Zinnobertod

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»Willkommen Herr Kriminaloberkommissar!«, sagte ein flott daherkommender, geringfügig fülliger Mittvierziger. Gutherzige, dunkelbraune Augen schauten in sein Gesicht. »Ergreifen Sie meine Hand. Ich bin zuversichtlich, mit Ihrer Hilfe dem Verbrechen auf die Spur zu kommen. Bitte, setzen Sie sich. Sie haben die Raben aufgesucht. Das lässt sich nicht verheimlichen. Um Sie bei der Informationsbeschaffung zu unterstützen, dafür sind wir angetreten.« Er erhob sich, zeigte mit einem Lächeln auf zwei Personen in der Tischrunde. »Das hier ist der Chef der Bergwacht, dort mein Pressesprecher, Herr Steiner. Ansonsten sind wir bestens mit der hiesigen Feuerwehr vernetzt. Schön, dass ich Sie als Vertreter der Polizeidirektion begrüßen darf. Ich hörte, es war ihr Wunsch, zunächst mit den Stadtvertretern zu sprechen. Das ist eine gute Idee. Sie können jede Menge Unterstützer gebrauchen, um dem Geheimnis im Bodetal auf die Spur zu kommen.«

Gesichter voller Erwartung sahen ihn an. Die Hand auf den Griff der P6 im Holster erhob er sich. Aufmerksame Augen verfolgten die Geste. Lorenz ließ keine Zeit verstreichen. Betont trocken sagte er: »Ich verstehe! Der Job verlangt von mir, eine Identität zu klären. Die Frage bedarf der Klärung, ob im Zusammenhang mit dem Fund ein Verbrechen vorliegt. Wäre ein Unfall vorstellbar? Ist es möglich, dass ein Wanderführer in der unwegsamen Bergwelt vom Weg abkommt. Ein krankheitsbedingter Sturz ist ebenso nicht ausgeschlossen.«

»Unwahrscheinlich, Herr Lorenz.«

»Bitte, was spricht dagegen? Bedenken Sie. Das reißende Wasser, Geröll und Tierfraß haben den Körper arg geschädigt. Zum Glück fanden unsere Spezialisten auswertbare Spuren, die Schlüsse zur Person zulassen. Eine Reihe von Fragen bleiben auf jeden Fall offen.«

»Welche, Oberkommissar?«, meldete sich der Pressesprecher. »Was erwarten Sie vom Team an diesem Tisch?«

»Eine berechtigte Frage, meine ich. Die Antwort darauf klingt eine Kleinigkeit theoretisch. Habe ich dennoch Ihre Aufmerksamkeit?«

»Legen Sie los. Die Kripo beehrt unser Haus nicht jeden Tag.«

»Okay, Ihr Wunsch. Die Aussage hört sich nüchtern an. Seien Sie nicht geknickt. Es stimmt. Das Landeskriminalamt in Magdeburg beauftragte mich mit der Aufklärung des Falls. Ich bin der Tatortgruppe zugeordnet. Mein Job besteht in der Unterstützung der Kollegen von der hiesigen Polizeidirektion. Es ist Sommer, Urlaubszeit. Ich leiste bei der Zuordnung erkennungsdienstlicher Aufgaben Hilfestellung.«

»Entschuldigung, Sie sind ein Ausputzer? Ich war der Auffassung, wir brauchen hier Spezialisten. Von dem Toten in der Bode existiert ja weiter nichts als ein paar Knochen. Der Kopf fehlt. Was gibt es denn da zu ermitteln?«, presste Steiner giftig raus.

Automatisch füllte sich die Raumluft mit Spannung. Winzige, elektrisch geladene Teilchen ließen die angewärmte Luft knistern.

»Meine Herren, Anspannung ist fehl am Platze. Sind wir einer Meinung?«, griff Lorenz in den Disput ein. »Sie sind Pressesprecher, stimmt’s? Sehen Sie, das Fest kommt gerade erst ins Rollen. Wir tanzen gemeinsam in einem Kreis voller Unbekannter, fern jeglichen lautstarken Beifalls.«

»Bei Gott, Herr Lorenz, ich versichere Ihnen ...«, nickte der bedeutsam. »Bei all dem, das ist wundersam«, rief er aus, in dem Bemühen, seine Stimme erschrocken klingen zu lassen. »Erklären Sie, was uns den Atem anhalten lässt. Das hier riecht nach Geheimnissen.«

»Hmm, Sie springen ungeprüft in den Teich der Gerüchteküche. Dachte ich mir’s. Typisch Journalist!«

Er hielt kurz inne, sah den Herrn an, um festzustellen, dass der sich durch sein Aussehen von den Teilnehmern der Runde abhob. Die angestaute Wut ließ sich nicht verheimlichen. Zumindest erklärte das dieses verdammte ständige Zusammenziehen der Pupillen, was die Iris vergrößerte. Dadurch erschienen die graublauen Augen leuchtender, was auf solcherart Emotionslage hinwies. Das verlieh ihm im Übrigen einen vorteilhaften Touch. Mit seinem gebräunten Teint und dem dunkelblonden Haar gehörte er ohnehin zu den gutaussehenden Menschen. Er sah jünger aus und setzte sich dadurch von den Teilnehmern der Tischrunde ab. Die saßen erstarrt auf den Stühlen. Wie angeschmiedet, unfähig zu reden. Diesem einschneidenden Erlebnis entzog sich niemand. Es war die verwegene Art, mit der er Probleme zu lösen anging. Nicht die des vertrauten Trottes, wie in Stadtratsversammlungen üblich.

Lorenz grinste. »Ich bin kein Gespenst, vielmehr jemand aus Fleisch und Blut, einem Hirn, dem Gefühle entspringen. Sie entschuldigen mein Aufbäumen. Wachrütteln ist angebrachter. Bitte, Herr Steiner, für wie blöd halten Sie mich? Ich hoffe, Sie brechen keinen Streit vom Zaun. Am besten scheint mir, Sie aus der Höhle der Unvernunft zu befreien. Seien Sie nicht das Arschloch in Ihrer eigenen, wundersamen Welt. Wir sind quitt, was den Ausputzer betrifft.«

Der Bürgermeister ließ die paradoxen Gedanken auslaufen. Ein paar Sekunden Verschnaufpause vergingen.

»Hmm, das war erhellend. Ich hab Sie ausreden lassen, um den Frust in eine Richtung zu lenken. Sowas gab es in dieser Oase der Vernunft bisher nicht. Ihre Empfindungen wie ein Heilmittel einzusetzen, alle Achtung, cool! Herr Lorenz, das genügt. Belassen Sie es dabei. Der Polizeichef hat uns um Hilfe gebeten. Hier sitzt ein bevorrechtetes Gremium in Warteposition. Sie sind dran. Ich bitte Sie, Ihren Vortrag fortzusetzen. Unser Wohlwollen gehört Ihnen.«

Das war der Zeitpunkt für Einsicht. Der Bürgermeister hatte dafür gesorgt, dass ihm niemand mehr was vormachen würde. Der erste Sieg. Diesen Augenblick zu nutzen, gebot die Vernunft. Er stieg darauf ein. Und Tatsache, die Augen und Münder der Gefolgsleute passten sich ihm jedes Wort verschlingend an. Lorenz sprach in den Raum hinein, bemüht, die Teilnehmer zu einer Aussage zu bewegen.

»Ich bemühe mich, den Blick für den Job des Kriminalisten zu öffnen. In diesem Fall arbeite ich eng mit den Spezialisten vom Bundeskriminalamt zusammen. Hierbei dreht es sich vor allem um die sichere Identifizierung der Personen im Tathergang. Reicht das?«

»Nein! Ist mir zu allgemein«, erklärte sich der Bergwachtchef.

»War das ein Todessturz von den Felswänden im Bodetal? Ein Unfall? Der vermisste Erich ist es garantiert nicht. Der Wanderführer gehört zu den absoluten Kennern der Materie.«

Mit eiskaltem Blick in den Augen mischte sich Wilhelm Feist ein.

»Entschuldigung! Die Wahrheit besteht meiner Ansicht darin, dass bisher nichts passiert ist, was die Aufklärung erhellt. Na ja, abgesehen vom Auffinden der Skelettreste durch Wanderer.«

»Und die Bergung durch örtliche Polizeikräfte?«, schloss sich der Pressesprecher fragend an. »Was meinen Sie, Oberkommissar, liegt hier ein Verbrechen vor? Handelt es sich bei dem Knochenfund um den Vermissten?«

»Sie haben den wunden Punkt getroffen. Jede Menge Fragen, deren Antworten wir im Moment nicht kennen. Darum sitze ich hier. Geben Sie mir ausreichend Input. Sie heben den Herrgott in den Himmel, verfügen auf der anderen Seite über schmalbrüstiges Wissen. Ist ja komisch!«

Sein Gegenüber übernahm die Antwort mit einem Scherz. »Meine Erfahrungen im Bergrettungsdienst stelle ich gern bereit, wenn es das Wohlergehen von Menschen betrifft. Bitte, ich fange bei Ihnen an. Zeigen Sie mir Ihre Schuhe«, sagte er breit lächelnd.

Stumm zählte Lorenz die Sekunden. Eins. Zwei. Drei ... da traf ihn eine schnippisch-ernüchternde Antwort.

»Na hoffentlich halten Sie im Gepäck brauchbare Wanderschuhe bereit. Die Fundstelle ist mit PKW nicht erreichbar. Zu Fuß ist angesagt. Leider auf einem spärlich ausgebauten Wanderweg. Nix von Gefahr, dagegen Aufmerksamkeit einfordernd. Der führt auf der rechten Seite des Bodeufers entlang. Endstation ist der Bodekessel nahe der Teufelsbrücke. Von Interesse ist das erst, wenn Sie bei Ihrer Version bleiben: tragischer Unfalltod oder Selbstmord. Scheidet beides aus, haben wir ein echtes Problem. Angenommen, dem Erich Feist saß einer der Getreuen im Nacken, spitzt sich die Lage zu. Ein Glaubensstreit ist der einzige Grund für eine interne Auseinandersetzung.«

»Weil?«

»Ist ja den meisten ansässigen Personen in der Region bekannt. Der Erich war über Jahrzehnte Chef der ortsansässigen Glaubensgemeinschaft. Er hat die Menschen missioniert, um sie auf die Gottergebenheit der Sekte einzuschwören. Erst der grausige Selbstmord seines Sohnes im Stahlwerk hat ihn gebrochen. Der Junge war dort Ingenieur.«

Lorenz stand kurz davor zu explodieren. Ungläubig fragte er: »Wieso, in Gottes Namen, leiern Sie das emotionslos herunter?« Seine Augen blitzten gefährlich auf. »Was stimmt nicht mit dem Herrn? Ist es richtig, dass er den Job eines religiösen Anführers mit dem des Harzer Wanderführers eingetauscht hat? Trägt diese Überlegung ebenfalls seine Enkelin?«

Abrupt endete er. Für Sekunden herrschte Schweigen. Lorenz unterbrach die Stille und fuhr gelassen fort.

»Das ist alles, verehrte Herren? Ich bin auf die drei Kilometer vom Ortskern bis an den Fundort vorbereitet. Schauen Sie«, reagierte er aus der Lage heraus. Er hob ein Bein an. »Da, festes Schuhwerk, reicht das?«, entwickelte sich sein Grinsen zu einem lauthalsen Lachen. »Es gibt ausreichend Urlaubslektüre, um den Harz zu erwandern. Wenn ich mich nicht täusche, ist das ein durchgehend befestigter Weg.«

Das Feixen der Teilnehmer überstieg auf Anhieb alle anderen Geräusche. »Angeschmiert, Jürgen«, hob Pressesprecher Steiner an. »Sagte ich ja, du wirst dich blamieren. Reize den Beamten nicht.«

Der Bürgermeister erhob sich zwischenzeitlich. Lorenz sah darin einen taktischen Zug, um die Lage zu entspannen.

»Kommen Sie bitte hierher ans Fenster. Den Herren ist es nicht gelungen, Sie einzuschüchtern. Freut mich. Das verzapfen die hauptsächlich, wenn Fremde in unser Reich eindringen.« Er nickte spielend mit dem Kopf in Richtung des Brunnens. »Sehen Sie, Wotan beschützt uns. Wir vertrauen auf seinen imposanten Speer in der Hand. Diesen Anspruch übertragen wir ebenfalls auf Sie und Ihre Kollegen. In diesem Sinne. Trinken wir Kaffee, einverstanden?«, fragte er. Im selben Moment griff er zum Telefonhörer der Haussprechanlage, um den bei der Sekretärin anzufordern. »Ach bitte, die rote Keramikdose mit den Keksen nicht vergessen«, folgte im Nachsatz.

 

Lorenz nutzte die Chance, um die Stille zu durchbrechen. »Ich beabsichtige keinerlei Schuldzuweisung, verehrte Herren, denn ich habe einen Ruf zu verlieren. Der verbindet sich logischerweise mit dem LKA. Legen wir die Fakten auf den Tisch. Ihr sagenumwobener Landstrich verdient das«, traf auf verblüffende Gesichter. »Fragen Sie mich, was ich sehe. Die Antwort lautet: Ein Flussbett, wo das Wasser zu kochen scheint. Die in die Tiefe gerissene Luft schäumt perlend wieder auf. Über der Bode reflektieren kleinste Wassertröpfchen. Das sind die Edelsteine im Harz, antworten Sie mir gleich verklärend. Dem halte ich nichts entgegen. Wenngleich mittendrin der Tod lauert. Die Frage ist, wie kam der an diesen Ort?«

Ein Raunen war deutlich hörbar. Die Anwesenden saßen konzentriert am Konferenztisch. Niemand schien die Ruhe durchbrechen zu wollen. Bis sie der Weckruf des Beamten traf.

»Was sieht der erfahrene Ranger? Massen an Touristen. Die spazieren vom Gasthaus Königsruhe zur Teufelsbrücke, den Bodekessel, bis tief in die Felsschlucht des Harzgebirges hinein. Ich frage Sie allen Ernstes: Einhundert Kilometer Harzer Hexenstieg, was vermitteln die uns? Sind die Augen und Ohren der Mitglieder in den Verbänden der Harzregion verschlossen? Nein, sagen Sie? Das glaube ich nicht. Da badet kein Mensch bei der sommerlichen Hitze in den Fluten der Bode? Ist ja ein Witz. Verbotene Kletterei und Abstürze in den Felsschluchten der Region sind ebenfalls nicht bekannt. Hmm, was ist mit dem vermissten Wanderführer? Wann hat ihn letztmalig jemand gesehen? Wer und wo? Sieht sich die Stadt in der Pflicht?«

»Moralisch betrachtet, ja! Weil das Team hier am Tisch den Erich bestens kennt«, kam halbwegs gehemmt über die Lippen des Chefs der Bergwacht. Er richtete den Blick auf den Nebenmann aus. »Bitte Wilhelm, erkläre du das.«

»Gern, wenn das jemand wünscht«, sagte er auf eine Antwort wartend. »Ja«, schob Holger Steiner dazwischen. »Ich rate, zügele deinen Eifer für den Herrgott. Der Kriminalbeamte dankt es dir. Ah, Entschuldigung, das ist unfair von mir.«

»Meine Herren. Rumfrotzeln bringt nichts. Das haben wir nicht nötig. Gebt euer Wissen weiter. Die Lage ist heikel. Erich Feist war ein hochbetagter Mensch. Dass die sterblichen Überreste einen Hinweis auf ihn liefern, ist im Moment Spekulation. Keine Ahnung, ob die Galionsfigur im Sagenharz einem Verbrechen zum Opfer fiel. Ich versichere, die Ratsmannschaft trägt zur umfassenden Aufklärung bei. Versprochen!«

»Ja«, fuhr Lorenz geistesgegenwärtig fort. »Das ist der einzig brauchbare Ansatz. Hand in Hand mit der Polizei vorzugehen. Die Lage zwingt uns zur Ordnung. Kommen wir alle wieder runter auf den Teppich. Bürgermeister, bitte übernehmen Sie das.«

»Entschuldigung, wir sind abgedriftet. Emotionen, Sie übersehen das besser. Unser friedvolles Städtchen zu schützen, ist heilig. Zeit für den Profi«, wandte der sich an den KOK.

»Üben Sie Nachsicht«, schob Wilhelm Feist, ohne abzuwarten, in die Tischrunde hinein. »Ich hätte eine Frage an den Kriminalisten. Wie stelle ich mir heute eine Identifizierung vor? Technisch betrachtet, meine ich.«

»Das zu erklären erfordert einen langen Atem. Ich versuch`s. Zuerst danke ich für den unbeabsichtigten Hinweis. Sie haben mich da auf eine Fährte gebracht.«

»Oberkommissar, auf welche? Bitte lassen Sie uns teilhaben.«

»Okay. Aus meiner Sicht ist es notwendig, beide Vorgänge zusammenzuführen. Erich Feist, Ihr hochgelobter Wanderführer, hatte jeden Grund zu leben. Leider liegt keine Spurenlage vor, die auf ein Gewaltverbrechen hinweist.«

»Was passiert da, Herr Lorenz? Dass ich nicht lache«, kam es von Steiner zurück. In seine Stimme hatte er angestaute Wut hineingezwängt. »Das ist der ganze Kommentar? Wenn die paar Knochen eine Identität erhalten haben, war’s das?«

»Nein! Der Reihe nach, bitte. Meine Herren, Sie baten um eine Aussage zur technischen Betrachtung des Vorgangs. Zum Verständnis, ich spreche von einem hochkomplexen Verfahren. Es liefert dem LKA Anhaltspunkte zum möglichen Tathergang. Das Ganze nennt sich Fingerabdruck-Identifizierungs-System. Kurz: AFIS.«

»Oha, das klingt nach einem hochfliegenden Begriff«, mischte sich der Pressesprecher ein.

»Ihre Antwort zeugt von Skepsis, Herr Steiner. Von mir aus nennen Sie es so. Geben Sie mir die Chance, Sie vom Gegenteil zu überzeugen. Schauen Sie, Wissenschaft, Erfahrung und Bauchgefühl treffen aufeinander. Hochleistungsdatenbanken erfassen die biometrischen Charakteristika einer Person. Es kommt zum Vergleich vorhandener und neuer Datensätze. Diese Methode stellt eine beträchtliche Erleichterung für die Strafverfolgung dar. Es ist kein Hexenzeug, auf dem die Harzlegenden aufbauen. Reicht meine Aussage?«

»Nein, Herr Lorenz. Die Leichenteile unterlagen lange dem Einfluss der Naturgewalten. Wie funktioniert denn das mit der Druckerschwärze an den Fingerkuppen? Da sind keine Abdrücke mehr brauchbar«, reagierte Jürgen aufgeregt.

»Bleiben Sie locker, bitte. Die Spurenlage ist momentan katastrophal. Das Wasser hat über Wochen an dem Körper gezehrt, ihn ausgelaugt. Die Frage ist berechtigt. Die Natur zerstört die organische Struktur allmählich. Das schließt alles Mögliche ein.«

»Ist die Kripo da nicht außer sich vor Wut?«, schob Wilhelm Feist fragend hinterher.

Lorenz nickte. »In gewisser Weise haben Sie recht. Wo liegt darin für Sie das Problem? Scheinbar hören alle nicht zu, wenn man ihnen was sagt.« Er atmete hörbar aus. »Kommen wir auf den Punkt, meine Herren. Sie haben mir Ihre Hilfe angeboten. Das erfordert, darüber zu sprechen, welche Art von Informationen mir helfen. Um das Thema Spurensicherung halbwegs abzuschließen, verweise ich auf Beiträge im Internet. Dort finden Sie den Begriff Live-Scan-Technologie. Lesen Sie es nach! Das besser zu erklären, gelingt mir nicht.«

»Klingt sperrig, überkompliziert, Herr Lorenz. Erzählen Sie den Rest. Obwohl ich zugebe, davon bisher keine Kenntnis zu haben«, griff Steiner erneut ins Gespräch ein. Er wandte sich an Feist. »Wilhelm, wechsle den Job. Mit diesem Wissen brauchen wir den Oberkommissar nicht«, lachte er ein heiser klingendes ha, ha, ha.

Lorenz’ Miene blieb unerforschlich. »Hmm, je nachdem, wie man die Sache betrachtet. Ernsthaft, was bringt das«, erklärte er kampfbereit. »Ich führe hier nicht irgendwelche Tests durch. Was den Toten in der Bode betrifft, wir sind zu spät gekommen. Der Teufel hat ihn freigegeben. Zumindest, was von dem armen Menschen übrig blieb.«

»Ist ja nicht von der Hand zu weisen«, stimmte Wilhelm Feist mit frostiger Miene ein.

»Meine Herren. Unbeabsichtigt sind eine Reihe von Emotionen hochgekocht. Ordnen wir uns dem Teamgeist unter. Unsere Stadt braucht einen makellosen Tourismus. Die Todesursache der Person aufzuklären ist Arbeit für Spezialisten. Sie sind ebenfalls in Ihren Jobs im Rathaus Profis. Als Ihr Bürgermeister stehe ich mit meinem Wort an der Seite der Ermittlungsbehörden. Enttäuschen Sie mich nicht.«

»Stimmt! Entschuldigen Sie bitte, Herr Lorenz. Jeder leistet den Teil in der Gesellschaft, wofür ihn Gott auserwählte. Es sei Ihnen versichert, wir sehen das im Kreis meiner Glaubensbrüder in besagter Art«, endete Feist.

»Okay! Fragen an mich?«, nickte Lorenz in den Raum hinein.

»Nein, Vorschlag: Wilhelms Worte lassen wir mal so stehen. Sie erlauben«, setzte Steiner den Gedanken fort.

»Einverstanden! Aus Sicht der Kripo halte ich es für erforderlich, unser Thema zur Identifikation von Personen abzuschließen. Sie löchern mich sonst weiterhin. Ich habe hier einen Toten und einen Vermissten. Schauen Sie sich das an«, sagte Lorenz schmunzelnd. »Das Material hier verschafft eine Menge Einsichten und hält sicher auch die eine oder andere Überraschung parat. Der Blick für die Verbrechensaufklärung schärft sich.«

»Das sagen Sie. Ich sehe einen Berg Statistik, ineinander verschlungene Linien«, verzog Steiner den Mund zu einem eher quälenden Grinsen.

»Schade«, konterte Lorenz. »Zu meiner Verteidigung. Ich hab nicht erwartet, dass Sie mit geschwollener Brust am Tisch sitzen.«

»Wieso das denn?«

»Weil Sie grade Ihre erste Erfahrung mit dem Verlauf von Papillarlinien einfahren. Das trifft logischerweise auf die anderen Herren genauso zu.« Bewusst richtete er den Blick auf den Bürgermeister. »Mir ist klar, Sie sind Jurist, ein Papiermensch, kein Ermittler. Was ich davon ableite, ist reines Handwerkszeug. Geben Sie mir ein paar Minuten zur Erklärung, meine Herren«.

Der Rathauschef unterbrach sein Stimmungshoch. »Sie haben sich bemüht. Oberkommissar, das reicht aus, sonst führen die Details zur Verwirrung.«

»Danke«, sagte er. Schlagartig war ihm die Dringlichkeit der Lage wieder bewusst. Unterstützer zu generieren, darum war er hier. »Konzentriere dich auf die Mission«, hämmerte es im Hirn. Die Stimme im Kopf leitete ihn an. Sie versuchte, ihm zu sagen, seine Gefühle zu ordnen und die Konsequenzen der Feststellung zu begreifen. Er beanspruchte drei oder vier Sekunden, um sich einen Ruck zu geben. Die Zeit reichte, die glänzenden Pupillen der anderen Gesprächsteilnehmer am Tisch zu erfassen. Begierig auf Sensationen hingen sie an seinen Lippen. Lorenz gewahrte, dass seine Haut vor Anspannung kribbelte. Den richtigen Ton zu treffen, darauf kam es an. »Hören Sie! Ich bin Tatortermittler und damit ein Erfüllungsgehilfe der modernen forensischen Wissenschaft. Erst sie bietet realitätsechte Rezepte zur Identifizierung sterblicher Überreste.«

»Was heißt das konkret, Herr Lorenz?«, traf ihn die Frage des Pressesprechers.

»Sie kennen die Antwort. Mein Handeln als Kriminalist basiert auf sittlichen und moralischen Grundsätzen. Das versuche ich zu vermitteln. Wenn Menschen sterben, begegnen wir ihnen mit Respekt und Würde. Ich bin sicher, unsere Forensiker lassen sich davon leiten. Wir sind dicht dran, die DNA und weitere anatomische Merkmale aufzuschließen. Seien Sie versichert, dem Skelett entreißen wir sein Geheimnis. Das verspreche ich. Sie erfahren rechtzeitig, wenn das kriminaltechnische Gutachten vorliegt.«

Gerötete Gesichter, die an seinen Lippen hingen, ließen seine Haut kribbeln. Die Anspannung war echt. Er hatte den Job des Kriminalisten mit ein paar Sätzen bestens verkauft. Aus scheinbar unerfindlichen Gründen, wie es aussah.

»Erlauben Sie mir, unsere Zusammenkunft für eine Erklärung zu nutzen«, wandte er sich an den Rathauschef.

Der reagierte sofort. »Meine Herren, mit deutlichen Worten ausgedrückt: Der Jurist meint, das da an der Teufelsbrücke ist Ekel erregend, grauenhaft. Mit der Stadt der Mythen hat das nichts am Hut. Bedenken wir. Der Teufel über der Brücke ist ein hausbackenes Produkt. Geschaffen für einen florierenden Tourismus. Ein Symbol der visualisierten germanischen Götterwelt. Wir bestimmen, wann er Ausgang erhält. Bekannterweise an den Festlichkeiten rund um Walpurgis. Herr Lorenz ist hier, damit das Ansehen der aufblühenden Touristenstadt nicht weiter aus dem Gleichgewicht gerät.« Vor Aufregung rutschte ihm über die Lippen: »Uff, ist eine anstrengende Rede. In diesem Augenblick ist sie raus, bin erleichtert. Zur DNA ein paar Gedanken. Wissen Sie, Herr Lorenz, das Allgemeinwissen des Juristen sagt mir, wir sprechen vom Träger der menschlichen Erbsubstanz. Dass die Spezialisten vom LKA das zu ermitteln versuchen, stimmt mich für die Lösung des Falls zuversichtlich. Geben Sie einen abschließenden Kommentar ab?«

»Ja, kurz. Solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind, gibt es keine Preisgabe von Details. Ich telefoniere heute mit den zuständigen Beamten beim Bundeskriminalamt. Es ist denkbar, dass die Datenbank nichts von Wert ausspuckt. Die Erfahrung verlangt, Vergleichsmaterial zu beschaffen. Wie gesagt, jede Hilfe ist willkommen.«

»Oh ja. Da bin ich sicher«, meinte Wilhelm Feist. »Eine Chance sehe ich darin, unsere Mitglieder vom Harzklub zu mobilisieren. Der Fokus liegt auf der Suche nach Erich. Ist für mich naheliegend. Er war mein Onkel. Ein Mensch mit positiven Seiten und Fehlern. Mit ihm verschwunden ist seine Warmherzigkeit.«

 

»Die Zeit ist reif, um die Signale zum letzten Aufenthalt zu bündeln. Korrekt, hier setze ich auf die Kraft der Gemeinschaft«, unterbrach Lorenz.

»Leider wissen wir das nicht«, plapperte Steiner los.

»He Holger, bleib cool, das klärt sich. Da passt meine Frage«, setzte Wilhelm an. Um dem mehr Gewicht zu geben, erhob er sich. Ihm war nicht bewusst, dass seine Worte unter diesen Umständen einen hölzernen Eindruck hinterließen.

»Äh, ach ja, Oberkommissar, sagen Sie, wie verbindlich ist die Erwartung, dass es sich bei dem Skelett um den Vermissten handelt? Wie realistisch ist ein solcher Fall?«

»Beantworten Sie die Frage für sich.«

»Pardon. Ich beabsichtige nicht, Sie anzugreifen. Mein Onkel ist ein 86-jähriger Herr. Körperlich recht ordentlich gestählt. Sonst hätte er den Freizeitjob des Wanderführers nicht ausgeübt. Eine feste Größe im Harzklub. Der hatte garantiert keine Feinde.«

»Sie sagen das mit Bestimmtheit. Woher beziehen Sie Ihr Wissen?«

»Wilhelm, erklär´s dem Beamten«, protestierte der Chef der Bergwacht. »Das ist die klügere Wahl. Erzähl ihm von der Verwandtschaft.«

»Ich höre zu, Herr Feist, bitte sprechen Sie.«

»Sie haben ohne mein Zutun eh Kenntnis von der familiären Bindung. Die Anzeige hat Cousine Evelyn aufgegeben. Wir haben die Kinderjahre gemeinsam in einer Glaubensgemeinschaft verbracht. Erich war für uns die Stimme Gottes.«

»Komm Wilhelm, leg was oben drauf«, traf ihn Steiners Einwurf.

Dafür erhielt der eine Abfuhr. Die zusammengekniffenen Augen des Angesprochenen versprühten Missfallen.

»Wieso ich? Weil wir über drei Ecken verwandt sind?«, drang es aufgeregt aus seinem Mund.

»Ja, eben darum. Sag, verlangt eure Religion nicht das friedliche Miteinander, um Gott zu erleben?«

»Korrekt! Onkel zählte zu den gern gesehenen Menschen. Ich achte ihn wegen der streitbaren Verwirklichung seiner Glaubensvorstellung«, warf er Jürgen einen Blick zu. »Ist ein zu vollendetes Ebenbild unseres Herrn. Bitte akzeptiere, das gehört hier nicht her. Sonst klingt das wie ein Schuldbekenntnis.«

»Oh, solcherart Einsichten sind okay. Das vereinfacht meinen Job. Gibt mir obendrein die erste Richtung vor. Ich beabsichtige auf jeden Fall, mit Ihrer Verwandten zu sprechen. Begleitet mich einer der Anwesenden? Sie, der Cousin?«

Minuten nach diesen Turbulenzen zerstreute sich die Runde.

»Herr Lorenz, einen Moment bitte. Ich habe Ihren Besuch genossen. Mein Sekretariat hat im Berghotel auf dem Hexentanzplatz ein Zimmer reservieren lassen. Passt das?«

»Danke, Bürgermeister. Eine prima Idee. Der Job hier ist bald erledigt. Ich sorge für die Aufhebung der Absperrung an der Teufelsbrücke. An Spuren ist da nichts Neues zu holen. Zum Schluss ein Gedanke außer der Reihe.«

»Bitte, gern. Ich kann mir denken, worauf Sie anspielen«, sagte das Stadtoberhaupt einnehmend lächelnd.

»Hmm, tja, damit ist alles gesagt. Eine hochinteressante Diskussion, die sich hier am Tisch bot. Sie verfügen über mitdenkendes Personal. Herzlichen Glückwunsch!«

»Danke! Die Stadt lebt vom Engagement ihrer Bewohner. Differenzstandpunkte zu verkraften ist Teil meines Jobs. Das trifft auf uns beide zu. Rufen Sie mich an, jederzeit, wenn Gesprächsbedarf besteht. Ich habe Herrn Feist gebeten, Sie zu begleiten. Er wartet vor dem Rathaus. Die Cousine war Ihr Ziel. Oder haben Sie Ihre Absicht geändert?«

»Oh ja, fleißige Raben sehen Sie in der Gestalt des lobenswerten Menschen«, erklärte sich Wilhelm Feist.

»Göttlich, Sie an meiner Seite zu wissen. Steigen Sie ein. Wohin führt die Reise?«

»Unser Ziel ist der Nachbarort. Ein altes Bauerngehöft. Sie werden staunen. Die Besitzer haben ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Meine Cousine wohnt dort. Sie ist ledig, die Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ich habe ihr geholfen, von Gottes Pfad nicht abzuweichen.«

»Danke! Ich beabsichtige nicht, die Beständigkeit zur Religion zu prüfen. Für mich ist es bedeutsam, dass von der Person die Meldung zum Verschwinden eines Menschen ausging. Eine Pflicht, die Ihnen ebenfalls oblag. Der vielgerühmte Wanderführer trägt den gleichen Nachnamen. Verbirgt sich dahinter nicht eine ausgedehnte Verwandtschaft?«

»Das stimmt. Allerdings sah ich anfangs keinen Grund zum Handeln. Zudem fand ich sein Verschwinden auch nicht besorgniserregend. Nachdem ich mit anderen Mitgliedern des Harzklubs gesprochen hatte, beschlossen wir, einfach abzuwarten. Eines Tages fehlte der redegewandte Rentner. Der Felsen auf der Rosstrappe blieb leer. Erste Anfragen von Urlaubern trudelten bei der Stadtverwaltung ein. Die Touristen sehnten sich nach den Geschichten des sagenumwobenen Mythenführers. Vergebens! Kein Problem, um zu hinterfragen. Erich hatte sich öfters zurückgezogen. Der Grund: Meditation. Ich sah ihn oftmals wochenlang nicht. Fragen Sie nachher seine Enkelin. Die klärt das auf.«

»Wir sprechen von Evelyn Feist? Mensch Wilhelm, ich habe keine Lust, Ihnen alles aus der Nase zu ziehen. Erzählen Sie. Wer ist sie in Wirklichkeit? Lassen Sie die Kuh vom Eis. Wieso spüre ich Anspannung in Ihren Worten?«

»Verzeihung! Ich versuch´s, fange von vorn an. Sie arbeitet freiberuflich, ist Kunsthandwerkerin. Töpferwaren mit ausgeprägten Farbnuancen stehen ganz ober auf der Beliebtheitsskala. Auf den Wochenmärkten im Harz ist sie oft anzutreffen. Sie begegnen ihr gleich auf dem Wirtschaftshof ihrer Oma.«

»Ist ein Wort. Okay! Ihr Gesicht, Wilhelm. Es ist blass. Gibt es Spannungen, von denen Sie mir nichts erzählt haben?«

»Nein, nicht, wie Sie es erwarten. Ich versuche, Ihnen klarzumachen, dass es besser für Sie wäre, meine Worte zu verinnerlichen. Die Hofbesitzerin ist eine ehrbare Person. Hatten Sie im Leben je die Möglichkeit, einem religiösen Oberhaupt zu begegnen? Höre ich ein Nein?« Er lachte verhalten. »Entschuldigung, ich habe die Antwort vorweggenommen. Das ist die Älteste. Sie steht in der Hierarchie der Gläubiger an erster Stelle. Hinzu kommt der geheimnisumwitterte Ruf einer Wahrsagerin. Mit ihren 86 Jahren ist sie ein wahres Leuchtfeuer. Ihre Passion, die Malerei, erwähne ich nebenbei. Herr Lorenz, ich bin ihr Neffe. Der Familienzusammenhalt ist uns heilig. Machen Sie sich selber ein Bild. Ansonsten treffen wir gleich mit meiner Cousine zusammen. Fragen sind ja erlaubt. Sie bewohnt ein alle Annehmlichkeiten bietendes Appartement innerhalb des Anwesens.«

»Ja. Verstehe. Um die Sache abzukürzen, halte ich für mich fest: Ihre Cousine genießt die Geborgenheit einer intakten Familie. Sie lebt nicht im Nirgendwo.«

»Okay. Dem stimme ich zu. Ihr Verhältnis zum Opa ist logischerweise anders zu bewerten. Ich habe mehr Abstand.«

»Weil? Gibt es dafür eine Erklärung? Das klingt ein wenig nach einem angespannten Verhältnis zwischen Ihnen.«

»Gott hat Kenntnis, dass mein Onkel in einer schweren Vergangenheit gefangen war. Dies hat ihn vom Weg angebracht. Bitte, ich beabsichtige nicht, vorzugreifen. Eines ist sicher, persönliche Befindlichkeiten schaffen Befangenheit. Das ist der Stimme Gottes unwürdig.«

»Klingt logisch. Obwohl dem ein Stück Überzeugung fehlt. Eines spricht für Sie. Es ist eine gewisse Portion an Talent, Menschen zu beschwatzen.«

»Hmm, ist nicht grade ein Kompliment, Herr Lorenz. Ist es nicht legitim, sein Wissen erst freizugeben, wenn keine Gefahr droht? Meine Gefühlswelt mag Ihnen sicher etwas sonderbar vorkommen. Die Bibel zu lesen ist die eine Seite, deren Gebote zu befolgen eine andere. Zumindest gibt es jede Menge weiterer Ebenen, die Genuss versprechen. Graben Sie an der Stelle und mein Onkel verliert den Strahlenkranz der Lichtgestalt. Die Familie, vergessen Sie niemals deren Einfluss.«