe setzt sich die Bezeichnung Menschen mit Komplexer Behinderung (Fornefeld 2008, 11) sowie schwerste Behinderung durch.

Die folgende Zusammenstellung zeigt die Vielfalt der Sichtweisen und Beschreibungen der Personengruppe auf und verdeutlicht, dass die jeweiligen Definitionen in Abhängigkeit von der Perspektive des Betrachters bzw. Autors stehen (Kap.1.3).

Vielfältige Sichtweisen und Beschreibungen von schwerster Behinderung

„Schwerstbehindert nennen wir ein Kind, wenn es absehbar nicht in der Lage sein wird, die vergleichbaren Leistungen eines gesunden Säuglings von 6 Monaten zu erreichen“ (Fröhlich 1978, 43).

„Menschen mit schwerster geistiger Behinderung benötigen bei der Selbstversorgung und im Alltag immer fremde Hilfe, obwohl sie einige Teilfähigkeiten besitzen können. Sie können i. d. R. nicht sprechen und verstehen nur Aufforderungen und Anweisungen. Problematische Verhaltensweisen, wie z. B. Selbst- / Fremdverletzung, Schreien, Stereotypien treten gehäuft auf. Soziale Kontakte zu anderen Menschen und das Mitteilen von Gefühlen und Bedürfnissen können nur aufgrund individueller Zuwendung und dauerhafter Beziehung erfolgen. Es besteht erhöhter Versorgungsbedarf“ (Holtz / Nassal 1999, 92).

1. „ Menschen mit schwersten Entwicklungsbeeinträchtigungen benötigen eine besondere Pflege und eine spezielle Förderung. Diese sollen ihnen erlauben, möglichst wenig Schmerzen zu erleiden, Angst zu vermeiden und Zufriedenheit zu empfinden.

2. Unmittelbarer Kontakt zu beruflichen und persönlichen Bezugspersonen soll aufgebaut und ermöglicht werden.

3. Sie sind in ihrer Männlichkeit oder Weiblichkeit als Individuen zu berücksichtigen.

4. Die eigene Geschichte, die Berücksichtigung von Vorleben und Abneigungen fördern den Respekt der Bezugspersonen; ihr Bedürfnis nach Intimität und Rückzug verlangt Anerkennung.

5. Sie müssen in ihrer eigenen ‚Sprache‘ angesprochen werden, d. h. Nähe und Berührung finden Eingang in den Pflege- und Förderprozeß.

6. Krankheitsbilder und Behinderungsarten stehen nicht mehr im Vordergrund; ebenso wenig darf eine Orientierung am Durchschnitt bzw. an festgelegten Normen das Handeln der Pflegenden und Fördernden primär bestimmen“ (Fröhlich et al. 1997, 12f.)

„Von Menschen mit Komplexer Behinderung spricht man, wenn deren Lebenswirklichkeit durch einen Großteil der folgenden Kriterien bestimmt ist: Sie

• bringen ihre eigenen Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse wie ihre Ansprüche unzureichend zum Ausdruck.

• verfügen meist über keine Verbalsprache.

• sind in besonderem Maße von der Zuwendung der Bezugsperson abhängig.

• sind in der Einrichtung häufig mit unqualifiziertem Personal und unprofessionellem Verhalten konfrontiert.

• zeigen abweichendes, aggressives oder selbstverletzendes Verhalten, was zum Ausschlusskriterium wird.

• werden der Rolle des Störers zugewiesen, die die eigene Identität beeinflusst.

• machen im Laufe ihres Lebens verstärkt Erfahrungen des ‚Scheiterns‘ sowie des Abbruchs sozialer Beziehungen.

• sind häufig wechselnden und nicht koordinierten medizinischtherapeutischen und pädagogisch-psychologischen Interventionen ausgesetzt.

• sind in besonderem Maße der Gefahr ausgesetzt, als Pflegefälle abgestempelt und aus der Behindertenhilfe (Eingliederungshilfe) ausgeschlossen zu werden.

• sind in Einrichtungen häufig Gewalterfahrungen ausgesetzt.

• bilden eine heterogene Gruppe mit gleichen Exklusionserfahrungen“ (Fornefeld 2008, 58).

Zusammenfassung

Zusammenfassend kann gesagt werden: Menschen mit schwersten Behinderungen unterscheiden sich von Menschen mit geistiger Behinderung dadurch, dass sie – neben der geistigen Beeinträchtigung – weitere Beeinträchtigungen in Bereichen wie Motorik, Kommunikation etc. aufweisen. Diese Komplexität der Beeinträchtigung lässt langfristige umfassende Begleitung und Unterstützung notwendig werden und erschwert die gesellschaftliche Partizipation erheblich.

3.2.2 Aktuelle Förderkonzepte

In Tabelle 8 werden aktuelle Förderkonzepte für Menschen mit schwersten Behinderungen vorgestellt. Dabei werden jeweils die von den Autoren genannte Zielgruppe, die Ziele (falls spezifisch genannt), die theoretische Grundlagen und die praktische Anwendung skizziert.

Tab. 8: Förderkonzepte für Menschen mit schwersten Behinderungen


Basale Stimulation
Entstehung:Andreas Fröhlich (1977) / Sonderpädagoge; erstes Konzept zur Arbeit im Unterricht mit schwersten Behinderungen
Zielgruppe:
Ziele:Vermittlung primärer Körper-, Bewegungs- und Alltagserfahrungen; Aufbau von sozialen Beziehungen; Förderung der Kommunikation in Alltagssituationen
Theoretische Grundlagen:
Praktische Anwendung:Stimulation als Aktivität des / der PädagogIn / TherapeutIn, die dem Kind Anreize geben soll, sich mit sich und der Umwelt zu beschäftigen(Fröhlich 2004, 149);Anwendung zunächst in drei Grundbereichen, die an pränatale Erfahrungen anknüpft: somatische Stimulation: Wahrnehmung der Haut als Begrenzung des Körpers zur Umwelt vibratorische Stimulation: Wahrnehmung von Schwingungen vestibuläre Stimulation: Wahrnehmung von Gleichgewichtdarauf aufbauend: visuelle Stimulation auditive Stimulation gustatorische Stimulation olfaktorische Stimulation Kommunikation und Selbstorganisation – mimisch-stimmliche Zuwendung, Lautimitation etc.


Basale Kommunikation
Entstehung:Winfried Mall (1978) / Heilpädagoge
Zielgruppe:Menschen mit schwersten Behinderungen, autistischem Verhalten, Demenz, Wachkoma
Ziele:Herstellung einer kommunikativen Situation bei Personen mit eingeschränkter Kommunikation
Theoretische Grundlagen:Kommunikationstheorie Watzlawick; Funktionelle Entspannung nach Fuchs; Integrative Gestalttherapie nach van Vugt / Beesens
Praktische Anwendung:


Basale Aktivierung
Entstehung:Manfred Breitinger / Dieter Fischer (1980) / Pädagogen
Zielgruppe:
Ziele:Herstellung einer Basis, von der aus für jede / n SchülerIn individuelle, weiterführende Ziele umgesetzt werden können(Breitinger / Fischer 1993, 160f.);Verbesserung der individuellen Lebenssituation und Identitätsstiftung durch Aktivierung
Theoretische Grundlagen:Lerntheorie: Aktivität als Voraussetzung für Lernen
Praktische Anwendung:Orientierung des Unterrichtsgeschehens an lebensbedeutsamen Inhalten und Zielen; Berücksichtigung der Prinzipien: Komplexität und Mehrschichtigkeit der Ziele, Wiederholung und Stetigkeit des Lernangebots, Offenheit der Lernwege, Vielfalt der Interaktionsmöglichkeiten


Entstehung:Jean Ayres (1972), Ergotherapeutin / Psychologin (USA)
Zielgruppe:ursprünglich: Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsverzögerungen und Lernstörungen, mit Lese- und Rechtschreibschwäche, Aufmerksamkeitsstörungen, Teilleistungs-, Lern- und Verhaltensstörungen;heute auch: Kinder und Jugendliche mit geistiger und mehrfacher Behinderung
Ziele:Modifizierung von neurologischen Dysfunktionen; Entwicklung von Bewegungskompetenz; Förderung der Freude an Bewegung
Theoretische Grundlagen:sensomotorische Entwicklung nach Piaget; psychologische Lerntheorien
Praktische Anwendung:Schaffen und Dosieren von Sinnesreizen, um spontane Anpassungsreaktionen des Kindes zu erlangen; Basistherapie: Vestibuläre Wahrnehmung, Propriozeptive Wahrnehmung, Taktile Wahrnehmung Individualtherapie: Ansetzen an entwicklungsmäßig frühester Störung


Sensorische Kooperation
Entstehung:Wolfgang Praschak (1975) / Sonderpädagoge
Zielgruppe:SchülerInnen mit schwersten Behinderungen
Ziele:Optimierung der sensomotorischen Handlungsfähigkeit; Finden von Handlungsmöglichkeiten, um SchülerInnen ein Leben in eigener Verantwortung und sozialer Wertschätzung zu ermöglichen
sensomotorische Entwicklung nach Piaget; kooperative Pädagogik
Praktische Anwendung:Anleitung der / des Schülers / in zur Eigenaktivität, z. B. bei Beteiligung an Schulritualen, Essen, Trinken, Ankleiden


Förderpflege
Entstehung:Uta und Jürgen Trogisch (1971), KinderärztInnen (DDR)
Zielgruppe:nichtschulpflichtige, sogenannte förderungsunfähige Kinder in der ehemaligen DDR
Ziele:Erreichung der Förderungs(schul)fähigkeit; selbstständiges Essen und Trinken; Körperhygiene; soziale Regeln; Herstellen emotionaler Kontakte; Beziehungsaufbau
Theoretische Grundlagen:Säuglings- und Kleinkindpädagogik; Deprivationsforschung
Praktische Anwendung:Ermöglichung der aktiven Mitarbeit der / des Schülers / in bei Alltagsaktivitäten, z. B. Toilettengang, Ernährung, An- und Ausziehen


Bobath-Konzept
Entstehung:Berta und Karel Bobath (1940) / Physiotherapeuten
Zielgruppe:ursprünglich: PatientenInnen mit cerebralen Bewegungsstörungen;heute auch: PatientenInnen mit neurologischen Störungen, Schlaganfall, neurologischen Erkrankungen, sensomotorischen Entwicklungsverzögerungen, kognitiven Beeinträchtigungen
Ziele:Normalisierung von Haltungs- und Bewegungsmustern; Vermitteln normaler Tonusverhältnisse zur Erweiterung funktioneller Fähigkeiten und Selbstständigkeit
Theoretische Grundlagen:neurophysiologische Bewegungstherapie
Praktische Anwendung:Aktivierung von Wachheit und Aufmerksamkeit; Wahrnehmungsübungen in funktionellen Situationen


Vojta-Konzept
Entstehung:Vaclav Vojta (1950) / Neurologe
Zielgruppe:ursprünglich: Kinder mit Cerebralparese; heute auch: Störungen der Koordination, Haltung und Bewegung
Ziele:Behandlung von Spastiken als funktionelle Blockaden; Beeinflussung von motorischen Abläufen
Theoretische Grundlagen:physiotherapeutische Behandlung auf neurophysiologischer Grundlage
Praktische Anwendung:Auslösung von Bewegungsmustern an Zonen am Körper, Armen und Beinen durch Druckausübung auf diese Körperstellen; Reizungen führen zu Bewegungskomplexen


Snoezelen
Entstehung:Jan Hulsegge / Ad Verheul (1970), Zivildienstleistende (Niederlande)Begriff: Kombination aus „snuffelen“ und „doezelen“ (dösen / schlummern)
ursprünglich: Menschen mit schwersten Behinderungen, insbesondere HeimbewohnerInnen; heute auch: Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen
Ziele:Schaffung eines Freizeitangebotes; Erleben anderer Räumlichkeiten; Sammeln von Erfahrungen
Theoretische Grundlagen:zweckfreie/ungebundene Freizeitgestaltung ohne grundlegende Theorie
Praktische Anwendung:Einrichtung eines Snoezelen-Raumes Materialien: Wasserbett, Bällchenbad, Tastobjekte, Vibrationseinrichtungen, Riechobjekte, Klang- und Geräuschobjekte etc.


Geführte Interaktion
Entstehung:Félice Affolter (1980) / Psychologin
Zielgruppe:ursprünglich: Menschen mit schwersten Behinderungen;heute: Menschen mit taktil-kinästhetischen Wahrnehmungsstörungen; Kinder mit Lern- und Verhaltensstörungen sowie Schwierigkeiten im Lesen und Rechnen
Ziele:Vermittlung und Verinnerlichung von Spürerfahrungen im Umgang mit realen Gegenständen; Einüben und Erlernen von Bewegungsabläufen
Theoretische Grundlagen:Entwicklungspsychologie Piagets
Praktische Anwendung:Führen von Händen und Körperteilen in Alltagssituationen


Taktile Gebärden
Entstehung:Blinden- und Taubblindenpädagogik (Pittroff 2005)
Zielgruppe:Menschen mit Taubblindheit, Menschen mit komplexer Behinderung
Ziele:Aufbau von gemeinsamen Vokabular von fühlbaren Symbolen zur Ermöglichung von Kommunikation
Theoretische Grundlagen:keine
Praktische Anwendung:Beobachten des schwerbehinderten Kindes zur Feststellung von Reaktionen auf bestimmte Situationen; Zurückspiegelung der Bewegung durch gemeinsame Bewegungen; Suchen von Bewegungen, die als Aufforderung, z. B. nach Essen, Trinken verstanden werden können, Bewegung wird zum Symbol


Der „Kleine Raum“
Entstehung:Lilli Nielsen (2001)
Zielgruppe:Kinder mit komplexer Behinderung
Ziele:Erfahrbarmachung von Selbstwirksamkeit
Theoretische Grundlagen:keine
Praktische Anwendung:Kinder werden für ca. 15 Minuten in eine Holzkiste gelegt; diese ist so konstruiert, dass an deren Decke Gegenstände befestigt werden, die das Kind heranziehen kann, z. B. angenehme, interessante, essbare Objekte. Da sie immer an der gleichen Stelle zu finden sind, wird gelernt, sie willkürlich zu berühren, zu bewegen, zu vergleichen etc.


Bernasconi, T., Böing, U. (2015): Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung. Kohlhammer, Stuttgart

 

Fornefeld, B. (2008): Menschen mit Komplexer Behinderung: Selbstverständnis und Aufgaben der Behindertenpädagogik. Ernst Reinhardt, München / Basel

Fröhlich, A., Heinen, N., Klauß, T., Lamers, W. (Hrsg.) (2011): Schwere und mehrfache Behinderung – interdisziplinär. Impulse: Schwere und mehrfache Behinderung. Band 1. Athena, Oberhausen

Neuhäuser, G. (2016): Syndrome bei Menschen mit geistiger Behinderung: Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen. 4. Aufl. Lebenshilfe-Verlag, Marburg


Übungsaufgaben zu Kapitel 3

Aufgabe 1

Skizzieren Sie relevante Aspekte eines der dargestellten Syndrome. Vertiefen Sie die Kenntnisse durch weiterführende Literatur.

Aufgabe 2

Recherchieren Sie im Internet, für welche der dargestellten Syndrome es Selbsthilfegruppen gibt.

4 Wandel der Leitideen in Bildung und Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung

„Die Nationalsozialisten haben der Bevölkerung vorgegaukelt, dass ihre behinderten Söhne und Töchter wegen ihrer Behinderung ein furchtbares Leben haben.

Und dass die zuständigen Fachleute sich etwas dafür einfallen lassen, damit diese Menschen sich dann nicht quälen müssen. Sterben war dann die Devise, damit das angebliche Leiden ein Ende hat, als ´ein schöner Tod`“ (Rüter 2008, 4).

Die Leitideen, die die Erziehung und Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung in Theorie und Praxis prägen, haben sich im Laufe der Geschichte der Geistigbehindertenpädagogik verändert. Leitideen werden in der Fachliteratur auch als Paradigmen bezeichnet.

Paradigmenwechsel

Das Ziel dieses Kapitels ist, den umfassend erfolgten Paradigmenwechsel aufzuzeigen. Bürli (1997) beschreibt die lange Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik als Reformbewegung von der Exklusion über die Segregation, Normalisierung und bis hin zur Integration. In Anlehnung an diese Beschreibung soll im Folgenden ein schlaglichtartiger Überblick (Abb.5) über die Geschichte der Geistigbehindertenpädagogik erfolgen, die durch die Aspekte der „Vernichtung“, „Teilhabe“ und „Inklusion“ ergänzt werden.


Abb. 5: Zeitstrahl

4.1 Exklusion

Altertum

In den zuerst beleuchteten geschichtlichen Phasen des Altertums, des Mittelalters und in der Neuzeit erfolgte eine stringente Exklusion der Menschen mit geistiger Behinderung. In den alten Hochkulturen (Sumerer, Babylonier, Ägypter, Römer, Griechen) wurden Kinder mit geistiger Behinderung getötet oder ausgesetzt (Merkens 1988).

Mittelalter

Auch im Mittelalter gab es weiterhin „keine Anerkennung ihres Lebensrechtes und ihrer Menschenwürde“ (Speck 1999, 11). Es herrschte die allgemeine Meinung vor, dass die Behinderung eine Strafe Gottes für Sünden der Vorfahren sei oder dass der Teufel die sogenannten Wechselbälger in die Wiegen gelegt hatte. Menschen mit geistiger Behinderung wurden gefoltert oder als Hexen verbrannt.

Neuzeit

Mit Beginn der Neuzeit erfuhren Menschen mit geistiger Behinderung weiterhin Ausgrenzung, die von Zurschaustellung bis hin zur Abschiebung in Aufbewahrungsanstalten reichte.

4.2 Segregation

Comenius

Ab dem 17. Jahrhundert beginnen sich mit Johann Amos Comenius (1592–1670) und Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) auch Pädagogen für die Bildbarkeit von Menschen mit geistiger Behinderung zu interessieren. Comenius, der in seiner „Didactica magna“ (1658) Didaktik als „vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren“ vorstellt, beschreibt damit schon vor 400 Jahren inklusive Ziele. Auch Pestalozzi forderte in dieser Zeit, dass alle Kinder entsprechend ihrer kognitiven Fähigkeiten unterrichtet werden.

Anstaltsgründungen

Mit Beginn der Industrialisierung erfolgten einige Anstaltsgründungen (Tab. 9) und zwar nicht nur aus pädagogischem Interesse. Bradl (1991) nennt als wesentliche Stränge dieser Anstaltsfürsorge den medizinisch-psychiatrischen, den religiös-caritativen und den heil- und hilfsschulpädagogischen Strang.

Tab. 9: Anstaltsgründungen (Fornefeld 2013, 32ff.)


NameOrt/JahreszahlGründung
Johann Heinrich PestalozziNeuhof 1777 / 78Armenanstalt für verwahrloste und „schwachsinnige“ Kinder
Edouard SéguinParis 1840„Idiotenschule“
Johann Jacob GuggenbühlInterlaken 1841Anstalt auf dem Abendberg
Carl Wilhelm SaegertBerlin 1845Heil- und Bildungsanstalt für Blödsinnige
Jan-Daniel Georgens, Heinrich DeinhardtBaden bei Wien 1854Heil- und Erziehungsanstalt Levana
Heinrich SengelmannHamburg 1863Alsterdorfer Anstalten
Friedrich von BodelschwinghBielefeld 1872Anstalt für Epileptiker

Hilfsschule

 

Ab 1880 wurden Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung, damals als „schwachsinnige“ SchülerInnen bezeichnet, innerhalb des Hilfsschulsystems in Sonderklassen, die an Volksschulen angegliedert wurden, unterrichtet (Thümmel 2003, 45). Da die SchülerInnen den Anforderungen der Hilfsschule nicht gerecht werden konnten, etablierten sich ab ca. 1910 für diese Zielgruppe sogenannte Vorbereitungs- und Sammelklassen. Erste eigenständige didaktische Konzeptionen für die „schwer schwachsinnigen“ SchülerInnen wurden verfasst.

Erster Zuspruch der Bildungsfähigkeit

Gegenüber der allgemeinen Hilfsschuldidaktik lagen die Unterschiede im Verzicht auf Kulturtechniken, die lebenspraktischen, musischen und handarbeitlichen Übungen (Fuchs 1917) wurden dagegen betont. Der Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung wurde erstmalig Bildungsfähigkeit und Unterrichtbarkeit mit dem Ziel des „Nutzens für die Allgemeinheit“ zugesprochen (Heller 1904, 54).

Weimarer Republik

In der Zeit der Weimarer Republik erfuhr die Heilpädagogik eine Aufbruchsstimmung, deren Realisierung durch die schlechte wirtschaftliche Lage oft nicht verwirklicht werden konnte (Ellger-Rüttgardt 2008, 214).

4.3 Vernichtung

NS-Zeit

Die dargestellten Initiativen zur Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung wurden in der Zeit des Nationalsozialismus, dem schwärzesten Kapitel in der Geschichte der Geistigbehindertenpädagogik, radikal und barbarisch beendet. Die Ideologie und Praxis der Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens hatte schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts geistige Wegbereiter. Die Ideen von Charles Darwin missverstehend und fehlinterpretierend, übertrugen gegen Ende des 19. Jahrhunderts Rassenhygieniker aus Europa und Nordamerika die Evolutionslehre auf die Entwicklung von Gesellschaften und formulierten die im Sozialdarwinismus genannte Vorstellung vom Überlebenskampf der Völker.

Eugenik

Nach dieser Theorie gefährdeten „Minderwertige“, „Erbkranke“ und „Unbrauchbare“ die Existenz des Volkes, die nur durch Auslese der Stärksten gesichert werden kann. Damit reduzierte man den Menschen auf seine angenommene biologische Tüchtigkeit. Schon in der Weimarer Zeit vertraten Eugeniker die Auffassung, durch moderne Medizin und kostspielige Sozialprogramme würden „Unwerte“ am Leben erhalten. Manche Eugeniker befürworteten Sterilisierungen von „Minderwertigen“; einige forderten gar „Die Freigabe der Tötung lebensunwerten Lebens“ (Titel einer Schrift von Binding / Hoche 1920). Auch englische Wissenschaftler – Francis Galton prägte 1883 den Begriff Eugenik = „gute Geburt“ – suchten nach eugenischen Lösungen für soziale Probleme. Vorzugsweise wurde die Sterilisierung als Mittel vorgeschlagen, „Minderwertige“ an der Fortpflanzung zu hindern. Zur Verabschiedung von Sterilisationsgesetzen kam es vor 1933 in Teilen Kanadas, der Schweiz und den Vereinigten Staaten.

„Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“

Mit dem Nationalsozialismus kam eine politisch extreme und menschenverachtende Variante der Eugenik zum Tragen, deren Vertreter z. B. auf das am 14. Juli 1933 verabschiedete und am 1. Januar 1934 in Kraft getretene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ aufbauen konnten (Ellger-Rüttgardt 2008). In diesem Gesetz wurden neun als erblich eingestufte Krankheiten festgelegt: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-depressive Störung, erbliche Fallsucht (Epilepsie), Chorea Huntington (eine zum Tode führende Gehirnerkrankung), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche körperliche Missbildung und chronischer Alkoholismus. Es begann die Verfolgung „Minderwertiger“, „Blödsinniger“, „Bildungsunfähiger“, darunter auch jener HilfsschülerInnen, deren Diagnose angeborener Schwachsinn, Schizophrenie oder Epilepsie lautete.

Zwangssterilisationen

Bereits im Jahre 1934 wurden von speziell begründeten Erbgesundheitsgerichten 65.000 Anzeigen verhandelt, 60.000 Personen wurden sterilisiert. Anzeigepflichtig waren ZahnärztInnen, Gemeindeschwestern, Hebammen, AmtsärztInnen, MasseurInnen, AnstaltsleiterInnen und auch HilfsschullehrerInnen. Ab 1936 erfolgte die Erfassung aller PatientInnen der Heil- und Pflegeanstalten. Die Daten gingen an die „Landeszentrale für die erbbiologische Bestandsaufnahme“. Die Erbgesundheitsgerichte verliehen Sterilisationsmaßnahmen den Anschein der Rechtsstaatlichkeit. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden in Deutschland nach Schätzungen bis zu 400.000 Personen zwangssterilisiert.

Euthanasie

Im Oktober 1939 begann die systematische Tötung sogenannten „lebensunwerten Lebens“ („Euthanasie“) aufgrund eines „Führererlasses“. Der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erforschung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ erfasste zunächst „lebensunwerte“ Kinder, später auch Erwachsene als sogenannte „Ballastexistenzen“, die durch Medikamente, Spritzen, Gas oder Entzug von Nahrung getötet wurden. Als Legitimation bedienten sich die Nazis der Äußerungen von Ärzten und Juristen der 1920er Jahre, die den Euthanasiemord als „Gnadentod für ‚lebensunwertes‘ Leben“, als „Erlösung“ beschrieben hatten. Leiter von Heilanstalten, KinderärztInnen, PsychiaterInnen, FamilienärztInnen und Krankenschwestern unterstützten für das Wohl des Vaterlands diese Morde. Erste Opfer waren deutsche Säuglinge und Kinder: Das Reichsinnenministerium befahl Hebammen und ÄrztInnen, alle Kinder mit schweren Geburtsfehlern zu melden. Drei GutachterInnen bewerteten jeden Fall und wählten jene aus, die getötet werden sollten. Zwischen 1939 und 1945 wurden über 5.000 Jungen und Mädchen in etwa 30 speziellen Kinderfachabteilungen in staatlichen Krankenhäusern und Kliniken umgebracht. Spezielle und gezielte Maßnahmen zur Tötung von Menschen mit geistiger Behinderung waren die Aktion T4 mit ca. 260.000 Opfern und die Aktion 14f13 mit ca. 15.000–20.000 Opfern (Fornefeld 2013, 37ff.; Häßler / Häßler 2005).

Nachkriegszeit

Nach 1945 waren die Orte der „Verwahrung“ von Menschen mit geistiger Behinderung – wie zur Zeit vor dem Krieg – gleich geblieben (Speck 2016, 34). Die Tradition der Anstaltsbetreuung in großen Heimen, psychiatrischen Kliniken und Pflegeeinrichtungen setzten sich zunächst fort. Diese Form der „Unterbringung“ von Menschen mit geistiger Behinderung – vornehmlich in der Psychiatrie – basierte auf einem medizinisch-psychiatrischen und einem biologistisch-nihilistischen Bild von Menschen.

Psychiatrie-Enquête

Ein wesentlicher Schritt zur Humanisierung der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung in der BRD lag in der Psychiatrie-Enquête von 1976, die konstatierte, dass Menschen mit geistiger Behinderung in erster Linie heilpädagogisch-sozialtherapeutischer Betreuung bedürfen, die ihnen in der Regel in hierfür geeigneten Einrichtungen außerhalb des Krankenhauses angeboten werden sollte (Stöppler / Wachsmuth 2010, 17).

4.4 Normalisierung

Bank-Mikkelsen

Das Normalisierungsprinzip stellt einen wichtigen und nachhaltigen Meilenstein in der Behindertenhilfe dar. Seit den 1980er Jahren hat es als neue Leitidee der Behindertenhilfe die Betreuungskonzepte für Menschen mit geistiger Behinderung im westlichen Deutschland maßgeblich beeinflusst. Ausgehend von der Maxime „Ein Leben so normal wie möglich“ (Bank-Mikkelsen 1978, Thimm 1984) wurde es 1959 von Bank-Mikkelsen in Dänemark in das dänische Fürsorgegesetz aufgenommen. Ziel war es, Menschen mit Behinderung ein Leben unter „normalen“ Bedingungen zu ermöglichen und einen bislang weitgehend ausgesonderten Personenkreises in die Gesellschaft zu integrieren.

Nirje

Der Schwede Bengt Nirje konkretisierte das Normalisierungsprinzip in den 1960er Jahren in acht Forderungen:

1. normaler Tagesrhythmus

2. Trennung von Arbeit, Freizeit und Wohnen

3. normaler Jahresrhythmus

4. normaler Lebenslauf

5. Respektierung von Bedürfnissen

6. angemessene Kontakte zwischen den Geschlechtern

7. normaler wirtschaftlicher Standard

8. normale Standards von Einrichtungen (Thimm 1984, 19f.)

Ziel ist es, das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung in allen Lebensphasen durch die Verwirklichung kultur-, alters- und geschlechtsgemäßer Rollenbeziehungen so normal wie möglich zu gestalten.

Wolfensberger

In Nordamerika wurde das Normalisierungsprinzip von Wolf Wolfensberger (1977) weiterentwickelt und in einen theoretischen Zusammenhang systematisiert und fortgeführt. Zentrales Ziel des Normalisierungsprinzips ist für Wolfensberger die Aufwertung der sozialen Rolle („Social Role Valorization“). Er ersetzt darum den Begriff „Normalisierung“ durch den Begriff „Aufwertung der sozialen Rolle“ des behinderten Menschen. Dabei vollzieht sich Normalisierung auf den drei Ebenen Person, primäre soziale Systeme und Gesellschaftssystem (Thimm 1984, 29f.). In Deutschland erhielt das Normalisierungsprinzip vor allem durch die 1975 veröffentlichte Psychiatrie-Enquête Einzug in die behindertenpädagogische Diskussion, in der die Ausgliederung von Menschen mit geistiger Behinderung aus psychiatrischen Kliniken gefordert wurde (Schildmann 1997, 92). Als Alternative zur traditionellen Versorgung in Großeinrichtungen gibt es heute eine Vielzahl gemeindeintegrierter Wohnformen, die ihre pädagogische Arbeit an den Grundsätzen des Normalisierungsprinzips orientieren.

4.5 Integration

gemeinsamer Unterricht

Der Begriff der Integration von Menschen mit Behinderung wird häufig mit dem Begriff der schulischen Integration verbunden. Unter dem Einfluss der Diskussion zur Umsetzung des Normalisierungsprinzips entstanden in der BRD schulische Integrationsversuche, definiert als „die gemeinsame Erziehung und Unterrichtung von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen des Bildungswesens“ (Muth 2009, 43). Elterninitiativen stellten in den 1970er und 1980er Jahren zunehmend die Beschulung in Sondereinrichtungen infrage und forderten das gemeinsame Leben und Lernen von Behinderten und Nicht-Behinderten (Hinz 2007, 251).

Zwei wesentliche Meilensteine der Integrationspädagogik sollen im Folgenden skizziert werden.

Salamanca-Deklaration

Die zentralen Inhalte und Ziele der Integrationspädagogik werden in der sogenannten Salamanca-Deklaration der UNESCO deutlich. Diese fordert 1994 eine „Education“ für alle Kinder, indem u. a. folgende Aussagen getroffen werden:

„Wir glauben und erklären,

• daß jedes Kind ein grundsätzliches Recht auf Bildung hat und daß ihm die Möglichkeit gegeben werden muß, ein akzeptables Lernniveau zu erreichen und zu erhalten.

• daß jedes Kind einmalige Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Lernbedürfnisse hat.

• daß Schulsysteme entworfen und Lernprogramme eingerichtet werden sollten, die dieser Vielfalt an Eigenschaften und Bedürfnissen Rechnung tragen.

• daß jene mit besonderen Bedürfnissen Zugang zu regulären Schulen haben müssen, die sie mit einer kindzentrierten Pädagogik, die ihren Bedürfnissen gerecht werden kann, aufnehmen sollten.

• daß Regelschulen mit dieser integrativen Orientierung das beste Mittel sind, um diskriminierende Haltungen zu bekämpfen, um Gemeinschaften zu schaffen, die alle willkommen heißen, um eine integrierende Gesellschaft aufzubauen und um Bildung für Alle zu erreichen; darüber hinaus gewährleisten integrative Schulen eine effektive Bildung für den Großteil aller Kinder und erhöhen die Effizienz sowie schließlich das Kosten-Nutzen-Verhältnis des gesamten Schulsystems“ (UNESCO Salamanca Statement 1994).

KMK

Die Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) reagierte 1994 mit der „Empfehlung zur sonderpädagogischen Förderung“ auf die Salamanca-Erklärung. Zum ersten Mal wird die spezielle Förderung für die Schülerschaft mit geistiger Behinderung nicht mehr ausschließlich an separierende Institutionen gebunden. Die aktuellste Ergänzung der „Empfehlung zum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“ (KMK 1998) weist darauf hin, dass eine Beschulung von SchülerInnen mit geistiger Behinderung in der Regelschule möglich ist, wenn durch eine entsprechende sonderpädagogische Begleitung „personelle, räumliche und auch sächliche Voraussetzungen gegeben sind“ (KMK 1998, 14). Die Deklaration stellt somit einen wichtigen Referenzrahmen für schulische Integration / Inklusion dar (Stöppler / Wachsmuth 2010, 19).

außerschulische Bedeutung

Wichtig ist, dass Integration auch in vor-, außer- und nachschulischen Bereichen (Wohnen, Freizeit, Arbeit etc.) Bedeutung hat. Der Begriff Integration wurde und wird aber auch kritisch gesehen. Integration impliziert stets eine Gruppenbildung hinsichtlich des Leistungsniveaus (Hinz 2006, 149), wodurch eine Gruppe etikettiert wird. Der Integrationsbegriff ist aufgrund seiner selektiven Eigenschaften in die Kritik geraten und wird vom Begriff der Inklusion abgelöst.

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