Einführung in die Pädagogik bei geistiger Behinderung

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1.3 Wissenschaftliche Perspektiven

Geistige Behinderung wird aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, die das Phänomen aus spezifischer Perspektive beleuchten, gesehen (Speck 2016, 58ff.). Jede Profession verfügt dabei über eigene Zugangsweisen.

1.3.1 Medizinische Perspektive

Ätiologie

Die medizinische Perspektive fokussiert vor allem die Ätiologie (Ursachen) der geistigen Behinderung. Diese suchte man bereits im 18. und 19. Jahrhundert und zwar als individuelles Merkmal einer Person. Heute gilt diese Perspektive als überholt, da es sich nach Meinung einiger Autoren vornehmlich um eine defizitorientierte Sichtweise handelt, die soziale Faktoren zu stark vernachlässigt. Dennoch ist die medizinische Sichtweise für das Verständnis für die besonderen Stärken und Schwächen des Kindes mit geistiger Behinderung relevant; das Wissen über das jeweilige Syndrom mit seinen phänotypischen Ausprägungen ermöglicht ein positives Einwirken (Neuhäuser 2016, 14f.).

Aus diesem Grunde erfolgt in Kapitel 2 eine ausführliche Darstellung der Ätiologie der geistigen Behinderung.

1.3.2 Psychologische Perspektive

IQ

Die psychologische Perspektive fokussiert vor allem den Grad der Intelligenz und das adaptive Verhalten. In erster Linie steht der Intelligenzquotient (IQ) im Vordergrund; er wird mithilfe standardisierter Intelligenztests ermittelt. Geistige Behinderung wurde lange Zeit vor allem als „intellektuelle Retardierung“ (Speck 2016, 61) beschrieben; auch heute noch definiert die ICD-10 geistige Behinderung als einen „Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten […]“ (Dilling / Freyberger 2014, 273).

Wie Abb. 2 verdeutlicht, gilt ein IQ-Wert von 100 als durchschnittliche Intelligenz, ein Wert über 100 als überdurchschnittliche, dagegen ein Wert von unter 100 als unterdurchschnittliche Intelligenz. Von geistiger Behinderung spricht man, wenn die getestete Person einen Wert von mindestens zwei Standardabweichungen unter dem Durchschnitt liegt. Da eine Standardabweichung einem Wert von 15 entspricht, bezeichnet man eine Person mit einem IQ von 70 und weniger aus psychologischer Sicht als geistig behindert.

Abb. 2: Normalverteilung der Intelligenz und Standardabweichungen (Speck 2016, 63)

zwei internationale Klassifikationsschemata

Im Folgenden werden die zwei internationalen Klassifikationssche mata für Menschen mit geistiger Behinderung beschrieben:

in der ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krank heiten und verwandter Gesundheitsprobleme) werden vier Niveau stufen sowie die Kategorien „andere“ und „nicht näher bezeichnete“ Intelligenzminderungen (DIMDI 2013) unterschieden, die hier kurz skizziert werden:

IQ 50–69: leichte Intelligenzminderung

IQ 35–49: mittelgradige Intelligenzminderung

IQ 20–34: schwere Intelligenzminderung

IQ > 20: schwerste Intelligenzminderung (Dilling / Freyberger 2014, 274ff.)

das DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) unterscheidet folgende Schweregrade der intel lektuellen Beeinträchtigung:

Tab. 2: DSM-IV (Fornefeld 2013, 66)


Codierung des DSM-IVSchweregrad der intellektuellen BeeinträchtigungIQ-Wert
317leichte geistige BehinderungIQ 50–55 bis ca. 70
318.0mittelschwere geistige BehinderungIQ 35–40 bis 50–55
318.1schwere geistige BehinderungIQ 20–25 bis 35–40
318.2schwerste geistige BehinderungIQ unter 20 bzw. 25

Eine derartige Stufenfolge der Intelligenzminderung wird von vielen pädagogisch orientierten Autoren sehr kritisiert, da die Entwicklungsfähigkeit eines Menschen sowie die sozialen und kulturellen Bedingungen in diesen statischen Angaben nicht berücksichtigt werden. Alternativ ist die Theorie der multiplen Intelligenz zu sehen, die mehrere Intelligenzen, z. B. linguistische, musikalische, körperlich-kinästhetische Intelligenzen gleichberechtigt autonom nebeneinander sieht (Gardner 2001). Die Fokussierung auf Teilbereiche trägt besonders auch dem Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung Rechnung (Speck 2016, 64f.).

1.3.3 Soziologische Perspektive

soziale Konstruktion

Aus soziologischer Perspektive wird Behinderung als soziale Konstruktion gesehen (Thimm 1972, Cloerkes 2003). Damit verbunden ist der gesellschaftliche Auftrag, sich mit Behinderung als gesellschaftlichem Thema zu beschäftigen. Als Forschungsgegenstand der „Soziologie der Behinderten“ stellt Cloerkes (2007, 3) „die soziale Wirklichkeit von Menschen mit Behinderungen“ dar. Zum Forschungsinteresse der Soziologie gehört damit auch die Beschreibung von Einstellungen und Verhalten gegenüber diesem Personenkreis. Typische Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit (geistiger) Behinderung sind z. B. Anstarren aber auch Almosendenken. Ein bekanntes Beispiel aus den Medien ist die „Aktion Sorgenkind“, in der jahrzehntelang Spenden für „Sorgenkinder“ gesammelt wurden; in einer wöchentlichen „Bilanz der guten Taten“ wurden die Spender gelobt. Dadurch wurden Betroffene in der Tat als bedürftige „Sorgenkinder“ und nicht als gleichberechtigte Bürger dargestellt (Rothenberg 2012, 32). Eine soziologische Definition von geistiger Behinderung liefert Markowetz (2008, 249):


Ein Mensch wird als geistig behindert bezeichnet, „wenn eine unerwünschte Abweichung vorliegt, die soziale Reaktion auf ihn entschieden negativ ist und deshalb seine Partizipationsmöglichkeiten am gesellschaftlich-sozialen Leben nachhaltig beschränkt werden und desintegrative, aussondernde Maßnahmen der Institutionalisierung von Behinderung auf den Plan rufen.“

Schon in sehr frühen Zeiten wurden in der Gesellschaft Unterschiede in der Anerkennung und Achtung von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gemacht; Menschen mit geistiger Behinderung bzw. sogenannte Schwachsinnige standen schon damals in der Hierarchie weit unter den Menschen mit Sinnesschädigungen (Merkens 1988, 55). Auch heute werden Beeinträchtigungen und Behinderungen im geistigen Bereich gesellschaftlich „ungünstiger bewertet“ als z. B. körperliche Behinderungen (Cloerkes 2007, 105).

Normabweichungen

Die soziologische Perspektive fokussiert somit Behinderung als Resultat eines sozialen Abwertungs- und Stigmatisierungsprozesses. Eine wesentliche Rolle spielen die sozialen Folgen, die eine Person erfährt, wenn sie aufgrund einer Behinderung von der Norm abweicht. Eine Abweichung auf körperlicher, geistiger oder seelischer Ebene wird aufgrund der bestehenden Normen und Werte innerhalb einer Gesellschaft als negativ aufgefasst. Geistige Behinderung kann als gesellschaftliche Positionszuschreibung betrachtet werden. Behinderung gilt als soziale Kategorie in der Interaktion, nicht als Merkmal einer Person. Ein Mensch wird demnach dann und dadurch behindert, wenn er von den Normalitätsvorstellungen der Umwelt abweicht und eine negative soziale Reaktion auftritt. Als Ergebnis des sozialen Abwertungsprozesses wird die soziale Teilhabe erschwert (Markowetz 2008, 240). Wacker (2008a, 42) stellt pointiert dar: „Menschen mit Behinderung sind ‚Gegenstand‘ der Soziologie, weil und solange sie als ‚Besondere‘ behandelt werden.“ Damit ist Behinderung aber auch kein unveränderlicher Zustand; Zeit, Lebenssituation, Lebensbereich, Kultur etc. spielen dabei eine Rolle. Was in unserem Kulturkreis als Behinderung gilt, kann in anderen Kulturen als Normalität angesehen werden (Cloerkes 2007, 9ff.; Wacker 2009, 101ff.).

 

Zielsetzung

Ziel der Soziologie der Behinderten ist es, unabhängig von Art und Grad der Behinderung ein Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen (Wacker 2008b, 115). Einstellungen und Barrieren müssen analysiert werden, darauf aufbauend können Entstigmatisierungskonzepte und Veränderungsmöglichkeiten erforscht werden.

1.3.4 Pädagogische Perspektive

Die pädagogische Perspektive betrachtet Behinderung vor allem im Kontext von Bildung und Erziehung. Behinderung stellt die Pädagogik vor die Aufgabe, Bildung und Erziehung trotz oder gerade aufgrund anderer Ausgangsbedingungen zu realisieren. Speck (2016, 74f.) formuliert diesen Zusammenhang:

„Was pädagogisch zu gestalten ist, bestimmt sich nicht primär oder allein von der Behinderungsart her, der ein Kind zugeordnet wird, und von Normen einer Behinderungs- oder Defizitorientierung, sondern hat sich umgekehrt daran zu orientieren, was ein Kind pädagogisch braucht, um trotz seiner Lernhindernisse die ihm möglichen Persönlichkeits- und Sozialkompetenzen (Fertigkeiten, Einstellungen) zu erlangen, die ihm eine sinnvolle soziale Teilhabe an seiner Lebenswelt ermöglichen.“

Pädagogik legt also den Fokus auf die Lernmöglichkeiten und die entsprechende Gestaltung der Lernumwelt, um den Lernprozess zu fördern. Dabei werden individuell verschiedene Möglichkeiten und individuell adäquate Erziehungs- und Bildungsziele und Methoden betrachtet.

Erziehung und Bildung

Die pädagogische Sichtweise fokussiert vor allem die Aufgabe der Erziehung und Bildung sowie Lernmöglichkeiten und -umgebungen, die entsprechend den individuellen Möglichkeiten, Bedürfnissen und Ressourcen gestaltet werden. Dabei spielen spezifische Anregungen und Unterstützungsangebote, z. B. didaktisch / methodische Prinzipien für Bildung und Unterricht eine Rolle, wie beispielsweise Elementarisierung, Anschaulichkeit, Strukturierung, Lebensnähe, Individualisierung und adaptives Lernen (Stöppler / Wachsmuth 2010, 50ff.). Die pädagogische Sichtweise stellt nicht die Behinderung in den Mittelpunkt der Betrachtungen: Primäres Interesse hat die Beeinträchtigung von Bildung und Erziehung, daher bezeichnete Bleidick (1984, 186) Behinderung als „intervenierende Variable“ im Erziehungsprozess und führt als Beispiel die / den SchülerIn mit Körperbehinderung an, die / der aus medizinischer Sicht durchaus behindert ist, aber am Gymnasium lernzielgleich unterrichtet wird und demnach im pädagogischen Sinne nicht behindert ist. Erziehung und Bildung kann auch ohne Vorliegen einer nachweisbaren Schädigung beeinträchtigt sein. Der Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung ist aus pädagogischer Sicht äußerst heterogen, denn der besondere Bildungs- und Erziehungsbedarf kann als Resultat spezifischer Lebenssituationen, unter den Bedingungen einer organischen Schädigung sowie gesellschaftlicher Erwartungen und Zuschreibungen gesehen werden (Fornefeld 2013, 91f.).

Zusammenfassung

Der pädagogischen Perspektive dieses Buches liegt eine kompetenz- und entwicklungsorientierte Sichtweise zugrunde, die von lern- und entwicklungsfähigen Individuen ausgeht. Dabei wird der Begriff „Menschen mit geistiger Behinderung“ beibehalten, um einen notwendigen Begriff zu nennen und einen möglichst respektvollen Umgang zu gewährleisten.


Fornefeld, B. (2013): Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik, 5. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel


Speck, O. (2016): Menschen mit geistiger Behinderung: Ein Lehrbuch zur Erziehung und Bildung, 12., überarb. Aufl. Ernst Reinhardt, München / Basel


Übungsaufgaben zu Kapitel 1

Aufgabe 1

Welche der im Kasten in Kapitel 1.1 genannten Begriffe enthalten stigmatisierende und vorurteilsbehaftete Inhalte? Welche sind exklusiv / inklusiv?

Aufgabe 2

Versuchen Sie, eine eigene Definition von geistiger Behinderung zu entwerfen.

Aufgabe 3

Schauen Sie sich einen der folgenden Spielfilme an, in denen geistige Behinderung thematisiert wird. Wie werden Menschen mit geistiger Behinderung dargestellt?

Die Kunst, sich die Schuhe zu binden (2011). Regie: Lena Koppel

Im Weltraum gibt es keine Gefühle (2010). Regie: Andreas Öhmann

Me too – Wer will schon normal sein? (2009). Regie: Álvaro Pastor Gaspar, Antonia Naharro

Ben X (2007): Regie: Nic Balthazar

Freakstars 3000 (2003). Regie: Christoph Schlingensief

Verrückt nach Paris (2002). Regie: Pago Bahlke, Eike Besuden

2 Ätiologie der geistigen Behinderung

„Es ist keine Krankheit! Es ist eine Kondition, ein Zustand.

So wie der eine blond ist, habe ich eben das Down-Syndrom.

Es ist viel mehr ein Charakteristikum als eine Krankheit. (…)

Es war die Medizin, die damit begonnen hat, den Begriff im Diskurs als Krankheit zu prägen“ (Pineda 2010).

medizinische Ursachen

Ätiologie bedeutet die Lehre von den Ursachen von Erkrankungen und ihren auslösenden Faktoren, in diesem Kontext also die möglichen Ursachen der geistigen Behinderung aus medizinischer Sicht.

Die neuere biogenetische Forschung hat detaillierte ätiologische Daten ermitteln können (Speck 2016, 58).

Es ist zu berücksichtigen, dass eine Beeinträchtigung abhängig ist von Art, Schwere und Zeitpunkt der schädigenden Einwirkung sowie den Kontextfaktoren (Seidel 2006, 162). Die medizinische Perspektive wird häufig aufgrund der ihr zugewiesenen Defizitorientierung kritisiert, dennoch hat sie großen Nutzen für die pädagogische Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung (Fischer 2008, 21). Einige Erkrankungen können durch frühzeitiges Erkennen und Wissen über phänotypische Besonderheiten in der Entwicklung weitgehend gemildert werden. Untersuchungen der Ätiologie von Behinderungen sind wichtig, um ein mögliches Risiko für andere Familienmitglieder (weitere Kinder, Bruder oder Schwester mit Kinderwunsch) festzustellen. Auch kann eine ätiologische Diagnose Informationen über weitere Erkrankungen (Komorbidität), Verlauf, Folgen und therapeutische Implikationen verschaffen. Aufgrund klinisch-genetischer Untersuchungen können bei ungefähr 40–60 % der Menschen mit geistiger Behinderung die Ursachen festgestellt werden (Haveman / Stöppler 2014, 39).

ätiologische Ursachen

Es gibt verschiedene ätiologische Ein- und Aufteilungen der Behinderungen; im Folgenden soll eine Aufteilung nach

1. chromosomal verursachter geistiger Behinderung,

2. metabolisch verursachter geistiger Behinderung und

3. exogenen Formen

erfolgen. Daneben gibt es eine Reihe von Erkrankungen und Syndromen, die bislang noch ätiologisch unklar sind.

2.1 Chromosomal verursachte geistige Behinderung

Erbkrankheiten

Menschliche Erbkrankheiten basieren auf Veränderungen der Chromosomenzahl oder -struktur, auch phänotypische Auswirkungen sind darauf zurückzuführen. Chromosomal bedingte geistige Behinderungen entstehen durch Abweichungen der Chromosomen in Anzahl (numerische Chromosomenaberrationen) oder Struktur (strukturelle Chromosomenaberrationen). Zum Verständnis ist ein kleiner Exkurs zu den genetischen Grundlagen notwendig.

Die Chromosomen des Menschen

Regelrechter Chromosomensatz: Die Chromosomen des Menschen enthalten die genetischen Informationen und bestehen aus DNS (Desoxyribonukleinsäure) und Proteinen. In jeder Körperzelle des Menschen befinden sich 46 Chromosomen bzw. 23 Chromosomenpaare. Jedes Chromosom ist demnach zweifach vorhanden bzw. besteht aus zwei haploiden Sätzen mit jeweils 23 Chromosomen (ein Chromosomensatz stammt aus der Eizelle der Mutter, ein Chromosomensatz aus dem Spermium des Vaters). Unterschieden werden können 22 Körper- oder autosomale Chromosomenpaare (1–22) sowie ein Geschlechts- oder gonosomales Chromosomenpaar (23) – dieses besteht beim Mann aus einem X-und einem Y-Chromosom, bei der Frau aus zwei X-Chromosomen. Jedes Chromosom ist mit einem DNS-Molekül ausgestattet, auf dem Tausende von Genen aufgereiht sind. Bei Teilung der Zelle wird die DNS verdoppelt bzw. repliziert, bei den sich neu bildenden Tochterzellen wird ein vollständiger Satz von Genen vererbt (Steffers / Credner 2011, 13ff.; Reece et al. 2016, 380ff.).

Ein Karyogramm stellt eine geordnete Darstellung der Chromosomen einer Zelle dar und gibt eine gute Übersicht über mögliche numerische oder strukturelle Chromosomenfehler (Teufel 2014, 3).


Abb. 3: unauffälliges Karyogramm a) einer Frau (Originalaufnahme) und b) eines Mannes (Schema) (Sonnleitner / Rojacher 2009, 56)

Zum weiteren Verständnis der chromosomalen Grundlagen ist die Betrachtung von Meiose und Mitose wichtig.

Mitose

Der menschliche Lebenszyklus beginnt mit der befruchteten Eizelle (Zygote), die die beiden haploiden Chromosomensätze der mütterlichen und väterlichen Zelle trägt. Durch unzählige Zellteilungen (Mitose) entwickelt sich ein Mensch mit unermesslich vielen Körperzellen. Aufgrund der Replikation erhält jede Tochterzelle Chromosomen mit genetisch identischer Information.

Meiose

Zur Bildung der Keimzellen erfolgt die Meiose, auch Reifungs- oder Reduktionsteilung genannt. Dabei wird die Anzahl der Chromosomen auf die Hälfte reduziert, um zu vermeiden, dass – wie in der mitotischen Teilung – bei einem diploiden Satz von 46 Chromosomen bei der Befruchtung eine Verdopplung auf 92 stattfindet. In der Meiose findet durch die zufällige Verteilung das Crossing-Over (Austausch) der Chromosomen bzw. der Geninformationen und die damit verbundene Neukombination der Gene statt. Dadurch entsteht eine genetische Vielfalt.

Zusammenfassung Mitose und Meiose

Mitose: In der Mitose erfolgt die Vermehrung der Zellen; es entstehen zwei erbgleiche Tochterzellen.

Meiose: In der Meiose kommt es zur Reduktion des diploiden auf einen haploiden Chromosomensatz, um zu vermeiden, dass sich die Anzahl der Chromosomen bei der Befruchtung verdoppelt. Dazu muss der diploide Chromosomensatz auf einen haploiden halbiert werden, dies geschieht durch eine besondere Form der Zellteilung, der Meiose (Bils / Brixius 2011, 29ff.; Reece et al. 2016, 326ff. ).

Chromosomenaberrationen

Im Kontext von Meiose und Mitose können numerische (die Anzahl betreffende) oder strukturelle (die Struktur betreffende) Fehler bei der Chromosomenverteilung auftreten, die zu vielfältigen Krankheitsbildern führen können. Diese können sowohl in den Autosomen als auch in den Gonosomen auftreten (Steffers / Credner 2011, 13ff.; Sonnleitner / Rojacher 2009, 58ff.).

 

Numerische Aberrationen – Abweichungen in der Anzahl der Chromosomen: In Mitose und Meiose können Fehler auftreten, sodass sich die gepaarten Chromosomen nicht trennen; es kommt zur sogenannten Nondisjunction, z. B. wenn sich ein Chromosomenpaar nicht trennt und die Chromosomen auf die Tochterzellen fehlverteilt werden. Daraus können Monosomien (Chromosom liegt nur einmal vor) und Trisomien (Chromosom liegt dreifach vor) entstehen. Syndrombezeichnungen weisen häufig auf die vorliegende Fehlverteilung hin; z. B. ist bei der Trisomie 21 das Chromosom 21 dreifach vorhanden.

Strukturelle Aberrationen – Abweichungen in der Struktur der Chromosomen: Es kann zu Chromosomenbrüchen und -verlusten kommen, dabei kann zwischen Deletion, Duplikation, Inversion sowie Translokation unterschieden werden (Tab. 3). Auch hier weisen Syndrombezeichnungen auf die vorliegende strukturelle Aberration hin, z. B. bedeutet ein q, dass der lange Arm des Chromosoms und ein p, dass der kurze Arm des Chromosoms betroffen ist (z. B. 5p-minus-Syndrom, 7q-Syndrom).

Tab. 3: Chromosomenaberrationen


DeletionFehlen eines Chromosomenabschnitts; Verlust von genetischen Informationen
Duplikationzweifaches Vorhandensein eines Chromosomenabschnitts
InversionUmkehrung der Chromosomenabschnitte
TranslokationVerlagerung von Chromosomen bzw. -teilen auf andere Chromosomen balancierte Translokation: genetische Informationen bleiben konstant unbalancierte Translokation: genetische Informationen gehen verloren

autosomal und gonosomal

Chromosomenfehlverteilungen können sowohl in den Autosomen als auch in den Gonosomen auftreten: Autosomale Aberrationen entstehen durch eine Fehlverteilung der Chromosomen 1–22 während der Meiose, gonosomale Aberrationen hingegen durch eine Fehlverteilung der Gonosomen bei der Meiose. Aberrationen in Zahl und Struktur der Gonosomen führen zunächst zu Störungen der Genitalentwicklung, können aber auch das körperliche Wachstum beeinträchtigen. Als häufig auftretende und bekannte Syndrome (Kap. 3.1) sind das Fragile-X-Syndrom, speziell beim weiblichen Geschlecht das Ullrich-Turner-Syndrom (X0-Syndrom), bei dem ein X-Chromosom fehlt, und beim männlichen Geschlecht das Klinefelter-Syndrom (XXY), bei dem ein X-Chromosom zusätzlich zum Gonosomenpaar vorhanden ist, zu nennen (Neuhäuser 2016, 297ff.).

dominant und rezessiv

Bei der Vererbung sind dominante und rezessive Merkmale zu unterscheiden; während dominante Merkmale obligat in jeder Generation auftreten, können rezessive Merkmale mehrere Generationen überspringen.

2.2 Metabolisch verursachte geistige Behinderung

Stoffwechsel

Die im Folgenden besprochenen Syndrome geistiger Behinderung entstehen durch Störungen im Stoffwechsel (Metabolismus); diese können in allen für den Körper und seine Funktionen wichtigen Substanzen und Bausteinen vorkommen (z. B. in Aminosäuren, Proteinen, Kohlenhydraten, Lipiden und anderen Fetten, Purinen etc.). Bedingt werden die Störungen durch Genmutationen, die nicht durch numerische und strukturelle Chromosomenaberrationen zu erkennen sind, sondern ein Gen oder einige zusammenwirkende Gene betreffen. Sie wirken über die Proteine auf den Organismus. Krankheiten können zum einen durch falsch strukturierte Proteine oder Proteinverbindungen (z. B. Mukoviszidose), zum anderen durch verringerte oder falsche Aktivität bestimmter Proteine, z. B. bei Enzymdefekten, entstehen. Dadurch wird der Abbau von Produkten verhindert, die für den Körper giftig sind. Diese sammeln sich im ZNS, in Blut und Gewebe etc. an und können eine Hirnschädigung verursachen. Bei einigen Erkrankungen, die in den ersten Lebenswochen entdeckt und sofort behandelt werden, kann bei strikter Einhaltung einer bestimmten, meist lebenslangen, Diät eine normale Entwicklung erfolgen.

2.2.1 Störungen im Aminosäurestoffwechsel

Aminosäuren sind wichtige Bausteine der Proteine (Eiweiße), die entscheidende Bestandteile fast aller Organe sind. Während der Verdauung werden die Eiweiße in Aminosäuren zerlegt; die frei gewordenen Aminosäuren können zum Aufbau von körpereigenen Eiweißen, z. B. bei Wachstums- und Reparaturvorgängen, dienen.

Phenylketonurie

Phenylketonurie (PKU) ist z. B. eine häufige Stoffwechselstörung, bei der die Aminosäure Phenylalanin nicht ordnungsgemäß abgebaut wird. Das Enzym, das im Normalfall das mit der Nahrung aufgenommene Eiweiß Phenylalanin abbaut, ist nicht funktionsfähig. Dadurch reichert sich Phenylalanin in Blut und Geweben an und kann eine Hirnschädigung verursachen. Bleibt die Erkrankung unerkannt und unbehandelt, führt dies zu einer verzögerten Entwicklung des Gehirns und zur geistigen Behinderung. Wird die PKU jedoch rechtzeitig erkannt und eine spezielle eiweißfreie Diät verabreicht und eingehalten, kommt es zu einer normalen Gehirnentwicklung; d. h. die betroffene Person muss lebenslang konsequent auf Eiweiß enthaltende Nahrung verzichten.

2.2.2 Störungen im Kohlenhydratstoffwechsel

Kohlenhydrate

Kohlenhydrate spielen vor allem als schnell verfügbare Energiequelle eine große Rolle. Sie können der Größe nach in Mono-, Di- und Polysaccharide eingeteilt werden. Bei den Störungen im Kohlenhydratstoffwechsel unterscheidet man Mukopolysaccharidosen, Mukolipidosen und Oligosaccharidosen. Sie verursachen vor allem Funktionsstörungen im Knochenwachstum, in der Skelettentwicklung, können aber auch Gehirn, Leber, Milz etc. betreffen (Neuhäuser 2013, 70ff). Bekannte Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels sind z. B. die Galaktosämie und die Mukopolysaccharidosen.

Galaktosämie

Galaktosämie ist eine erbliche Störung im Stoffwechsel der Galaktose. Aufgrund des Fehlens eines bestimmten Enzyms kann die Galaktose nicht im Stoffwechsel abgebaut werden, sodass im Körper schädliche Substanzen angereichert werden. Eine konsequente und lebenslange galaktosefreie Diät stellt die einzige Behandlungsmethode dar (ACHSE e. V. 2010, 78).

Mukopolysaccharidose

Auch Mukopolysaccharidosen sind erblich bedingt; bei ihnen kommt es in der Regel zu Ablagerungen vor allem im Zentralen Nervensystem (ZNS) und im Skelett, die zu einem progressiven Verlauf der Krankheit und einem frühen Tod führen können (ACHSE e. V. 2010, 81). Bekannt sind sieben Formen von Mukopolysaccharidosen, wobei nicht alle zwangsläufig eine geistige Beeinträchtigung zur Folge haben.

2.2.3 Störungen im Fettstoffwechsel

Lipidosen

Auch Fette (Lipide, Lipoide) sind wichtige Bausteine. Bei Störungen des Fettstoffwechsels kann es zur Speicherung dieser Substanzen kommen, die z. B. zu vorzeitigem Abbau von Funktionen führen. Lipidosen betreffen vor allem Nervenzellen und verursachen Funktionsstörungen der Ganglienzellen, wodurch es zu Demenz und zum Abbau erworbener Fähigkeiten kommen kann (Reece et al. 2016, 186ff.; Steffers / Credner 2011, 225ff.).

Früherkennung durch Neugeborenenscreening

Einige Erkrankungen lassen sich kurz nach der Geburt durch entsprechende Untersuchungen nachweisen, einige werden routinemäßig durchgeführt. Ziel des sogenannten Neugeborenenscreenings ist es, bestimmte Erkrankungen, wie angeborene Stoffwechselerkrankungen und Endokrinopathien, die sich mit hoher Sicherheit diagnostizieren und therapieren lassen, frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Das Neugeborenenscreening wird bundesweit durchgeführt und von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert. Durch die Abnahme von Blut des Neugeborenen (ca. 3. Lebenstag) können von den hier aufgeführten angeborenen Stoffwechselerkrankungen Galaktosämie und Phenylketonurie erfasst werden.

2.3 Exogene Faktoren

äußere Einflüsse

Bei exogenen Faktoren handelt es sich um Störungen und Schädigungen, die durch exogene (von außen wirkende) Faktoren auf das Kind vor, während und nach der Geburt einwirken können. Abhängig vom Zeitpunkt der Schädigung kann zwischen prä-, peri- und postnatalen Formen unterschieden werden.

2.3.1 Pränatale Ursachen

Pränatal bedeutet vorgeburtlich und bezeichnet demnach Schädigungen, die vor der Geburt auftreten. Die pränatale Phase und zu diesem Zeitpunkt auftretende Schädigungen, können, wie in Tabelle 4 ersichtlich, eingeteilt werden.

Tab. 4: Einteilung der pränatalen Phase und der möglichen auftretenden Schädigungen


BezeichnungZeitAuftretende Erkrankungen
BlastemphaseBefruchtung bis 15. Schwangerschaftstag (SST)Blastopathien
Embryonalphase15. SST bis 8. Schwangerschaftswoche (SSW)Embryopathien
Fetalphase9. SSW bis GeburtFetopathien

Entwicklungsstörungen

Schädigungen in der Embryonalphase können – abhängig vom Zeitpunkt des Auftretens – zu sehr schweren Entwicklungsstörungen des Embryos führen. Schädigungen in der Fetalphase, die durch Wachstum und Reifung der Organe gekennzeichnet ist, können zu Reifungs- und Funktionsbeeinträchtigungen führen (Hasselblatt et al. 2015, 74ff.).

teratogene Noxen

Die pränatale Entwicklung kann durch vielfältige schädliche Einflüsse beeinträchtigt werden. Dazu gehören physikalische, chemische, biologische Einflüsse sowie Erkrankungen der Mutter, die zu Störungen in der Entwicklung, Fehlbildungen und zu Behinderungen führen können. Diese Faktoren werden teratogene Noxen (giftige Substanzen / Ereignisse) genannt. Ursachen der pränatalen Schädigungen können Infektionen, Strahlen, Gifte (Medikamente, Alkohol, Drogen) sein.

Pränatale Infektionen

diaplazentare Übertragung

Vorgeburtliche Infektionen können eine geistige Beeinträchtigung als Folge haben. Die meisten Infektionen können diaplazentar, d. h. über die Plazenta auf das ungeborene Kind übertragen werden, einige (Zytomegalie, HIV) auch über die Muttermilch. Tabelle 5 gibt eine Übersicht über die häufigsten pränatalen Infektionen.

Tab. 5: Übersicht pränatale Infektionen (Steffers / Credner 2011, 20f.; Hasselblatt et al. 2015, 102ff.)


ErkrankungErregerFolgen/Symptome
RötelnErstinfektion der Schwangeren mit Rubellavirus (Rötelnvirus)Rötelnembryopathie (Gregg-Syndrom);HerzfehlerKataraktInnenohrschwerhörigkeit
ToxoplasmoseToxoplasma gondii (rohes Fleisch, Katzenkot)Fetopathie;Enzephalitis, Vergrößerung von Leber und Milz, Hydrozephalus
ZytomegalieHerpes-Virus (CMV)Fetopathie;Innenohrschwerhörigkeit, Hydrocephalus, Vergrößerung von Leber und Milz
Lues oder SyphilisBakterium Treponema pallidum spp. pallidum (Infektion durch die Mutter während der Schwangerschaft oder Geburt)Lues connata;Meningitis, Hydrocephalus, Gehörlosigkeit
HIV/AIDSHI-VirusVergrößerung von Leber und Milz, ständig wiederkehrende Infektionskrankheiten
ListerioseListeria monocytogenes (wird übertragen durch Milch, rohes Fleisch, Rohkost)Granulome in allen Organen (gutartige, knötchenförmige Gewebeneubildungen) Pneunomie, Meningitis

Strahlen

Mutationen

Strahlen können zu einer Vermehrung der Spontanmutationen führen. Die Mutationsrate steigt mit der Höhe der Strahlenbelastung an; es kommt zu Störungen der Zellteilungen. Die teratogene Wirkung von Strahlen zeigt sich z. B. bei den Opfern der Atombombenkatastrophen von Hiroshima und Nagasaki (Neuhäuser 2013, 130); aber auch Röntgenbestrahlung kann das Kind im Mutterleib gefährden.

Chemische Noxen

Zu den chemischen teratogenen (äußeren) Faktoren, die diaplazentar die Entwicklung des ungeborenen Kindes beeinträchtigen und zu Wachstums-, Funktionsstörungen sowie zu Fehlbildungen führen können, zählen Alkohol, Drogen, Nikotin und Medikamente.

Alkohol

Aufgrund seiner Fettlöslichkeit geht Alkohol leicht diaplazentar auf das Kind über, das pränatal noch nicht über ausreichende Enzyme zum Abbau verfügt, sodass das Kind den gleichen Blutalkoholspiegel wie die Mutter hat. Abhängig von der Menge des Alkohols kann eine Alkoholembryopathie entstehen (Kap. 3.1).

Drogen

Zu den chemischen Noxen mit teratogener Wirkung gehören außerdem Drogen (z. B. Kokain, Heroin, LSD). Die klinische Beobachtung belegt bereits Entzugserscheinungen von betreffenden Neugeborenen (Neuhäuser 2013, 127f.).

Medikamente

Des Weiteren gibt es einige Medikamente, deren Einnahme bei schwangeren Frauen zur Beeinträchtigungen der Entwicklung des Ungeborenen führt. Das bekannteste Beispiel stellt das Medikament „Thalidomid“ dar, im Volksmund unter dem Markennamen „Contergan“ bekannt, das 1961 zu Beeinträchtigungen und Fehlbildungen der Extremitäten (nicht zu geistiger Behinderung!) führte. Weitere Medikamente mit teratogener Wirkung sind Zytostatika (Substanzen, die das Zellwachstum hemmen, z. B. bei einer Chemotherapie) sowie bestimmte Sexualhormone. Eine ausführliche Übersicht gibt Neuhäuser (2003, 198).