Zinnobertod

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»Oha, ich bin im Begriff, das zu unterschätzen. Ist nicht meine Absicht. Herr Feist, ich frage Sie mit aller Deutlichkeit. Weshalb fahren wir zur Hofanlage? Weil dort Ihre Cousine wohnt? Nein, Sie verheimlichen mir was. Für mich ist sie eine Zeugin. Die Vorladung zur Polizei wäre der bequemere Weg.«

»Ihr Problem! Ich helfe Ihnen auf die Sprünge.«

»Nein, danke! Ergo, worum geht’s? Ich meine, hat Ihre Cousine Andeutungen gemacht? Wieso bringen Sie die Familie ins Spiel?«

»Herr Lorenz, das überlasse ich Ihrem kriminalistischen Feingefühl. Erich hatte vor langer Zeit die Fähigkeit verloren, Sprachrohr Gottes zu sein. Die Gruppe hat sich von ihm abgewandt. Jene Achtung, die sie früher brüderlich miteinander verband, ist in Wut, Hass und Spott umgeschlagen.«

»Ja, ist eine verrückte Sache. Sie gehören ebenfalls diesem Kreis an«, sagte Lorenz zur Bestätigung nickend. »Vorschlag! Alles ist in Ordnung. Die Vergangenheit ist vorbei. Die Zukunft bietet einen vielversprechenden neuen Ansatz. Sehen Sie in mir eine Art Steuermann. Das entlastet Sie, großspurig zu tönen.«

»Da verkneife ich mir lieber das Lachen. Verzeihung, Herr Lorenz, wonach suchen Sie denn auf dem Hof? Welche Erkenntnis erhoffen Sie sich?«

»Jawohl! In erster Instanz nach der Dame, die eine Vermisstenanzeige aufgab. In Ihrem vertrauten Umfeld. Und, wie sich herausstellte, zu einer Person mit gleichem Familiennamen. Wie Sie, Wilhelm Feist. Mit dem Unterschied, dass er nicht redet. Sie dafür umso mehr. Erstaunlich, wie Sie ihn in den Himmel gehoben haben. Ich habe das nicht rasch genug verarbeitet, weil der Held Sekunden später ein Abtrünniger ist. Für mich ergibt sich da die genialste Aussicht auf eine bemerkenswerte Persönlichkeit.« Seine Stimme überschlug sich. »Ich vermute, der Ort kann uns einiges an Aufschluss verschaffen und helfen, den Tod aufzuspüren.«

In Bruchteilen von Sekunden durchfuhr Wilhelm ein eiskalter Schauer. Er reagierte verhalten. »Hmm, schwer zu sagen. Unser Gott ist unermesslich. Auf jeden Fall begegnen Sie überlegenen Ereignissen.«

Für sein unüberlegtes Herauspoltern ohrfeigte er sich innerlich. Üppig darüber zu reden, bringt Unglück. Halte Dich zurück, entsprach da eher den tausend Variablen für ein solches Szenario. Er hatte einen Fehler begangen. Zu spät. Der Bulle hielt bis heute nichts Konkretes in der Hand, außer geborgenen Teilen eines Skeletts. In dem Moment fuhr der PKW auf eine Toreinfahrt zu. Das imposante, zweiflügelige, dunkelbraune Holztor stand offen.

»Wir sind angekommen. Ich gehe vor. Cousinchen erwartet uns.« Der Rest seines Redestroms verlor sich in der verblüffenden Begrüßung.

»Hallo Wilhelm! Ach ja, mit angekündigtem Gast«, traf es beide aus Neugier erfülltem Mund. »Na, in dem Fall ein herzliches Willkommen, Herr Polizist! Ich bin Evelyn Feist. Höchstwahrscheinlich plauderte das Ihr Begleiter bereits aus«, fiel sie ihm mit einer Frage ins Wort. »Ihr Besuch kommt wider Erwarten. Gibt es denn einen Grund dafür?«

»Korrekt! Erinnern Sie sich? Es gibt eine Vermisstenanzeige bei der Polizeidirektion, die Ihre Unterschrift trägt. Beantwortet das die Frage? Fangen wir von vorn an«, sagte er schmunzelnd. »Mein Name ist Lorenz, Kriminaloberkommissar beim Landeskriminalamt in Magdeburg.«

»Oha, da bearbeiten Sie Mordfälle? Das ist hier nicht die richtige Adresse«, meinte sie steif.

»Ich akzeptiere Ihre Meinung, aber ich habe meine Gründe«, unterbrach er sie. »Penibel betrachtet, ist es das einzig Angemessene. Außer Ihnen gab niemanden, dem sein Verschwinden aufgefallen ist. Ist kurios. Ihr Cousin meinte, Sie sind eine Kämpferin.«

»Oh, da irrt er. Ich bin kein Fighter, nichts Übersinnliches. Der Vermisste ist Teil meiner Familie. Er hat mich aufgezogen. Seine Lehren zum Herrn sind auf mich übergegangen. Opa ist ein gutherziger Mensch mit ehrbaren Absichten. Hmm, Wilhelm, hast du das in der Form rübergebracht?«, fragte sie und wies mit einer Handbewegung in Richtung Haus. »Wenn es an dem ist, tretet ein.«

»Klar, was sonst, Evelyn! Familie ist heilig«, erzeugte bei ihr ein verächtliches Zucken der Mundwinkel. Sie lachte gequält.

»Na, ich schätze, du hast dem Kriminalisten deine Version eingeredet. Die Frage, die sich mir auftut, ist: warum?«

Wilhelm Feist zuckte mit den Achseln. »Was glaubst du? Ich habe geantwortet. Bin Zeuge, wie du.«

Lorenz nickte. Der Disput war ihm peinlich. Sein Aufenthalt nicht koscher. Er drehte sich ihren sanftmütig, braunen Augen zu.

»Bitte, mein Besuch ist eine reine Formsache. Ihre Aussagen sind dokumentiert. Ich habe sie gelesen. Dem Cousin gebührt Dank für die Idee, Ihnen persönlich zu begegnen.«

»Tja, was erwarten Sie von mir?«, fragte sie Aufmerksamkeit einheimsend. Das verschmitzte Lächeln ließ sich dabei nicht verbergen.

»Schau´n wir in die Zukunft. Ich glaube, die Lösung des Falls liegt in der Familie verborgen. Bitte, das ist eine rein rhetorische Aussage«, versuchte er den Satz abzuschwächen. Zu spät. Evelyn reagierte mit sichtbarer Leidenschaft, sich darin einzubringen.

»Herr Lorenz, eine Annahme, die sich momentan nicht bestätigen lässt. Außer mit meiner Zuarbeit? Verlangen Sie da nicht zu Anspruchsvolles?«

»Stimmt. Bleiben wir beim aktuellen Thema. Ohne Frage gibt es da weitere Geschehnisse abzuklären. Sofern Sie hierfür bereit sind. Die Vorladung auf die Polizeidirektion entfällt vorerst. Sagen wir, ich gewähre Ihnen eine Art Freundschaftsdienst.«

»Was denn, ist das eine Aufmunterung für ...«, fiel sie ihm erregt ins Wort, ohne den Satz auszusprechen.

»Oh ja. Das wäre vorstellbar«, ließ er sich feixend auf den spöttischen Tonfall ein. »Sie teilen kräftig aus. Ist eindrucksvoll! Ihr Cousin hat mich nicht ausreichend vorgewarnt. Tja, zu spät!«

»Nicht hundertprozentig. Ich bin überzeugt, tief graben ist angesagt. Dem Gedanken stimme ich zu. Wilhelm hat hoffentlich nicht dramatisiert. Was ich nicht zu leisten vermag, darüber entfällt jegliche Spekulation.«

»Genug. Kommen Sie runter, Evelyn Feist. Der Ermittler braucht Ihre Hilfe. Da gibt´s garantiert Informationen, die mich interessieren könnten. Sofern Sie, Verehrteste, das zulassen. Deal?«

»Hab ich eine Wahl?«, wandte sie sich fragend an Lorenz.

Dem war die Frage in Gegenwart von Cousin Wilhelm peinlich. Dessen Reaktion schien angesichts des Disputs verständlich.

»Evelyn, es stimmt. Die Gerüchteküche bietet fesselnde Einsichten, beantwortet sie. Gibt Auskunft darüber, was wahr und unwahr ist? Verdammt, du bringst mich in Schwierigkeiten!«

»Ist keine Absicht. Opa ist wie vom Erdboden verschluckt. Die Polizei ermittelt wegen des Toten in der Bode. Das bereitet mir panische Angst. Das ist meine Wahrheit.«

»Danke! Ein ehrliches Wort«, schob sich Lorenz in die Schusslinie der beiden. »Klar, Evelyn, dass Sie einen dicken Hals einheimsen.« Versöhnlich sagte er: »Ein Grund für Panikattacken sehe ich nicht. Keine Sorge, wenn’s an dem ist, merken Sie es.«

»Wie? Werde ich vorgeladen?«

»Nein. Ich bringe Sie zur Polizeidirektion. Das Protokoll fertigt ein Kollege, den ich auf die Lage eingestellt habe. Zufrieden?«

Sie schmunzelte. Lorenz meinte, eine gewisse Gelöstheit zu erkennen. Die knappe Antwort befriedigte ihn. »Ich nehme Sie beim Wort.«

»Hmm, na ja, wenn Sie das sagen.«

»Werde ich, denn uns eint ein Gedanke.«

»Und welcher?«

»Wir suchen beide eine Wahrheit, die für alles eine Erklärung bereithält.«

»Den Schritt gehe ich grundsätzlich mit. Herr Lorenz, bis auf die Tatsache, dass ich Gebete ausschließe, in denen religiöse Überzeugungen zu Worthülsen verkommen. Im Übrigen stehe ich an Ihrer Seite.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte er, bis ihm ein Licht aufging. Hier schwang Sympathie mit. Es gab da keine Sicht der Ereignisse, die diese Gefühlsregung trüben würde.

»Ich liefere Ihnen Auskünfte, egal, ob die mir gefallen oder nicht«, sagte sie gedämpft. Für Lorenz unsichtbar schrie die Stimme in ihrem Hirn: »Geh in die Offensive.« Seit einigen Minuten war ihr bewusst, dass sich mit dem Ermittler eine Chance bot, Bewegung in den Anzeigevorgang zu bringen. Zurückhaltung war nicht angebracht.

Seine Antwort bestätigte die Vermutung.

»Gern. Das kommt meiner Interessenlage entgegen.«

Er zögerte einen Augenblick. Sein Instinkt verriet ihm, dass ein schwerer Brocken auf ihre Seele drückte.

In dem Moment sagte Sie zu Ihrer Entlastung: »Mir ist klar, das Sie zur Aufklärung von Opas Verschwinden jede Information gebrauchen können. Also, fragen Sie mich«, endete im Aufblitzen eines Lächelns.

»Hm, das werde ich. Im Hinterkopf hat sich bei mir festgesetzt, dass ihr Opa sich des Öfteren zur Meditation zurückzog. Wann nahmen Sie das letztmalig wahr? Wo hielt er sich auf? Und für mich ist es nicht nachvollziehbar, dass ein bekannter Wanderführer einfach so von der Bildfläche verschwindet. Hat es denn überhaupt keine Nachfragen gegeben?«

»Wissen Sie, Opa hat sich bei mir nicht abgemeldet. Er war da, wenn der Tourismusverband einen versierten Geschichtenerzähler brauchte. Vor ein paar Wochen bin ich zur Polizei. Nicht ohne Grund, denn er war seit Tagen unerreichbar. Herr Lorenz, heute sind Sie hier und ich bin voller Neugier, wie Sie weiter vorgehen.«

»Das verstehe ich. Wissbegierde ist in dieser Hinsicht kein verwerfliches Omen. Wir stehen nicht unter Beschuss. Na ja, Sie wissen, dass meine Konzentration dem Skelett in der Bode gilt. Logischerweise stelle ich mir die Frage, ob es da einen Zusammenhang zu dem Vermissten gibt. Ah ja, hab vergessen, bei Verwandtschaft sind die Regeln der Geheimhaltung straffer ausgerichtet.«

 

»Korrekt«, reagierte Wilhelm. Einen flüchtigen Blick lang wähnte er, die Kontrolle über das Zusammentreffen zu verlieren. Nein, im Gegenteil. Er gab eine prima Figur im Rennen ab. Alles entwickelte sich wie vorausgesehen. Die Cousine hatte keinen blassen Schimmer, was in den letzten Wochen passiert war. Sie tappte im Dunkeln. »Zuhören, das ist meine Passion«, entschied er blitzartig.

Eine Rolle zu übernehmen, lag ihm seit langem im Blut. Sie war konkreter Bestandteil eines Spiels. Wilhelm fand sich bestens darin zurecht. Er war ein Genie. Beherrschte jedwede Form der Kontrolle, um wirksamen Einfluss auf den menschlichen Geist auszuüben. Soeben passierte das wieder unbemerkt.

»Meine liebe Cousine, mir ist bewusst, das Telefongespräch, unser Erscheinen ... sieht nach einem Überfall aus. Bitte übe Nachsicht! Fakt ist, die Kripo hat reagiert. Sie schickt einen erfahrenen Kriminalisten. Das ist mehr, als ein Protokoll am Schreibtisch aufzunehmen.« Seine Worte erzielten Wirkung. Er hakte nach. »Ja klar. Ich helfe mit, der Polizei Argumente zu liefern. Erich und der Tote in der Bode, das ist für mich die Kernfrage.«

»Hör auf, Wilhelm. Kein Rotz um die Backe. Vergiss die blöden Sätze. Darüber hinaus ist ja bisher nichts passiert.«

»Das sehe ich anders, Cousine. Unterm Strich ist mir die ganze Sache scheißegal. Was dich betrifft, meine Liebe, du bist die Gegenwart und Zukunft. Wir beide verkörpern Gottes Stimme.«

»He, alle zwei. Der Ermittler bin ich. Lorenz, Kriminaloberkommissar. Vergessen? Ich bin hier, weil Ihre Hilfe erforderlich ist.«

»Herr Oberkommissar, Hand aufs Herz, nähern wir uns der Nabelschnur? Der des Skeletts ohne Kopf. Der unseres verehrten Erich? Oder sind Sie hier bald wieder weg, überlassen einen ungeklärten Fall?«, brachte Wilhelm nun schnippisch hervor.

»Nein, ich halte die Stellung! Hellsehen ist out«, bellte Lorenz missgelaunt zurück. »Sorgen wir gemeinsam dafür, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.« Er warf den beiden ein knappes Nicken zu. »Hören Sie. Mein Appell heißt, ich bestimme den Gesprächsverlauf. Das betrifft ebenso die Älteste, Erna Feist.«

Wilhelm reagierte gelassen.

»Einverstanden! Eine Bemerkung, denke ich, ist angebracht«, stammelte er in verkorkster Tonlage. »Der Glaube ist wie ein reinigendes Bad. Er setzt hoffnungsfrohe Gefühle frei. Wie heute zwischen uns dreien.«

»Fertig? Ich schäme mich, Wilhelm. Lauf den frommen Wünschen hinterher«, sagte sie vor Erregung zitternd. »Herr Lorenz, mein Cousin folgt einem alten Verhaltensmuster der Glaubenslehre. Es erlaubt, sich zeitweise an der eigenen moralischen Überlegenheit zu berauschen. Besser, es begünstigt die Voraussetzungen, Antworten auf tiefere Fragen zu finden. Verzeihen Sie ihm. Er ist heute zu direkt und ruppig vorgegangen.«

»Okay! Gern! Sorgen um Sie beide resultieren daraus nicht. Was die Fallbearbeitung betrifft, der Kripo fehlen ausreichend Hinweise, die ein Täterprofil nahelegen. Wir hatten bisher keine Möglichkeit, exakte Tathergänge abzubilden.«

Sie nickte mit einem friedfertigen Schmunzeln.

»Das Verschwinden von Opa aufzudecken ist von hoher Relevanz. Er hat mich gelehrt, zufrieden mit dem Leben zu sein, um sich damit wie ein Teil einer einzigen, weltweiten Familie zu erfahren. Ich frage mich oft genug, warum Gott enorme Mengen an Leid zulässt. Heute stehe ich ohne Fürsprecher da. Verzeihung. Das war´s.«

»Im Augenblick, Evelyn Feist, ist das eine berechtigte Ansage. Mit Verlaub. Wieso gibt der alte Herr uns allen ein Rätsel auf?«

Rote Flecken in ihrem Gesicht zeugten von enormer Aufregung. »Ich frage Sie, Oberkommissar, bringt uns Opa auf diesem Wege bei, die Angst zu beherrschen? Verbirgt sich dahinter ein Versteckspiel, um eine Sache aus der Bedeutungslosigkeit zu bergen? Das sind jede Menge Unklarheiten. Besseres passiert nicht bei dem Wetter. Kühlen die Gemüter ab. Ein Eistee wäre nicht schlecht. Kommen Sie mit, ich gehe voran«, erklärte sie mit Bedacht, um die Verlegenheit zu umspielen. »Herr Lorenz, Sie erleben garantiert nicht die gleiche Faszination beim Rundgang wie ich. Drücken Sie die Augen zu, wenn Ihnen das herumstehende Gerümpel im Wege ist. Bitte beachten Sie das Sammelsurium nicht.«

Gelegenheit zum Antworten bekam er nicht. Sie schien die Luft anzuhalten, sprach weiter, um ja nicht aus dem Redefluss zu kommen.

»Ich lebe heute mit Oma Erna auf diesem Hof. Der ist mittlerweile eine Art Begegnungsstätte. Aufrichtige, beachtenswerte Menschen einer Konfession versammeln sich hier. Die alte Dame ist das Oberhaupt meiner Familie. Unsere Gemeinschaft verehrt sie sprichwörtlich wie eine Königin.«

»Bitte Evelyn, das ist zu allgemein. Erklären Sie mir das etwas genauer. Betrete ich hier eine Kirchgemeinde mit überzeugten Gläubigern?«

»Ja, Gottes Soldaten, wenn Sie das verinnerlichen.«

»Oh, ein Elitekorps, das sich durch harte Arbeit aufopfert? Trifft das den Kern? Eine Sekte?«

»Nein. Sie liegen falsch. Wir sind eine Gemeinschaft von Menschen, die dem Herrn dienen. Mein Opa stand über Jahre hinweg an deren Spitze. Er war angetreten, die Gläubiger aus der Dunkelheit in ein neues Zeitalter der Erleuchtung zu führen.«

»Stopp, Evelyn Feist«, hob Lorenz mit einer warnenden Gebärde die Hand. »Ach ja, Verzeihung, ich bin in dieser Beziehung ein Ungläubiger. Bei mir prallen solche Aussagen weitestgehend ab.«

»Ja klar. Dafür habe ich vollstes Verständnis. Leider klingt das aus Ihrem Mund abwertend. Die Anhänger widmen ihre Gedanken und auch ihr Tun der Rettung vor dem grausamen Tod. Die Belohnung für diese Mühen folgt mit dem Eingang ins Paradies. Erich Feist, mein Opa, war jahrelang ihr geistiger Anführer. Zum tieferen Verständnis. Für uns ist so jemand ein Sprachrohr Gottes.«

»Verstehe, ich suche einen Clanchef, der urplötzlich verschwunden ist«, stellte er trocken fest.

»Dem stimme ich zu, Herr Lorenz. Ihm reden die verlassenen Anhänger nach, abtrünnig zu sein, weil er Verfehlungen in seiner Ergebenheit zuließ. Da ist was dran, wenn nicht die Gerüchteküche wäre ... na ja, erwägen Sie lieber eigene Gedanken.«

»Hmm, ein Psychogefängnis, aus dem es kein Entrinnen gab«, schoss es Lorenz unvermittelt durch den Kopf. Von Gott auserwählt. Das klang abstrus, war der Wirklichkeit entrückt. Obwohl sich darin ein Stück Wahrheit verbarg. Die Geschichte faszinierte ihn über das normale Maß hinaus. Die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Toten in der Bode und dem Vermissten gab, schien eine verlockende Alternative zu sein. Einzig die Gesprächspartnerin würde hier eine fehlerfreie Antwort finden. Sie schilderte ihm grade ihre Version vom Zusammenleben mit den Großeltern.

»Herr Lorenz, Opa war ein herzensguter Mensch. Seine geschiedene Ehefrau, Oma Erna, steht mir trotz der ehelichen Differenzen mit ihm nahe. Ihr verdanke ich die göttliche Bestimmung. Das ist meine Art, den Vorstellungen der germanischen Mythologie und ihren Berührungspunkten mit der Harzer Sagenwelt künstlerisch zu begegnen.«

»Verstehe. Sie hegen beste Absichten. Vereinfachend gesagt, das übersteigt die bloße Vermarktung von Ideen.«

»Absolut! Ich sehe, Sie sind meinem Cousin haushoch überlegen. Aufrichtigen Dank dafür!«

Lorenz lächelte. »Was führen Sie im Schilde?«

Sie warf ihm einen auffordernden Blick zu. »Lust, mitzumachen?«

»Wenn dem eine Erklärung folgt.«

»Gern. Ich lese in Ihren Augen. Wir halten an einer gemeinsamen Herangehensweise fest.«

»Bin gespannt drauf. Welche?«

»Den Menschen Freude bereiten, sie animieren, das sagenhafte Naturareal im heimischen Bodetal zu erkunden. Das schließt den Hexentanzplatz, die Rosstrappe, den Tierpark und andere Sehenswürdigkeiten ein. Darin sehe ich eine echte Herausforderung. Ehrlich, halten Sie mich für verrückt?«

Der letzte Satz verlor sich beim Durchschreiten einer gigantischen Scheune. Lorenz stand für Sekunden neben sich.

»Oh Scheiße«, huschte es über seine Lippen. »Irrsinnig!«

Den unartikuliert dahingeworfenen Ausspruch registrierte sie grinsend. Das betraf ebenso den Funken, der sich darin verbarg. Er riss die Augen weit auf, um ja nichts zu verpassen. Vor ihm zeigte sich eine gewaltige freie Fläche bis oben zum Dach. Die umschloss eine Konstruktion aus geleimten Holzelementen. Das suggerierte die Wahrnehmung von unvorstellbarer Größe. Eine Handvoll Kojen mit künstlerischem Bauanspruch rundeten dieses Bild vom ersten Eindruck ab.

»Sie brauchen sich nicht anzustrengen, Herr Lorenz«, drang es an sein Ohr. »Das Ganze hier ist dreißig Meter lang, fünfzehn breit, ragt mindestens zehn in die Höhe. Die Entkernung setzte eine gewaltige Hülle frei. Platz für eine großzügige Werkstatt und einen Ausstellungsraum mit Präsentationsfläche. Ich zeig´s Ihnen.«

»Genial«, rutschte ihm über die Zunge, wofür er ein Lächeln erntete.

»Ich habe eine Überraschung parat. Eistee, aus Kräutern hergestellt, selbstgemachtes Gebäck. Mögen Sie?«

Sie hob den Blick. Wie zufällig trafen sich die beiden Augenpaare. Lorenz zuckte elektrisiert zusammen. Der Blitz hinterließ einen Funken, einen Bann, den Zwang, ihr wieder nahe zu sein. Ein Gefühl, das üblicherweise nicht zwischen ihm und einem Kontakt zustande kam.

»Bitte, verschwenden wir keine Zeit«, sagte sie. Ihre Hand wies auf einen Rohrsessel. »Habe ich in eigener Handarbeit hergestellt. Sind alles Haselnussruten.«

Lorenz drehte vor Begeisterung den Kopf hin und her. Überall bemerkte er Holzgestelle mit Keramiktassen, Vasen, Teller, Schüsseln. Der leuchtende Rotton mit wolkenartig eingelagerten graublauen Einfärbungen faszinierte ihn.

»Das ist Spitzenklasse, Evelyn Feist. Ein satter Ton, der zum Hinsehen animiert. Habe ich bisher in keinem Geschäft, geschweige denn Baumarkt gesehen.«

»Freut mich, Ihre Begeisterungsfähigkeit. Ich vermarkte meine Waren direkt auf Wochenmärkten im Harzkreis. Kaum überregional. Der Fokus ist auf das Plateau des Hexentanzplatzes ausgerichtet. Die Produkte verkaufen sich recht ordentlich. Ich lege Wert auf Design und Qualität. Schauen Sie sich in der Werkstatt um. Ich bin gespannt auf Ihre Meinung.«

Lorenz ließ die Worte vorbeigleiten.

»Probieren Sie das da«, meinte sie. In der Hand hielt sie eine zylindrische Keramikdose mit Deckel.

»Kekse, ein Verkaufsschlager im Harz. Das Rezept der Hausherrin.«

»Pardon, mich reizt vielmehr die Form des Behälters. Die Lasur ähnelt der auf den anderen Gefäßen. Irre ich da?«

»Ihr Gefühl trügt nicht. Das sind absolute Highlights. Bitte, ich schlage vor, die Höflichkeit zur Seite zu legen. Eine Stunde Gespräch, vier Gläser Eistee, selbstgebackene Kekse schaffen Lust auf mehr.«

»Trifft auf mich ebenso zu! Ihnen hier zu begegnen, war eine vernünftige Entscheidung. Sie verfügen über eine meisterhafte Begabung. Tja, vor allem das freigiebige Entgegenkommen mit einem geballten Paket an Informationen war erste Klasse«, sagte er. Wilhelm Feist bemerkte das Feixen in seinem Gesicht. Beschämt drehte er sich zur Seite. Lorenz gab keinen Kommentar ab. Es war ihm zu blöd.

»Ich werde am späten Nachmittag im Polizeipräsidium erwartet. Besten Dank!«, erklärte er stattdessen.

»Verstehe, das heißt, Sie checken sicher gleich im Hotel ein?«, wollte Evelyn Feist nun wissen.

»Ja, unter Umständen, weshalb fragen Sie? Ist für mich die Gelegenheit, um noch eine Mütze voll Schlaf zu bekommen. Zu wandern beabsichtige ich nicht.«

»Schade, mir liegt grade ein Vorschlag auf der Zunge. Ich würde Sie liebend gern begleiten.«

»Einverstanden!«, sprudelte es aus ihm heraus. »Nicht heute. Morgen, übermorgen. Wohin möchten Sie mich denn führen?«

»Zur Walpurgishalle, nahe dem Hexentanzplatz. Das ist ein geschichtsträchtiger Ort. Ein blockhausartiger Museumsbau im altgermanischen Stil. Götterdämmerung, Teufel und Hexen zeigen sich dort mit neuem Blick für Übersinnliches. Die beste Gelegenheit, um Verständnis zu schaffen. Ich sehe Ihnen an, wie sich Ihre Gedanken gegen all das hier in meinem Heim auflehnen. Interesse?«

»Angenommen! Zustimmung erteilt! Wann treffe ich Sie?«, unterdrückte er das aufkommende, interne Siegesgeheul im Hinterkopf.

»Morgen, neun Uhr vor dem Hotel, okay?«, schwebten ihre Worte anhaltend in der Luft. Und dem Augenschein nach erzielten sie Wirkung. Sein Gesicht färbte sich puterrot.

»Das ist faktisch unmöglich«, versuchte er sich auf die Gegebenheit einzustellen. »Auf Wiedersehen, Evelyn Feist«, sagte er aus tiefer Inbrunst heraus. Sein Blick konzentrierte sich auf ihren makellos kurzen Haarschnitt. Der passte blendend zu dem fein geschnittenen Gesicht. Ihre Art Lebenskunst, die sich gegen traditionelle Normen des Frauenbildes in der Sekte wandte. Sein Instinkt verriet, dass sie ihm Vertrauen entgegenbrachte. Mit dem Gedanken, dass sie im Augenblick die einzige Möglichkeit war, Insiderwissen zu erlangen, verabschiedete er sich.