Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung

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2.3.2 Perinatale Ursachen

Geburtskomplikationen

Zu den perinatalen Risikofaktoren, die eine geistige Beeinträchtigung hervorrufen können, zählen Geburtskomplikationen, die zu mangelnder Sauerstoffversorgung des Kindes führen. Diese werden hypoxisch-ischämische Enzephalopathien genannt. Auch eine Frühgeburt ( Geburt vor Beendigung der 37. SSW p. m.) kann zu Entwicklungsstörungen führen (Psychrembel 2010, 697).

2.3.3 Postnatale Ursachen

Auch nach der Geburt kann es aufgrund von Erkrankungen und Unfällen zu geistigen Behinderungen kommen.

Entzündungen des ZNS

Zu den Erkrankungen gehören Entzündungen des Zentralen Nervensystems: bei der Meningitis kann es zur Entzündung der Hirnhäute, bei der Meningoenzephalitis zur Entzündung des Hirngewebes, bei der Enzephalitis zur Entzündung des Gehirns kommen. Diese Entzündungen können – je nach Schwere und Verlauf – eine geistige Behinderung nach sich ziehen.

Unfälle

Verkehrsunfälle und häusliche Unfälle des Kindes können zu einem schweren Schädel-Hirn-Trauma führen; in bestimmten Fällen können durchaus Entwicklungsverzögerungen und geistige Beeinträchtigungen resultieren. Sauerstoffmangelzustände, z. B. nach einem Ertrinkungsunfall, oder auch Verbrennungskrankheiten können zu Hirnschädigungen führen (Neuhäuser 2013, 134ff.).

Auf der Basis dieses Kapitels können Sie nun die Übersicht der häufigen Syndrome in Kapitel 3.1 besser verstehen und einordnen.

2.4 Pränataldiagnostik

„Richtlinien zur Mutterschaft“

Aus medizinischer Sicht stehen schwangeren Frauen und Familien verschiedene Untersuchungen zur Vorsorge und zur Wahrung der Gesundheit eines Kindes zur Verfügung. Dazu wurden „Richtlinien zur Mutterschaft“ durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (2011) formuliert, die für behandelnde MedizinerInnen einen Katalog ärztlicher Untersuchungs- und Beratungsschwerpunkte enthalten und z. B. die Überwachung von Risikoschwangerschaften sowie die Untersuchung auf Infektionskrankheiten (Röteln, Hepatitis B, evtl. HIV, etc.) vor und nach der Geburt oder Fehlgeburt umfassen.

Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG)

Das Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) regelt z. B. vor dem Hintergrund der Diagnose Trisomie 21 eine umfassende Beratung und Aufklärung der werdenden Eltern. Schwerpunkte der Beratung stellen Informationen u. a. auch zum Leben von Kindern und erwachsenen Menschen mit geistiger und / oder körperlicher Behinderung dar. In Tabelle 6 werden die zentralen Methoden der pränatalen Diagnostik skizziert.

Tab. 6: Pränatale Diagnostik (Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. 2008; BzgA – Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2011a, 2011b, 2011c)


BezeichnungZeitpunktVerfahrenMöglichkeitenRisiken
Praenatestmöglich ab vollendeter 9. SSWkeine
Ultraschalluntersuchung (Sonografie)9.-32. SSWÜber einen Schallkopf werden Wellen ausgesendet, wobei vaginale Ultraschallverfahren (vor 12. SSW) und Ultraschallverfahren über die Bauchdecke (ab 20. SSW) unterschieden werden. Zwischen 9. und 32. Schwangerschaftswoche sind drei Ultraschalluntersuchungen vorgesehen. Feststellung der Schwangerschaftswoche Erkennen von Mehrlingen Kontrolle der Herztätigkeit des Kindes Feststellung von Fehlbildungenkeine
Ersttrimesterscreening12.-14. SSWÜber Ultraschall werden u. a. die Nackentransparenz sowie das Nasenbein gemessen, frühe Fehlbildungsdiagnostik möglich (erweitertes Ersttrimesterscreening). Durch das Alter der werdenden Mutter sowie der genauen Schwangerschaftsdauer können durch statistische Werte Risiken ermittelt werden. Risikoerkennung von z. B. Trisomie 21 oder Herzfehlern Aussagen über Schwangerschaftsverlauf bzw. die Entwicklung des Kindes möglichkeine
Bluttest11.-14. SSWIm Blut der Frau werden die Werte von zwei Eiweißstoffen gemessen. Durch die Hinzunahme der Ergebnisse des Ultraschalls kann ein Risikowert anhand von Statistiken errechnet werden.Aussagen über Schwangerschaftsverlauf bzw. die Entwicklung des Kindes möglichkeine
Zweittrimesterscreening15.-18. SSWErweiterter (Organ-) Ultraschall. Außerdem zusätzlich Bluttests (Messung von Alphaproteinen) oder eigenständig zur Bestimmung von Hormonund weiterer Eiweiß-werte.Aussagen über Schwangerschaftsverlauf bzw. die Entwicklung des Kindes möglichkeine
Chorionzottenbiopsie11.-14. SSWDurch einen Einstich in die Bauchdecke wird Chorionzottengewebe (Mutterkuchengewebe) der werdenden Mutter entnommen.Feststellung von chromosomalen Aberrationen metabolischen Aberrationen genetischen ErkrankungenDas Risiko einer Fehlgeburt liegt zwischen 0,5 und 2 %.
Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese)14.-20. SSWDurch einen Einstich in die Fruchtblase werden Fruchtwasser sowie Zellen des ungeborenen Kindes entnommen. Feststellung von Anomalien nach Auffälligkeiten bei der Ultraschalluntersuchung Bestimmung des Chromosomensatzes des Kindes und Untersuchung auf Erbkrankheiten und chromosomale AberrationenDas Risiko einer Fehlgeburt liegt zwischen 0,5 und 1 %.
ab 18. SSWMithilfe einer Ultraschallkontrolle wird mit dem Einstich durch die Bauchdecke der werdenden Mutter Blut des Kindes aus der Nabelschnur entnommen und untersucht. Abklärung eines Infektionsverdachtes beim Kind Überprüfung der Werte einer unklaren Fruchtwasseruntersuchung Feststellung des Chromosomensatzes des Kindes sowie die Möglichkeit, Infektionen oder eventuelle Blutarmut zu diagnostizieren.Das Risiko einer Fehlgeburt liegt zwischen 1 und 3 %.

Kritik

Aufgrund des Risikos einer Fehlgeburt werden die verschiedenen Untersuchungen der pränatalen Diagnostik z. T. kritisiert und stehen durch ihren möglichen selektierenden Charakter häufig im Fokus der medizinisch-ethischen Diskussion.

„Während sich bei der bisher üblichen vorgeburtlichen Diagnostik auch Befunde mit therapeutischen Konsequenzen ergeben können, erfolgt das Frühscreening ausschließlich mit der Begründung, Ungeborene mit Chromosomenabweichungen herauszufiltern, damit Frauen sich gegebenenfalls für einen Abbruch entscheiden können. Das Angebot des Frühscreenings bestärkt Menschen in der Überzeugung, dass die Geburt eines behinderten Kindes vermeidbar ist und vermieden werden sollte und stellt damit eine kulturelle Abwertung aller Menschen dar, die von Geburt an oder später mit einer Behinderung leben müssen“ (Wegener 2007, 45).

Auch wenn sich komplizierte Eingriffe, die mögliche Folgen und Risiken nach sich ziehen, durch einen nicht-invasiven Test wie z. B. der 2012 neu vorgestellte Bluttest zur Diagnostik von Chromosomenfehlverteilungen unterbinden lassen, bleibt die bereits angesprochene Kritik durch Wegener die gleiche. Der ehemalige Bundes-Behindertenbeauftragte Hüppe reagiert mit ähnlichen Argumenten auf den Bluttest. Eine „Rasterfahndung“ nach Menschen mit Trisomie 21 werde erzeugt, da keine therapeutischen Zwecke verfolgt werden. Durch die unkomplizierte und risikolose Blutentnahme sinke zudem die Hemmschwelle, an einer solchen Untersuchung teilzunehmen (Richter-Kuhlmann 2012, 1).

 

Neuhäuser, G., Steinhausen, H.-C., Häßler, F., Sarimski, K. (Hrsg.) (2013): Geistige Behinderung: Grundlagen, Erscheinungsformen und klinische Probleme, Behandlung, Rehabilitation und rechtliche Aspekte. 4. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart

Reece, J. B., Urry, L. A., Cain, M. L., Wassermann, S. A., Minorsky, P. V., Jackson, R. B. (2016): Campbell Biologie. 10. Aufl. Pearson, Hallbergmoos


Übungsaufgaben zu Kapitel 2

Aufgabe 1

Welche Bedeutung hat die Ätiologie im Kontext der Geistigbehindertenpädagogik?

Aufgabe 2

Wie kommt es zu numerischen und strukturellen Chromosomenaberrationen?

Aufgabe 3

Nennen Sie jeweils Beispiele für Schädigungen, die prä-, peri- und postnatal auftreten können.

3 Erscheinungsformen geistiger Behinderung

3.1 Häufige Syndrome

„Ich habe down-Syndrom

Aber ich stehe da zu

und ich bin kein Alien

denn ich bin so wie ich bin

und jeder soll es verstehen

und mich respektieren“ (Giesler 2002, 69)

Ausdifferenzierung

Durch die Weiterentwicklung der Geistigbehindertenpädagogik aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie nicht zuletzt durch starke Elternvereinigungen konnte viel Wissen über einzelne Syndrome akkumuliert und analysiert werden, sodass die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung immer differenzierter gesehen wird (Stöppler / Wachsmuth 2010, 72).


Das Wort Syndrom weist darauf hin, dass bei verschiedenen Menschen bestimmte Symptome, Auffälligkeiten oder Krankheitsanzeichen ähnlich oder gleich vorliegen.

In diesem Kapitel erfolgt ein Überblick über Syndrome, die am häufigsten auftreten, d. h., die mindestens 1:100.000 (auf 100.000 Geburten erfolgt eine Geburt mit diesem Syndrom) vorkommen und mit geistiger Behinderung unterschiedlicher Ausprägung einhergehen. In alphabetischer Reihenfolge wird jeweils skizziert, wer als erstes das Syndrom beschrieben hat, die geschätzte Häufigkeit, phänotypische Informationen sowie besondere Kompetenzen und Ressourcen, die in Betreuung und Bildung berücksichtigt werden sollten.

Einzigartigkeit

Die Übersicht erfolgt im Bewusstsein, dass – unabhängig von genetischen Prädispositionen – vielfältige Faktoren auf die Persönlichkeit des betreffenden Menschen einwirken. Der Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung ist keine homogene Gruppe von Merkmalsträgern! Jeder hat einzigartige Fähigkeiten und Interessen. Es geht keinesfalls um eine defizit- und symptomzentrierte Beschreibung und Zuschreibungskategorie, sondern vor allem um Ressourcenorientierung. Eine Syndrom-Diagnose kann auch sinnvoll sein, um frühzeitig Kenntnisse über physische und psychische Begleiterkrankungen sowie Therapie- und Fördermaßnahmen zu gewinnen und einzuleiten.

Syndrom-Beschreibungen

Sarimski (2009, 164ff.) zeigt drei wesentliche Aspekte von Syndrom-Beschreibungen auf, nämlich

Unterstützung der Eltern bei der Entwicklung positiver und realistischer Zukunftsperspektiven,

Entlastung von Schuldgefühlen und

Sensibilisierung für spezifische Bedürfnisse.

Phänotyp

Das Verständnis für die besonderen Stärken und Schwächen des Kindes mit geistiger Behinderung können durch das Wissen über das jeweilige Syndrom mit seinen phänotypischen Auswirkungen verstärkt werden (Neuhäuser 2016, 15). Eine frühe Diagnose bietet den Eltern zudem die Möglichkeit, sich der genetischen Risiken bewusst zu werden und die Information bei der weiteren Familienplanung zu berücksichtigen.

Individualität

Jedoch sollte immer verdeutlicht werden, dass es sich bei den Beschreibungen des Phänotyps stets um Wahrscheinlichkeitsmerkmale, nicht um obligate Merkmale und Verhaltensweisen handelt, wobei individuelle Abweichungen immer möglich sind. Das Konzept der Verhaltensphänotypen als Kombination von Entwicklungs- und Verhaltensmerkmalen, die bei einem bestimmten Syndrom wahrscheinlicher sind als bei anderen Syndromen, beschreibt einerseits das Typische eines Syndroms, lässt aber gleichzeitig die Möglichkeit individueller Abweichungen von diesen Typisierungen offen (Flint / Yule 1994; Sarimski 2003).

Variabilität

Innerhalb der benannten Syndrome gibt es eine große Variabilität. Es sollte darauf geachtet werden, dass sowohl die sichtbaren als auch die nicht sichtbaren Phänomene bei jedem Menschen, auch wenn sie mit einem bestimmten Syndrom in Zusammenhang gebracht werden, in sehr unterschiedlicher Anzahl, Ausprägung und Wirkung vorhanden sind. In jedem Fall steht der Mensch in seiner Einzigartigkeit und nicht das Syndrom im Vordergrund.

Im weiteren Verlauf erfolgt eine Übersicht ausgewählter Syndrome.

Tab. 7: Übersicht bekannter Syndrome geistiger Behinderung


Bezeichnung:Angelman-Syndrom
Erstmals beschrieben:Harry Angelman (1965)
Häufigkeit:1:20.000
Ätiologie:Deletion mütterliches 15q11-13
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung/Verhalten:Mikrozephalie (zu kleiner Schädel mit vermindertem Umfang); abgeflachtes Hinterhaupt; eingezogenes Mittelgesicht; tiefliegende Augen; relativ breiter Mund mit oft vorgestreckter Zunge; Zahnfehlstellungen; kräftiger Unterkiefer mit spitzem Kinn; Hypopigmentierung (verminderte Pigmentierung der Haut); Krampfanfälle; verzögerte motorische Entwicklung; Ataxie (Störung der Bewegungskoordination mit unkontrollierten Bewegungen); beeinträchtigte sprachliche Entwicklung; häufig unpassendes Gelächter
häufige Erkrankungen:Infektionen der Atemwege; Mittelohrentzündungen; Übergewicht; abnormes EEG
Kompetenzen:sehr freundlich; gute visuelle Wahrnehmungsleistungen; gutes Gedächtnis (Neuhäuser 2016, 49ff.; Hogenboom 2006, 95ff.)


Bezeichnung:Autismus-Spektrum-StörungenTiefgreifende Entwicklungsstörungen (ICD-10), werden in mehrere Untergruppen eingeteilt:- frühkindlicher Autismus- atypischer Autismus- Rett-Syndrom- desintegrative Störungen des Kindesalters- überaktive Störungen mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien- Asperger-Syndrom- sonstige tiefgreifende Entwicklungsstörungen
Ätiologie:

Im Folgenden werden die zwei häufigsten / bekanntesten Formen von Autismus skizziert.


Bezeichnung:Frühkindlicher Autismus
Erstmals beschrieben:Leo Kanner (1943)
Häufigkeit:Jungen sind drei- bis viermal häufiger betroffen als Mädchen.
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung/Verhalten:Früher Beginn; min. sechs Symptome in den drei Bereichen: „qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion“ (z. B. die Unfähigkeit Blickkontakt herzustellen, Gestik, Mimik etc. zur sozialen Interaktion zu verwenden); „qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation“ (z. B. die Störung der Entwicklung der gesprochenen Sprache, Echolalie, monotone Sprachmelodie); „begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten“ (z. B. stereotypes Verhalten, ungewöhnliche Interessen, zwanghaftes Bedürfnis nach unveränderter Umwelt)(Remschmidt et al. 2012, 23f.)Unterschieden wird zwischen dem Low-Functioning-Autismus (Personen mit beeinträchtigter Intelligenz und Sprache) und dem High-Functioning-Autismus (keine Intelligenz- und Sprachbeeinträchtigungen).


Bezeichnung:Asperger-Syndrom
Erstmals beschrieben:Hans Asperger (1944)
Häufigkeit:
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung/Verhalten:keine allgemeine Entwicklungsverzögerung, keine Beeinträchtigung im sprachlichen und kognitiven Bereich; Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion: Besonderheiten der nonverbalen Kommunikation, z. B. deutlich reduziertes bzw. nicht vorhandenes nonverbales Verhalten, kein sozial gerichteter Gesichtsausruck, fehlendes soziales Lächeln, keine konventionellen Gesten;Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen, zu gemeinsamen Interessen, Aktivitäten und Gefühlen; Mangel an sozioemotionaler Gegenseitigkeit, d. h. keine Wechselseitigkeit in einer Beziehung (z. B. geht der Mensch mit Asperger-Autismus meist nicht auf Gesprächsinhalte und Fragen ein); fehlendes intuitives Verständnis für soziale Regeln; Mangel, spontane Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen.Auffälligkeiten der Kommunikation, z. B. großer Wortschatz mit originellen Wortschöpfungen, mangelnde „Theory of Mind“; Sonderinteressen an bestimmten Wissensgebieten, z. T. zwanghafte Verhaltensweisen bzgl. des Einhaltens von Routinen und Ritualen


Bezeichnung:Cornelia de Lange-Syndrom
Erstmals beschrieben:Cornelia Catharina de Lange (1933)
Häufigkeit:1:40.000–100.000
Ätiologie:unklar
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung/Verhalten:typische Gesichtsmerkmale: zusammengewachsene Augenbrauen; buschige Wimpern; tiefer Haaransatz; Hypertelorismus; Fehlbildungen der Augen; Minderwuchs; Anomalien der Extremitäten;selbstverletzendes Verhalten;autistisch-ähnelnde Verhaltensweisen
häufige Erkrankungen:Infektionen der Atemwege (Neuhäuser 2016, 73ff.)


Bezeichnung:Cri-du-chat-Syndrom (Katzenschrei-Syndrom; aktuelle Bezeichnung: 5p-minus-Syndrom)
Erstmals beschrieben:Jérôme Léjeune (1963)
Häufigkeit:1:20.000–50.000; Frauen sind häufiger betroffen als Männer
Ätiologie:partielle Deletion 5p15.2
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung/Verhalten:typische Gesichtsmerkmale: kleines Kinn; tiefsitzende Ohren; Mikrozephalie; vorzeitiges Ergrauen der Haare; niedriges Geburtsgewicht; Verzögerung der motorischen, sprachlichen und geistigen Entwicklung; schrilles (katzenähnliches) Schreien während der Kindheitsphase, auf das die Betroffenen häufig reduziert werden (daher aktuelle Bezeichnung: 5p-minus-Syndrom); aggressives Verhalten
häufige Erkrankungen:Magen-, Darm-, Herz- und Atemprobleme / -infektionen
Kompetenzen:motorische Kompetenzen; lebenspraktische Fähigkeiten; kontaktfreudig; freundlich (Neuhäuser 2016, 168ff.)


Down-Syndrom (Trisomie 21)
Erstmals beschrieben:John Langdon Down (1866)
Häufigkeit:1:600–800
Ätiologie:Trisomie des Chromosom 21 (Freie Trisomie, Translokationsform, Mosaik-Form)
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung/Verhalten:typische Gesichtsmerkmale: Epikanthus (zusätzliche Lidfalte); schräg nach oben geneigte Lidspalten; kleiner Mund und Kiefer; schmaler Gaumen; Minderwuchs; teils unvollständig entwickelte Handknochen; Sandalenfurche (großer Abstand zwischen dem ersten und zweiten Zeh);Muskelhypotonie (Überdehnbarkeit der Gelenke); verzögerte Sprachentwicklung; sprachliche Auffälligkeiten
häufige Erkrankungen:angeborener Herzfehler; Immunabwehrschwäche; Magen-Darm-Obstruktionen; Sehstörungen (Schielen, Kurz- oder Weitsichtigkeit, Keratokonus, Nystagmus oder Linsentrübungen); Schwerhörigkeit; Hypothyreose; Hepatitis B; Leukämie; Adipositas; Demenz vom Alzheimer Typ (Kap. 8.3)
Kompetenzen:


Bezeichnung:Fetales Alkohol-Syndrom (Alkoholembryopathie)
Erstmals beschrieben:Jacqueline Rouquette (1957), Paul Lemoine (1968)
Häufigkeit:1:300–1.000
Ätiologie:Alkoholembryopathie (durch mütterlichen Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft, Kap. 2.3)
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung/Verhalten:typische Gesichtsmerkmale: kleine Lidspalten; kurze Stupsnase; dünne Oberlippe (mit dünnem, rotem Rand); Mikrozephalie; Gelenkfehlbildungen; kleineres und leichteres Geburtsgewicht; verzögerte motorische, sprachliche und kognitive Entwicklung; Hyperaktivität; Ablenkbarkeit; Aufmerksamkeitsstörungen; Impulsivität und leichte Erregbarkeit sowie Irritierbarkeit bei relativ geringen Anlässen, wie z. B. Kritik
häufige Erkrankungen:Augenerkrankungen (Optikusatrophie / -hypoplasie, Ptosis, Refraktionsanomalien [Myopie, Strabismus]); Mittelohrentzündungen; Störungen des zentralen Nervensystems; angeborener Herzfehler; stark herabgesetztes Schmerzempfinden, sodass die Kinder sehr genau beobachtet werden müssen, um Erkrankungen und Verletzungen zu erkennen
Kompetenzen:soziale Kompetenzen; freundliches Wesen (Stöppler / Wachsmuth 2010, 74f.)


Bezeichnung:Fragiles-X-Syndrom
Erstmals beschrieben:James Purdon Martin, Julia Bell (1943)
Häufigkeit:1:3.000 – 4.000
Ätiologie:gonosomale Aberration; Deletion Xq27.3
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung/Verhalten:


Bezeichnung:Noonan-Syndrom
Erstmals beschrieben:Jacqueline Noonan (1963)
Häufigkeit:1:1.000 – 2.500
Ätiologie:X0-Konstitution, autosomal dominant, 12qA
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung/Verhalten:typische Gesichtsmerkmale: große und tiefsitzende Ohren; Hypertelorismus; Minderwuchs; Skelettanomalien; Ess- und Trinkschwächen; Herzfehler; Seh- und Hörbeeinträchtigungen;Muskelhypotonie; verzögerte Pubertät; Hodenhochstand


Bezeichnung:Phenylketonurie
Erstmals beschrieben:Ivar Asbjørn Følling (1934), George Jervis (1953)
Häufigkeit:1:10.000
Ätiologie:Störung des Aminosäurestoffwechsels, 12q23, autosomal rezessiv
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung / Verhalten:blond; blauäugig; fehlende Pigmente; Hautveränderungen;bei Geburt vorhandene Funktionen lassen progressiv nach; psychische Auffälligkeiten (aggressives, zerstörendes Verhalten, Hyperaktivität)
häufige Erkrankungen:Übelkeit und Erbrechen; Krampfanfälle. Bei konsequenter PKU-Diät normale Entwicklung; Frühdiagnose durch Guthrie-Test möglich (Kap. 2.4) (Achse 2010, 61)


Bezeichnung:Prader-Willi-Syndrom
Erstmals beschrieben:Andrea Prader, Alexis Labhart und Heinrich Willi (1956)
Häufigkeit:1:10.000 – 25.000 (Männer sind häufiger betroffen)
Ätiologie:Deletion / Translokation 15q11-13
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung / Verhalten:typische Gesichtsmerkmale: schmale Stirn, Epikanthus, ophthalmologische Probleme (Strabismus); Kleinwuchs; auffallende Hypotonie (bis etwa zum 2. Lebensjahr); Überstreckbarkeit der Gelenke; schwache Muskeleigenreflexe; Skoliose;verzögerte motorische, sprachliche und kognitive Entwicklung; verzögerte sexuelle Entwicklung (mangelhafte Entwicklung der Geschlechtsorgane [Kryptorchismus bei Jungen]); häufige Unfruchtbarkeit; verzögertes Einsetzen der Pubertät
häufige Erkrankungen:Hyperphagie (ungewöhnlich gesteigerte Nahrungsaufnahme, einsetzend zwischen 1–6 Jahren); Adipositas (unersättlicher Appetit bei gleichzeitig reduziertem Kalorienbedarf, reduziertes / verzögertes Sättigungsgefühl); Bluthochdruck; Herz-Kreislauf-Beschwerden; Atemnot
Handlungsintelligenz; visuelle Fähigkeiten; Lesefähigkeit; großer Wortschatz; interessiert (Achse 2010, 112; Hogenboom 2006, 85ff.)


Bezeichnung:Rett-Syndrom
Erstmals beschrieben:Andreas Rett (1966)
Häufigkeit:1:10.000 –15.000, meist nur Frauen betroffen
Ätiologie:unklar, Xq28-Chromosom
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung / Verhalten:normale Entwicklung bis zum 18. Lebensmonat, danach Regression sozialer, sprachlicher und adaptiver Funktionen; bereits erreichte Bewegungsfähigkeiten gehen verloren; Störungen der Sensorik und Integration von Wahrnehmungsreizen; Entwicklung motorischer Stereotypien (Waschbewegungen der Hände, Klatschen, Kneten); motorische Ausfälle durch Ataxie und Apraxie des Gehens
häufige Erkrankungen:Anomalien der Atmung (Hyperventilation, Anhalten des Atems); Epilepsie (in 80 % der Fälle); sekundäre Mikrozephalie; etwa zwei Drittel der PatientInnen überleben die ersten zwei Jahrzehnte; Sterblichkeit bei älteren PatientInnen durch Infektionen der Atemwege oder Unfälle beeinflusst; frühe Sterblichkeit hängt vor allem mit schwerer geistiger Behinderung zusammen
Kompetenzen:musikalische Fähigkeiten (Achse 2010, 73)


Bezeichnung:Williams-Beuren-Syndrom
Erstmals beschrieben:J. C. P. Williams und Alois J. Beuren (1961 / 1962)
Häufigkeit:1:7.500 –15.000
Ätiologie: Deletion 7q11.23
Besonderheiten in Phänotyp / Entwicklung/Verhalten:längliche Kopfform; Mikrozephalie; kurze Lidspalten; sternförmiges Irismuster; Schielen; flache, schmale Nasenwurzel; Stupsnase; Pausbacken im Kindesalter; großer Mund mit vollen Lippen; meist offener Mund; Zahnanomalien; kleines Kinn und prominente Ohrläppchen; tiefe und raue Stimme; bei blauen Augen oft weißliche, radspeichenartige Einschlüsse der Iris sichtbar; schwere Probleme bei der Nahrungsaufnahme mit Erbrechen und Nierenfunktionsstörungen; Kleinwuchs; Herzfehler und Verengung großer Arterien führen zu Herz-Kreislauf-Problemen; Veränderungen der Gefäße (Nieren, Blase, Magen, Darm); Nierenfunktion nimmt mit zunehmendem Alter ab; häufig Skoliose; Hyperkalzämie; Hypotonie; Beeinträchtigung des Hörvermögens durch häufige Entzündungen;Entwicklungsverzögerungen in den Bereichen Sprache, Motorik und den allgemeinen kognitiven Funktionen; Schwierigkeiten beim Erwerb abstrakter Konzepte, bei visuell-räumlichen Wahrnehmungsaufgaben, mathematischen Fähigkeiten und beim Schreiben; sehr sensibel; freundlich; offen gegenüber fremden Personen bis hin zu Distanzlosigkeit; Überaktivität; Aufmerksamkeitsprobleme; Ängstlichkeit und Geräuschempfindlichkeit
Kompetenzen:geselliger Sprachgebrauch; differenziertes Vokabular und grammatische Kompetenzen, sodass das Gefühl sprachlicher Gewandtheit entsteht; freundlich; musikalische Fähigkeiten; Lesekompetenz (Hyperlexie) (Achse 2010, 51; Hogenboom 2006, 51)


Die Beschreibung der vier weiteren Syndrome Smith-Lemli- Opitz-Syndrom, Smith-Magenis-Syndrom, Tuberöse Sklerose und Wolf-Hirschhorn-Syndrom sind im Online-Material auf der Seite www.reinhardt-verlag.de bzw. utb-shop.de, Ergänzungen zu Kapitel 3.1 Syndrome zu finden.

 

3.2 Schwerste Behinderung

Das folgende Kapitel fokussiert einen Personenkreis, dem das Recht auf schulische Bildung am längsten verwehrt wurde. Er stand sogar lange im Zentrum der Diskussionen um das Lebensrecht und ist immer noch gefährdet, im Rahmen der Inklusion vernachlässigt zu werden.

Bildungsanspruch

Lange Zeit bestand eine enge Verknüpfung zwischen Lebens- und Bildungsrecht, denn Lebensrecht wurde nur den Menschen zugestanden, die Leistungen und Nutzen für die Gesellschaft erbringen konnten. Menschen mit schwersten Behinderungen waren aus diesem Grunde sehr lange von Bildungsangeboten jeglicher Art ausgeschlossen. Auch im Rahmen der ersten Initiativen zur Beschulung von Kindern mit geistiger Behinderung und in den Forderungen nach pädagogischer Förderung wurden sie nicht berücksichtigt, da als Aufnahmebedingung die sogenannte praktische Bildbarkeit gefordert wurde. Bis 1977 galt z. B. im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus die Befreiung von der Schulpflicht für diejenigen, die „im Rahmen schulischer Einrichtungen auch nicht mehr praktisch bildungsfähig“ (Begemann 1978, 17) sind. Bei diesen als bildungsunfähig deklarierten Personen wurde von „Pflegefällen“ gesprochen, „die für eine gezielte pädagogische Arbeit gleich welcher Art nicht in Betracht kommen können“ (Begemann 1978, 17).

Beginn: 1978

Erst Ende der 1970er Jahre begann die Aufnahme von SchülerInnen mit schwersten Behinderungen in Schulen für Geistigbehinderte, Körperbehinderte und SchülerInnen mit Sinnesbehinderungen (Klauß / Lamers 2003, 13). Da es bis dato noch keine Konzepte für die pädagogische Arbeit mit dieser Schülerschaft gab, standen Lehrkräfte vor neuen Herausforderungen.

Interdisziplinarität

Infolgedessen wurden Fachkräfte anderer Disziplinen (Physiotherapie, Pflege etc.) in die Schulteams integriert; erste didaktische Konzepte entstanden in den 1970er und 1980er Jahren (Tab. 8, Kap.3.2.2).

gesetzliche Relevanz

Das Recht auf Bildung für Menschen mit schwersten Behinderungen wurde gesetzlich festgelegt, z. B. im Grundgesetz durch das Benachteiligungsverbot (Art. 3 Abs. 3 GG) und im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG).

fehlende Lehrpläne

Bis heute gibt es keine eigenen Lehrpläne für den Unterricht bei SchülerInnen mit schwersten Behinderungen. Dieser orientiert sich an den Lehrplänen der Bundesländer für SchülerInnen mit geistiger Behinderung und umfasst überwiegend Förderung von Wahrnehmung, Kommunikation und Selbstständigkeit und vernachlässigt materiale Aspekte der Bildung im Sinne von Klafki (2007; Kap.6).

3.2.1 Begriffsbestimmung

schwerste Behinderung

Dem Begriff der schwersten Behinderung liegt keine einheitliche Definition zugrunde; vielmehr herrscht – ähnlich wie bei dem Versuch der Beschreibung der geistigen Behinderung (Kap. 1.1) – ein regelrechtes „Begriffschaos“ (Fröhlich / Simon 2004, 14). Auch Fornefeld (1998, 19f.) weist darauf hin, dass die „Vielfältigkeit der schwerstbehindertenpädagogischen Landschaft […] Ausdruck des Suchprozesses, in dem sich diese Disziplin immer noch befindet“ ist.

Abbildung 4 gibt einen Überblick über die Vielfalt der Umschreibungen des Personenkreises bzw. über das Begriffsspektrum.


Abb. 4: Begriffsspektrum

Komplexität

Zur Abgrenzung vom Begriff der geistigen Behinderung findet man wiederholt den Hinweis, dass Schädigungen in mindestens zwei Bereichen vorliegen müssen. Der Begriff ist jedoch stark normativ geprägt und weckt landläufig Assoziationen, dass im Falle einer Schwerstbehinderung grundsätzlich auch eine geistige Behinderung, Leid und ein Ausschluss vom alltäglichen gesellschaftlichen Leben mit einhergehen. Denn im Kontext von Schwerstbehinderung würden wohl die wenigsten Menschen an eine Person mit Herz-Kreislauf-Erkrankung denken, die zudem einen Bandscheibenvorfall erleidet. Gemäß der eben genannten Definition träfe dies jedoch durchaus zu. Auch der mit einer degenerativen Erkrankung des Nervensystems lebende Physiker Prof. Stephen Hawking, der infolge einer Lungenentzündung zusätzlich die Sprechfähigkeit verlor, gilt somit als schwerstbehindert – zu einer vernachlässigten ‚Restgruppe‘ am gesellschaftlichen Rand zählt er jedoch definitiv nicht.