Zinnobertod

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Kapitel 4


Stunden später erschien Lorenz in der Polizeidirektion Harz. Eine Entscheidung, die er bezüglich des Zeitpunktes eigenmächtig traf. Sie erwies sich goldrichtig. Zuerst der Bürgermeister, gefolgt von Evelyn Feist. Schlusslicht bildete der Ansprechpartner der hiesigen Dienststelle. Was sie alle gemeinsam hatten, war die Kenntnis über eine dürftige Datenlage. Ein Polizeioberrat riss ihn aus der Traumwelt. Die Gegenwart zeigte sich anders. Brutaler, wie sie im Gesicht geschrieben stand. Der Vorgesetzte ließ ihn spüren, dass Beförderung Macht bedeutete. Sein Titel an der Tür unterstützte diesen Eindruck. Lorenz registrierte es still. Es war ihm scheißegal. Beim Betreten des Raumes bohrte sich der Anblick einer dünnen Akte ins Auge. Sie lag auffällig auf dem sonst leergefegten Schreibtisch. Einem Scheißhaufen voll ungeklärter Fragen gleichkommend.

»Und, Oberkommissar, was tragen Sie bei, den Deckel zu füllen?«, fiel die Begrüßung frostig aus. »Sie haben sich den Befehlen widersetzt. Das kostet Sie Ihren Kopf. Bei allem gebührenden Respekt zu Ihrer Person. Der vorauseilende Glanz passt nicht zu der Tatsache, beratungsresistent zu sein. Ich habe Sie vor dem Auftritt in der Öffentlichkeit an meinem Tisch erwartet. Sie zogen es vor, den Bürgermeister zu beschwatzen. Scheiße, verdammt! Die Ausreden sind nichts wert«, verlor er sich in einer Handbewegung. »Egal. Ich höre Ihnen zu. Setzen Sie sich«, folgte ohne Übergang. »Ihre Kollegen in Magdeburg haben sie der Form halber telefonisch avisiert. Äh ja, das Gutachten, schauen wir uns das an«, erklärte er mit einer Kopfbewegung zur Tischplatte.

Der sprichwörtliche Stock im Rücken lockerte sich geringfügig. Der Sache zuliebe fahre ich einen Gang zurück.

»Hier, Ihr Vorgang,« sagte er, den Kriminalisten vom LKA einen Moment anstarrend. Er saß Lorenz aufrecht in einem ohne jeden Reiz wirkenden Büro gegenüber. Beide Hände lagen gefaltet auf einem Stapel beschrifteter Ordner. Die Kontaktlinsen auf den graugrünen Augen ließen seinen Blick kaum deuten.

»Entschuldigung! Ich hege keine Absicht, Stress zu bereiten. Es hätte ein paar Telefonate gebraucht. Stattdessen rechtfertige ich mich hier. Na ja, leider waren Sie nicht erreichbar. Die Order meines Chefs lautet: Handeln Sie! Das ist mit dem Präsidenten des LKA abgestimmt. Soweit zum Anschiss. Fragen?«

»Sie sind mit der Materie vertraut, Kriminaloberkommissar?«, änderte urplötzlich alles.

»Nein, nicht tiefgründig genug. Ich sitze hier, um von Erkenntnisfortschritten in der Fallbearbeitung durch ihre Dienststelle zu profitieren.«

»Herr Lorenz, das klingt nach Kritik. Hmm, die Details lesen Sie besser selbständig. Der Kollege vom Revierkriminaldienst, der den Fall bearbeitet, befindet sich im Krankenstand.«

»Okay. Ich helfe gern. Mit ein Krümchen Glück bin ich in drei bis vier Tagen wieder im LKA.«

»Vorbehaltlich, Sie schaffen es, zwei ungeklärte Fälle aufzuklären.«

»Was spricht dagegen? Der eigentliche Stachel bei meinen Ermittlungen ist die DNA. Darüber lässt sich ohnehin vielschichtig debattieren. Ich werde keine Ruhe geben. Das Bauchgefühl sagt mir, wir jagen einen einzigen Täter.«

»Gefühl hin oder her, Ihr Tatverdächtiger lacht sich eins ins Fäustchen.«

»Von mir aus. Ich leite hier eine komplett andere Ermittlung. Das Tatmotiv scheint sich weit mit Ereignissen in der Vergangenheit zu verknüpfen.«

»Hmm, das verwundert mich. Lassen Sie hören. Bin gespannt. Kaum springt ein Rock über den Weg, da halluzinieren Sie. Ihre leichtgläubige Vorgehensweise korrespondiert nicht mit der wirklichen Lage vor Ort. Mein Rat: Zügeln Sie ihr imposantes Seelenleben. An dieser Stelle bereitet mir das Angst.«

»Weil? Ich verstehe nicht.«

»Lorenz, verschaukeln Sie mich nicht.«

»Im Gegenteil. Sie verfügen über die höhere Dienststellung. Ich habe den Kontakt zur Basis«, schnaubte er. »Da draußen agiert ein Monster. Eine Tötungsmaschine. Wir philosophieren, halten uns an irgendwelche Vorschriften. Was meinen Sie, warum man mich an die Front geschickt hat. Bitte, wir schließen Frieden und vergessen die Kompetenzstreitigkeiten.«

»Lorenz, ihr dreckiges Grinsen sorgt für Irritationen. Sie sind das berühmte Schlitzohr, das Feuer schürt. Ist mir klar. Einzig fehlt den Worten der überzeugende Beweis.« Statt Frust zu versprühen, lächelte er artig. Er erhob sich, um auf Lorenz zuzugehen. »Hier, meine Hand. Schlagen Sie ein.«

Zögerlich folgte dessen Antwort: »Einverstanden! Deal!«

»Prima! In Ihrer Haut zu stecken, verkneif ich mir lieber. Egal! Ihr Geschäft scheinen Sie ja zu beherrschen. Handeln Sie nach Gutdünken.«

»Bin dabei. Es gibt einen relevanten Ansatzpunkt, um Licht in den Scheißhaufen der Gerüchteküche zu bringen.«

»Und? Sie meinen, das ist ein Anfang?«

»Ja! Es betrifft den Sohn des Vermissten. Er hat vor Jahren Selbstmord begangen. Das ist ein schwerer Verstoß gegen den Kodex der Sekte. Selbsttötung entspricht nicht der Moralauffassung der Gläubiger. Und Rache ist ein gebräuchliches Motiv für Tötung und Mord.«

»Dem stimme ich zu und unterschreibe es blind. Sie prüfen jeden Schatten eines Verdachts. Und bitte, nicht übertreiben. Negative Überraschungen brauche ich nicht.«

»Geduld und Diskretion beflügeln die Wahrheitssuche.«

»Da ist was dran. Gefällt mir, Lorenz. Angenommen, ich unterschätze Ihre Ungeduld. Stürzt Sie die Ignoranz der Gefahr in ein tiefes Loch?«

»Nein! Ich bin ja lange genug dabei. Heute gab es bemerkenswerte Begegnungen mit einmütigem Ende.«

»Ja und? Das Ergebnis?«

»Der Vermisste gab erste Hinweise zur Identität frei.«

»Das erstaunt mich. Aber warum überrascht mich das nicht? Ist das einer Ihrer Tricks, Lorenz? Wer verbirgt sich dahinter?«

»Herr Polizeioberrat. Nicht er, sondern was, ist die bessere Frage.«

»Wortklauberei. Karten auf den Tisch. Wie lautet die Lösung?«

»Wenn ich nicht einem Irrtum unterliege, gründet sie auf einem Konflikt.«

»Blödsinn! Sie benutzen wieder einen dieser irrsinnigen Blitzableiter?«

»Ja. Macht kontra Mord!«

»Es reicht. Schaffen Sie eine klare Beweislage. Spekulationen hasse ich. Und formen Sie Ihr taffes Selbstbewusstsein.«

»Das lob ich mir. Es gehört zu meiner Lebensart. Mit dem Auftritt im Rathaus entlädt sich die gigantische atmosphärische Energie komplexer Ermittlungen.« Sichtbar erleichtert fuhr er Luft schnappend in lockerer Tonart fort. »Bitte hören Sie. Ich beabsichtige, den unbekannten Tätern die Wichtigkeit des Erinnerns klarzumachen. Da ist diese rote Linie, die Hass in Gewalt umschlagen lässt. Diese Grenze wahrzunehmen, lautet: Bis dahin, okay. Überschreitung heißt, die Härte des Gesetzes zu erfahren.«

»Mensch Lorenz, wechseln Sie zur Staatsanwaltschaft. Das Denkmuster gefällt mir. Es ist nicht neu, nein. Zugegeben, ein Vermächtnis im Kampf gegen die Kriminalität. Damit das beste Argument, das ich in letzter Zeit zur Kenntnis erhielt.«

»Danke für die Lobeshymne! Schurken jagen gehört zu meiner Mission. Dem menschlichen Skelett in der Bode geben wir bald einen Namen. Die DNA wird’s hoffentlich richten. Und ein vielversprechender Anfangskontakt, der mich in die Nähe des Vermissten bringt.«

»Abgemacht, Oberkommissar. Das ist Klartext, der mir zusagt. Ich überlasse Ihnen den Vorgang zur eigenständigen Bearbeitung. Verstärkung wär ja deplatziert. Treiben Sie die Sache voran. Ihrem Chef lasse ich aus erster Hand die Arbeitsfortschritte zukommen. Passt das?«, verlor sich im Nebel der Gedankenwelt von Lorenz.

»Evelyn Feist, ich bin dir nahe«, schob sich grade in den Vordergrund. Zum allerbesten Zeitpunkt, wie es schien. Es passierte unverhofft, einer kurzentschlossen Eingebung folgend. Der Ewiggestrige stolperte in die bekannte Falle. Beziehungsgeflechte zum weiblichen Geschlecht vernebelten ihm oft genug das Hirn. Kaum einer der Gleichaltrigen im Amt schwor mehr auf das Festhalten an lockeren Bindungen, wie er es tat. Der Polizeioberrat würde diese Gedankengänge nicht gutheißen. Sie waren zu abstrakt, dem Instinkt und Glücksmomenten geschuldet.

»Lorenz, Ihre übergroße Klappe haben wir heute mit einem Handschlag besiegelt. Beifall klatschen Sie lieber nicht. Sie stehen sonst auf weiter Flur im Abseits. Na ja. Wem erkläre ich das. Mein Wort hat Gültigkeit: Hier, ergreifen Sie die schützende Hand. Wenn Sie Beistand benötigen, da, das Telefon.« Er hob es in Augenhöhe an und sagte impulsiv: »Es ist für Sie rund um die Uhr empfangsbereit.«

Lorenz nickte dankend. »Ich komme drauf zurück, garantiert«, antwortete er nüchtern in dem Bewusstsein, gleich das Büro zu verlassen. »Ich wurschtele mich durch«, behielt er für sich. Ebenfalls die Absicht, zuallererst Evelyn Feist zu befragen. Bei derartigen Gedanken klopfte der Puls. »Raus hier«, signalisierte eine Stimme in seinem Hirn. »Nimm die Akte und geh!«, verlor sich im weiteren Fortgang, wobei er abwesend darin blätterte.

Weil das Smartphone nervend tönte, schnappte er es, den Frust hineinschreiend. »KOK Lorenz am Apparat. Mit wem spreche ich?«

»Mensch Benno«, erwiderte da der Experte für digitale Forensik. »Das ist ja eine Ewigkeit her. Ausgezeichnet, dich an der Strippe zu haben. Bist mir im LKA entwischt.«

»Hallo Rolf, dein Pech, das mit dem Telefon. Ich mach´s kurz. Vor mir liegt der Bericht zu dem Toten in der Bode. Bekannt?«

»Hmm, ich schlussfolgere daraus, dass du im Moment in der Polizeidirektion im Harz sitzt.«

»Das ist eine veränderliche Größe. Ja, Treffer. Mindestens eine Woche lang. Bin für den Zeitraum unterstützend bei der Fallbearbeitung im Harzvorland tätig. Personalengpässe, du weißt«, verschluckte er nachdrängende Wörter. »Komm, verderben wir uns nicht den Tag mit solchen Themen. Hör zu. Ich benötige dringend deine Hilfe. Am Telefon in Kurzform«, schob er hinterher.

 

»Ja klar«, folgte blitzartig die Antwort.

»Du kennst meine Einstellung.«

Der Forensiker lachte in den Hörer. »Gib mir die Vorgangsnummer. Bleib den Moment am Apparat. Ich befrage den elektronischen Kumpel. Ah, da lässt sich was erahnen. Hier ist Fieses passiert«, hörte er den Freund ausrufen. »Ich stelle mir vor, dass dich die Analytik nebst Bewertung der gefundenen Spuren irritiert. Sag, haben die Kollegen bei den Ermittlungen Hinweise zum Umgang mit Quecksilber dokumentiert? Das wäre ein Schlüssel von hoher Relevanz. Der Tote hatte damit hundertprozentig zu schaffen. Aus meiner Sicht besteht der Verdacht, dass er der Wirkung des Schwermetalls ausgesetzt war.«

»Rolf, ein chemisches Element? So ein Stoff wie im Thermometer?«

»Korrekt. Ist ein heimtückisches Material. Es schädigt das Nervensystem.«

»Bitte beschreib das näher.«

»Wenn du das wünscht, gern. Ich empfehle, Details nachzulesen. Sieh im Internet nach. Das langt hinreichend, ohne in tiefgründige Fachsimpelei zu verfallen.«

»Vortrefflich gesprochen. Setzt voraus, mein Lieber, die Identität des Toten zu kennen.«

»Benno, das ist die eine Seite. Für eine umfassendere Antwort: Geh tief in dich. Überlege, was ein Mensch erlebt, der Stimmungsschwankungen ausgesetzt ist. Die setzen sich fort mit Erregungszuständen. Schlimmstenfalls treten Sprachstörungen und Muskelzuckungen ein. Sag mir, was der Betroffene unternimmt?«

»Er sucht den Arzt auf, was sonst!«

»Akkurat! Das bedeutet, derjenige vertraut sich im Regelfall einem Facharzt an. Hast du in den Protokollen zu diesem Erich Feist passende Hinweise gefunden?«

»Nein. Aus anderer Richtung steht Hilfe an. Ich bin mit der Enkelin des Vermissten in Kontakt. Sie hat die Anzeige aufgegeben. Staune, ihr Opa war ein bekannter Führer der örtlichen Sekte. Später der beliebteste Wanderführer im Harzvorland.«

»Bleiben wir beim Thema. Für mich liegt der Teufel im Detail. Benno, Gesundheitsschädigungen lassen sich nicht lange verbergen. Erst recht nicht bei einer solch öffentlich bekannten Person.«

»Ich verstehe. Danke, Rolf. Sag mir lieber, was das alles mit der biologischen Arbeitsstofftoleranz auf sich hat. Die findet explizit im Text Erwähnung. Ist mir zu fachspezifisch.«

»Hmm, glaub ich. Ist schwer für den Laien nachzuvollziehen. Pass auf! Anfangs merke dir dafür die Abkürzung, Benno. Ergo, BAT nennt sich das. Die liegt um die zweihundert Mikrogramm pro Liter im Blut, etwa vierhundert im Harn.«

»Ja okay. Was bedeutet das?«

»Das ist kein bloßes Zahlenwerk. Der springende Punkt: Darin versteckt sich der unvermeidliche Todesstoß. Das ist eine Dosis, die ohne ärztliche Behandlung die Gesundheit schädigt.«

»Rolf, bitte mach’s dem Laien verständlich. Ich habe einen Versuch, das dem Bürgermeisterteam zu erklären.«

»Verstehe! Bist du empfänglich für eine klitzekleine Lektion?«

»Ja! Du beschämst mich.«

»Ach hör auf. Keine Gefühlsduselei. Merke dir: Bei einer Vergiftung speichern die Organe wie Leber, Milz oder das Gehirn Quecksilber. Die Nieren scheiden es langsam wieder aus. Eine Schädigung zeigt sich durch Müdigkeit, Kopf- und Gliederschmerzen. Die Klärung der Frage, wie das Gift in den Blutkreislauf gelangte, gibt dir Auskunft über die Todesquelle. Die basiert in erster Linie auf langanhaltend verabreichten, hohen Konzentrationen. Zum Beispiel durch Einatmen von Dämpfen oder Beimischung in den Nahrungskreislauf. Richte die Suche darauf aus!«

»Okay, danke für die Lehrstunde.«

»Angenommen! Dafür bin ich da! Das ist pure, angewandte Wissenschaft.«

»Och, brauchst du Lobgesang?«

»Mensch Rolf, dich drückt kein Chef im Hintergrund. Du bewertest Materialien und erfährst Aufmerksamkeit. Ich laufe gegen Wände.«

»Hmm, unter Umständen. Du weißt, im Team waren wir unschlagbar. Ich bin voll aufgeregt. Was hältst du davon, das zu wiederholen?«

»Klingt vernünftig!«

»Wie denn sonst. Ich bin dein Freund. Hinzu kommt die Tatsache, im Dienstgrad höhergestellt zu sein. Hast gewaltig was nachzuholen.«

»He, he, du fieser Knackarsch. Lass uns das beim Bier austauschen.«

»Wann, wo? Benno, einen Wunsch hege ich. Bringe mir den Kopf des Toten. Die Gerichtsmediziner umarmen dich dafür. Ich sage, da ist mehr drin.«

»Scheiße, du triffst den wunden Punkt. Wieso der fehlt, hmm, lässt sich nicht beantworten. Gefühlsmäßig schließe ich einen Sturz aus. Den Kopf hat jemand gewaltsam entfernt.«

»Denkbar. Hier verging sich ein Perverser. Der Normalo ist zu solcherart Schandtat nicht imstande.«

»Hoi, ist da ein Auftragskiller unterwegs?«

»Keine Sorge. Es ist ein vager Hinweis, der sagt, bei den Ermittlungen allergrößte Vorsicht walten zu lassen. Zuerst weben wir ein Spinnennetz.« Er lachte. »Rolf, ich habe dich gefunden.«

»Ja, am Telefon.«

»Das ist ein Anfang. Du wirst hier im Harz gebraucht. Ich brauche meinen Freund. Ein Auftrag. Für uns beide. Der Ermittlungsführer bin ich. Was sagst du?«

Er sah logischerweise nicht, dass sich der Gesichtsausdruck von Rolf verfinsterte.

»Komm her. Ich erzähle dir alles. Da steht eine Riesensache im Raum.«

»Das schaffst du ohne mein Zutun, Benno!«, schallte es aus dem Hörer. »Du gehörst zu der Sorte Mensch, die man einen Heißsporn nennt«, verfiel er in ein lauthalses Lachen, das sich blechern anhörte.

»Ja, nimm mich seelenruhig hops, Rolf. Ich rieche deinen bissigen Spott am Telefon. Bitte minimiere das Risiko für die Heldenpose. Du bist ein Forensiker, der wissenschaftlich fundierte Beweislagen schafft.«

»Benno, echte Hilfe erhältst du erst, wenn ich umfangreicheres Material für die Analytik an die Hand bekomme.«

»Übertreibe nicht, Rolf. Auf Tötung oder Mord zu plädieren, dafür ist es zu früh. Zusätzlich gibt es da unter Umständen ein anderes Problem.«

»Sprich, das wäre?«

»Du glaubst es kaum. Ein ausgedünntes Amt. Im Gegensatz nicht zuletzt mein Ehrgefühl, den Vorgang erfolgreich abzuschließen. Bitte versteh das nicht falsch. Der einzige Joker vor Ort bin ich.«

»Oha, sehe ich da Speichel am Kinn runterfließen? Heftiges Eigenlob, was du da verbreitest! Na, ich wünsche Glück. Schau´n wir, ob das reicht, Personalmanko wettzumachen.«

»Rolf, der Kommentar folgt erst an der Theke beim Bier.«

»Kein Problem. Bis dahin tu mir einen Gefallen. Ich erfahre zuerst, wie das Gift in das Opfer gelangte. Du bearbeitest ab sofort einen Mordfall. Das setzt komplett andere Prioritäten. Wirst du die SOKO leiten?«

»Dieser Blick in die Zukunft ist abwegig. So weit voraus schaue ich nicht.«

»Komm, lass dir nicht jedes Wort aus dem Mund ziehen. Da spinnt sich was im Hintergrund zusammen. Ich würde dich sonst falsch einschätzen, Benno.«

»Dein Riecher erlaubt mir nicht, Hals über Kopf Sachen neu zu erfinden. Die Wahrheit, mein Freund. Es gibt eine heiße Spur.«

»Ich wusste es. Benno, denk dran, Alleinarbeiter sind im Hause auf Dauer verpönt. Es war ein sinnvoller Gedankenaustausch. Tschüss, mein Lieber«, verlor sich im pulsierenden Geräusch des Freizeichens.

Aufgelegt. Die Gelegenheit, urplötzlich aufkommende, gefühlsbetonte Anwandlungen zu unterdrücken. »Außer zu Evelyn, die auf mich wartet«, schoss ein Signal durch seinen Kopf.

Kapitel 5


Zwei Monate zuvor. Ein unheilschwangerer Sommertag im Harzvorland. Für Erich Feist der Tag des Harmagedon, der ihm das Ende der Welt in seiner derzeitigen Form brachte. Die entscheidende Schlacht zwischen Gott und Satan, bei der Christus alle ruchlosen Menschen vernichtet, trug sich unerkannt zu.

»Ich fass es nicht, dass du hier wieder aufschlägst«, passte nicht ernstlich zur Begrüßung durch die alte Dame.

»Oh, du raffst das nicht. Das ist echt peinlich. Egal, es ist der beste Moment, den wir bisher miteinander verbrachten, um zu reden.«

»Wenn du wieder fortgehst, kümmert sich die Gemeinschaft um dein Wohlergehen. Im Augenblick bist du hier. Nimm Platz. Schließen wir vorübergehend Frieden, der alten Zeiten wegen.«

Erna Feist kramte eine wuchtige Tasse aus der seitlich stehenden Vitrine heraus.

»Daraus hast du gern getrunken.«

»Stimmt, eine Meisterarbeit. Dafür bewundere ich dich.«

Die Wertschätzung erzeugte bei ihr ein gurgelndes Lachen. »Du kennst meine Gedanken. Wer wagt, der gewinnt. Ich habe auf das richtige Pferd gesetzt. Die Lasur für die Keramikarbeiten, den Figuren aus Holz, auf Papier entstammt einem uralten Rezept. Urgroßmutter hat das hervorgekramt, um den Vorfahren zu huldigen. Vergessen?«

»Nein, ich preise die scharlachrote Farbe mit den graublauen Wölkchen an der Innenwandung. Hmm, obendrein der anregende Pfefferminztee. Mein Gott, ist das ein Genuss!«

»Ja, für dich extra ohne Zucker. Wie die Plätzchen da drüben mit den Haselnüssen, zuckerfrei, dafür mit Naturhonig, Zimt, Anis. Ein Geheimrezept, geeignet, um jegliche Übeltäter von ihren Anhängern fernzuhalten.« Mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: »Vernichtend, wenn notwendig. Du verstehst, für mich sind sie Köder und Delikatesse zugleich. Sie rücken meine Schäfchen näher zusammen, entfachen dabei in mir eine geistige Kraft, die sie an uns bindet. Keiner kommt davon los, denn sie hilft uns, ins Paradies zu gelangen.«

Erich ließ den Redefluss ungestüm in die Stille fallen. »Ergötzt du dich, dass wir an einem Tisch zusammenfinden?«

Erna zuckte die Achseln. »War nicht unproblematisch, dir gegenüberzutreten.«

»Warum? Du verbreitest Angst. Sind die Kekse vergiftet?« Er wandte sich ihr zu, um daraufhin eine Antwort zu formulieren. »Nein, das bringst du niemals fertig. Wir standen uns in der Ehe einst nahe. Ich liebte dich auf meine Art. Erna, das Glück war uns hold. Mir hat es geholfen, die Freude am Leben zu fördern.«

»Tja, Erich, obschon du seit langer Zeit enge Freundschaften zu den Ungläubigen pflegst, liebäugelst du mit deren schamloser Lust. Auf deiner Wanderschaft bekehrst du sie nicht zu unserer Konfession. Du sonnst dich in ihrem Schmalz. Gefällst dir in der Rolle des Mythenführers im Harzvorland. Ha, ha, ha, da lässt sich nicht drüber lachen. Du bleibst eine Galionsfigur, die weltliche Werte verbreitet.«

»Das klingt gehässig. Gibt es ein Problem damit?«

»Ja! Beweise, dass du dem Leben in der Gemeinschaft ebenso im hohen Alter gebührende Selbstachtung abringst. Wenn du vor Harmagedon stirbst, bekommst du eine zweite Chance, um dich für oder gegen Gott zu entscheiden. Ich spreche im Ältestenrat für dich.«

»Erna, ich hoffe, dein Keksvorrat ist ausreichend. Bitte lass es mich in dieser Form sagen. Verzicht auf den himmlischen Genuss, nein, das zuzulassen ist eine fatale Sünde für die ohnehin arg strapazierten Geschmacksnerven. Die Leidensbilanz seit der räumlichen Trennung von dir ist erdrückend genug. Ich vermisse die überlegene Kochkunst meiner ehemaligen Gemahlin. Ich potenziere das Lob, welches bis auf den heutigen Tag die täglichen Weissagungen für ein beschaulicheres Leben einschließt.«

»Erich, vierzig Jahre lang berührte dich das kaum.«

»Das sagt sich mühelos dahin. Am Ende des Tages zerbrach alles an der Vergangenheit. Ungeachtet dessen hegst du den Wunsch, mich zu bekehren?«

»Richtig! Du gabst mir lange Beistand, warst wie ein Anker. Trotz alledem gelang es mir nicht, ausreichend Seelenfrieden für dich zu erbitten.«

»Nein, unbestreitbar nicht. Verstehe! Zumindest ist dir meine Lage vertraut.«

»Das ist im Nullkommanichts gesagt. Da verkommt alles zur Ausrede! Die Wahrheit lautet anders. Du leugnest die Geschichte, denn die brachte Tränen in die Augen. Sie erzählt das schmerzliche Geschehen über den Tod unseres Sohnes, den meines Bruders in den Nachkriegswirren. Wir liebten sie. Sie starben für den Gottesglauben.«

»Das lässt sich für mich mühelos nachvollziehen. Ich bin mir sicher, der abgrundtiefe Hass in dir zerstört dich eines Tages.«

»Hör auf, Erich, ich beschwöre deine Seele. Das ist eine nicht haltbare Vision. Fakt ist, sie erfuhren einen Wandel.«

 

»Lass das. Ist doch purer Blödsinn!«

»Hör auf, du verträgst die Wahrheit nicht. Ihr Tod schmerzt heute wie in jenen ausweglosen Stunden. Sie sind nicht umsonst gestorben, weil wir dadurch lernten, die Bibel noch tiefgehender zu lesen und zu erfahren. Die Gebote zu befolgen, ist eine der Lehren daraus.«

»Schluss damit, Erich. Ich habe genug davon. Es ist unerträglich, wie die ehemalige Hand Gottes ständig Lügen fabriziert.«

»Und du schaffst einen Mythos, indem du seine Gebote mit einer Vielzahl von Verboten belegst.«

»Ach ja? Was stimmt nicht mit deiner Seele, die vor Hurerei strotzt? Untreue in der Ehe erfordert konsequente Ahndung. Von dem Recht hast du reichlich abgebissen.«

»Schweig! Erna, ich verzeihe dir nie, dass du mir Fehlverhalten wegen des Kontaktes zu Ungläubigen vorwirfst. Grund genug für dich, um die Beständigkeit unserer Beziehung zu leugnen. Ergo, lass das Aufplustern. Dieses verdammte Orakeln hat mich zur geistigen Gefahr verschrien. Ich versuche, meiner Heimat ein geachteter Wanderführer zu sein. Was ist daran verkehrt? Wieso verstößt du einen alten Gefährten aus der Gruppe?«

»Oh, klingt nach schwerem Vorwurf. Mich mit Worten zu berauschen, gelingt dir nicht. Das zählt nicht. Sag mir Bescheid, sobald mein Versprechen deine Seele mit Ernsthaftigkeit erreicht und dir Schutz bietet. Erich, das gilt bis in die Ewigkeit. Eines akzeptiere. Der Eintritt in das Paradies kostet dich ein erneutes Bekenntnis. Überwinde den Schmerz. Ich kümmere mich um dein Seelenheil, egal, ob ich dafür Unmengen Plätzchen backe. Rette unsere Familie. Tritt vor die Versammlung. Den Brüdern und Schwestern fehlt eine orientierende Stimme. Meine Kraft reicht nicht aus, um die Botschaft Gottes nachhaltig zu verbreiten.«

»Nein, na sowas. Das ist ein verblüffend neuer Zug. Da erschließt sich mir leider eine andere Auffassung.«

»Ach? Erklär´s mir, Erich.«

»Erna, es dreht sich hier nicht um irgendeine Rettung des Seelenheils. Wenn wir uns nicht in der ganzen Komplexität des realen Lebens in der existierenden Welt verantwortlich einbringen, entfremdet sie sich uns. Nein, diese Stimmungslage frisst alles Bewährte auf. Sieh dir die Alten in den Gruppen an. Sie sind wie Wölfe in Schafskleidern. Ihre Heuchelei mit einem Riesenhass auf mich sind allgegenwärtig. Warum verbreiten sie, dass ich es für angebracht heiße, die Religion der Gemeinschaft zu verleugnen. Es gibt Mitglieder, die frönen in übertriebener Selbsteinschätzung offen den weltlichen Freuden. Dein Neffe Wilhelm zum Beispiel ist ein Trinker. Ist dir bekannt, dass er öfters Sex außerhalb der Ehe praktiziert? Wieso ehelicht er nicht eine Schönheit aus der Mitte der Gläubiger? Die Gelegenheit hierfür ist allgegenwärtig. Stattdessen raucht er Unmengen an Zigaretten, trinkt, kifft und beflügelt andere, es ihm gleich zu tun.«

»Stopp! Jammere nicht. Schlage den Maulaufreißern, den Müßiggängern vor, mehr zu beten. Lass sie die Bibel studieren. Bringe sie auf unseren Pfad Gottes zurück.«

»Erna, du verwirrst mich. Ich entspreche bedingt deinem Wunsch. Mein Rat ist, hinaus zu gehen, um die Unordnung dem Schöpfer im Gebet darzulegen. Wenn er aufrichtig ist, findet Wilhelm jemand, der ihm vertraut. Du dagegen hast dich vor langer Zeit von mir abgewandt. Eines habe ich mir bewahrt, Gott der Allmächtige gibt mir Freiheit.«

»Erich, ich fasse es nicht. Dieses Verhalten war es, welches dich von der Gemeinschaft entfremdete. Okay, bleib dabei. Zurückziehen ist eine der Lösungen. Erwarte nicht, dass sich in nächster Zeit jemand um deine Seele bemüht.« Beschwörend hob sie eine Hand, um damit enthemmt in der Luft herumzufuchteln. Erstaunlicherweise entwertete sie den erzeugten Druck. »Versteh, du gehörtest trotz des Verstoßes gegen das Gebot der außerehelichen Fleischeslust zu den aufrichtigen Ehemännern. Es ist mein sehnlichster Wunsch, dass du erneut zum angesehenen Mitglied der Gemeinde aufsteigst. Begreife, Ungehorsam erfordert Bestrafung. Es ist alles gesagt. Trinke den Tee. Wende dich mir zu. Ansonsten erwarte nicht, dass du in nächster Zeit wieder die Gelegenheit hast, dem Familientribunal Antworten zu erläutern.«

»Ich kapiere das nicht«, brummte er im Weggehen von der langen Rede betäubt vor sich hin. In aller Regel gab es keinen Rückwärtsgang.

»Nimm die Büchse mit den Glückskeksen, gönne der Zunge die Freude«, murmelte sie, sodass er den Rest nicht hörte. Ihr wohlmeinender Gesichtsausdruck erstarrte dabei zu einer Maske. »Sie bringen dich mir zurück, in eine andere, heile Welt. Geh, bevor mich dein Verlust schmerzt«, verlor sich im Raum. Die Tränen verbarg sie. »Verdammt, die Jahrzehnte im Dienst am Herrn, unserem Gott, verschwende ich nicht sinnlos.«