Katzenschwund

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“Muss es nicht Flachmann/frau heissen, heutzutage?“

“Hmm, voll korrekt, Mann.“

“Siehst du.“

“Aber Vorsicht, wenn man es richtig bedenkt, dann ist die Bezeichnung Flachfrau schon wieder sexistischer Mist. Da ziehst du dir sofort die komplette Frauenpower und den Hass aller Emanzen zu.“

“Wie das denn?“

“Flachfrau könnte ja als eine potenzielle anzügliche Beleidigung ausgelegt werden. Flachmann dagegen ist erlaubt. Die Welt ist eben ungerecht, Jelato, ungerecht und böse.“

“Verstanden. Da will man mal korrekt sein und es geht sowas von in die Hose. – Habt ihr die Namen von den Kindern, oder wer hat die jetzt?“

“Nee, wir nicht, wir kümmern uns wie üblich nur um die Toten. Die Namensliste hat die Kapo aufgenommen. Das bleibt alles bei denen.“

Es fiel ihm wieder ein: das hatte ja der kleine Apache vorhin schon gesagt. Aber da hatte er doch was gehört: Kapo?

Auch das traf ihn jetzt wieder: Kapo. Leichtes Unbehagen stieg in ihm auf.

Da war es schon wieder: das Gefühl, nicht richtig integriert zu sein. Obwohl in der Schweiz geboren und aufgewachsen, fremdelte er gelegentlich. Wie jetzt wieder. Er erschrak immer noch beim Wort Kapo.

Fehlt es denen an Feingefühl? Wissen die nicht, was ein Kapo** ist, oder besser war?

Verdammt: Führerausweis, Kapo. Er musste sich erst noch richtig eingewöhnen, nicht nur äusserlich, nicht nur sprachlich, auch im Kopf. Der Deutsche in ihm war noch nicht besiegt. Die Sensibilität beim Auftauchen solcher Wörter musste dringend durch ein dickeres Fell überdeckt werden. Er musste endlich die Begriffe in der Denkbeule überschreiben.

Der Computer im Gehirn fragte: soll die bestehende Datei komplett überschrieben werden? Antwort: ‘ja, und zwar subito!’.

Kapo gleich Kantonspolizei, er sagte es dreimal still auf, dann ging es ihm wieder besser.

“Okay, wie gesagt, mit den Kindern rede ich morgen.

Jetzt ist erstmal das Careteam dran.“

“Hmm“

“Sonst noch irgendwas?“

“Ach so, verheiratet war er wahrscheinlich auch.

Ehering gefunden. Name: Lisa. Hilft dir vielleicht weiter.“

“Okay. Danke. Ciao, bis morgen.“

“Ciao.“

Der Kommissar ging zurück zu seinem Assistenten.

Er hatte im Auto mehr schlecht als recht geschlafen, eigentlich nur gedöst. Auf jeden Fall nicht auf den Weg geachtet.

Nach dem anstrengenden Vortag, der sich mit Razzia in einem einschlägigen Lokal in Sissach bis in die Nacht hinzog, war er noch nicht richtig fit. Der Assisstent war ein sicherer Fahrer, ein kurzes Nickerchen hatte er also riskieren können.

“Wo sind wir hier eigentlich genau?”

“An den Talweihern, zwischen Rothenfluh und Anwil.“

“Anwieviel …?“

“ANWIL“

“Aha.“

“Der letzte Ort im Baselbiet. Solltest du kennen aus dem Lied der Baselbieter: ‘Vo Schönebuech bis Ammel‘. – Einfach da den Berg rauf.“

“Ah, das Lied kenne ich. Aber dass Ammel Anwil ist, das wusste ich nicht.“

“Das ist da, wo sich Fuchs und Hase nicht ‘‚Gute Nacht‘ sagen, weil sie sich nie treffen, so abgelegen.“

Lustisch, sehr lustisch.

“Ist eine sehr ruhige Gegend hier.“

“Bis auf einen gewissen Flugbetrieb, wie ich gerade höre. Wieso eigentlich?“

“Wir sind hier direkt unter dem neuen Warteraum GIPOL. Von hier aus geht’s dann zum Landeanflug nach Zürich.“

“Neuer Warteraum? Ist der besser als früher? Schön tapeziert oder was?“

“Weiss nicht. Auf jeden Fall ist das auch eine Folge davon, dass sich Deutschland und die Schweiz nicht geeinigt haben im Fluglärmstreit. Jetzt müssen die Flieger während der deutschen Sperrzeiten und bei Nord-West-Wind von hier aus anfliegen.“

“Das heisst, der Lärm ist jetzt in der Schweiz.“

“Jedenfalls mehr als vorher. Früher war das einfacher, da hat die Schweiz ohne Absprache oder Verträge einfach über den deutschen Luftraum verfügt. Nach dem Krieg konnte man sich das erlauben. Seit 1948 kommen die Flieger einfach über Deutschland rein.

Die hatten ja damals wohl genug andere und wichtigere Probleme als sich über ein paar Flugzeuge in ihrem Luftraum aufzuregen. Sie waren ja besetztes Land und es waren auch viel weniger Flugzeuge als heute.

Jetzt sieht das anders aus. Die Zeiten ändern sich.“

“Ich habe gelesen, dass alle Staatsverträge bis jetzt gescheitert sind.“

“Den Deutschen gehen sie zu weit, den Schweizern nicht weit genug, ein ideales Spielfeld für Juristen.

Den Streit gibt es jetzt schon 30 Jahre mit der Chance auf Verlängerung für weitere 30 Jahre.“

“Die Eidgenössische Rekurskommission für Infrastruktur und Umwelt hat 2005 entschieden, dass die Lärmschutzinteressen der Bevölkerung unter den Warteräumen als gering einzustufen sind.“

“Also, ein dreifaches Hurra für den gekröpften Nordanflug! Variante West. Fluginteresse hoch, Lärmschutzinteresse gering.“

“Je nachdem wen es trifft, sind die Lärmschutzinteressen so sekundär aber scheinbar auch wieder nicht.

Es gibt viele Flug- und Lärmvarianten, aber die Goldküste** darf natürlich nicht tangiert werden, von wegen Südanflug, kommt gar nicht infrage. Da wohnen zuviele Reiche mit zuvielen Anwälten und zuviel Einfluss und zuviel von allem.“

“Die Zürcher sind ja auch lustig. Bei Abstimmungen befürworten sie den Flughafenausbau und nachher schimpfen sie. Die hätten das so machen sollen wie die schlauen Basler, sollten sich mal ein Beispiel nehmen.“

“Wie haben denn die schlauen Basler ihr Problem gelöst?“

“Die exportieren den ganzen Dreck und Lärm komplett ins Ausland und haben ihren Flugplatz in Frankreich, und damit es keiner merkt, nennen sie ihn Euro-Airport und nicht etwa Flughafen Basel.“

Zurück zum Fall.

“Hier können wir erstmal nix mehr machen.“

“Also gut, fahren wir.“

“Ganz kurz ins Kommissariat, die Personalien checken, Adresse der Frau ermitteln, hinfahren und sie verständigen und eventuell schon befragen …“

Unterwegs zu den Versuchstieren

Die Adresse des Opfers hatten sie schnell ermittelt.

Das war auch kein Kunststück mit dem Ausweis des Toten. Es war ein Mehrfamilienhaus in Münchenstein.

Name und Beruf der Ehefrau waren ebenfalls kein Problem. Sie hiess Lisa und arbeitete als Tierpflegerin in einer Pharma-Firma in Basel, wo Versuchstiere gehalten wurden.

Von Münchenstein bis zu den Talweihern ist es ganz schön weit ohne Auto. Jedenfalls war am Fundort des Toten kein Auto entdeckt worden. Der gefundene Rucksack mit Karte und Proviant deutete ja auch klar auf einen Wanderer hin.

‘Wie war er dort hin gekommen? Die ganze Strecke zu Fuss? Wohl eher nicht‘, fragte sich der Kommissar.

Die Frau des Toten, die Lisa, die könnte da sicher weiterhelfen.

Also wollten sie zuerst mal zur Frau des Toten fahren, sowohl um sie zu benachrichtigen, als auch um sie zu befragen. Eine unangenehme Aufgabe.

Auf der Fahrt kam ihr Gespräch auf die Ehe im Allgemeinen und seine im Speziellen.

„Seit über fünf Jahren waren die beiden verheiratet, laut Datum im Ehering“, meinte er. „Das ist ganz schön lange, heutzutage, wo sie so schnell wieder auseinanderlaufen.“

Der Assistent: „Du bist doch schon viel länger verheiratet.“

„Das kann man nicht vergleichen. Ich bin schliesslich ein Saurier, ich gehöre einer aussterbenden Gattung an.“

Es fiel ihm noch etwas ein.

“Ich war mal mit meiner Frau Möbel kaufen. Da sind wir mit dem Verkäufer auch durch die Schlafzimmerabteilung gegangen. Dort standen Billig-Betten und Schränke und ich habe gesagt: ‘das hält doch nicht lange‘. Weisst du, was der geantwortet hat? Er hat gesagt: ‘‚Oooch, für die kurze Zeit, die die heute verheiratet sind, reicht das.“

Der Kommisar dachte weiter nach, dann fragte er:

“Kennst du eigentlich die Bedeutung der Vorsilbe ‘ver‘? Das drückt aus, dass etwas verkehrt ist, man hat sich verwählt oder verfahren, man hat was verloren und so weiter. Immer ist dann was falsch.“

“Was soll das jetzt?“

“Überleg mal: man ist verheiratet.“

“Ist es so schlimm?“

“Nee, aber das bedeutet doch was. Bei dir müsste es vielleicht eher heissen ‘ich bin zerheiratet‘.“

“Du neigst zu Übertreibungen. Ich kenne deine Frau, so schlimm wird’s schon nicht sein, Ihr habt euch ja auch mal irgendwann gern gehabt.“

“Du weisst doch was Liebe ist?“

“Ja, stell dir vor. Ich habe auch ein Privatleben.“

“Dann weisst du ja: Liebe ist eine vorübergehende hormonale Störung, die den Verstand ausser Funktion setzt. In dieser Zeit gewöhnen sich die Partner aneinander und lernen ihre Fehler gegenseitig zu tolerieren.

Wenn das dann passiert ist, ist sie nicht mehr nötig.“

“Das hat was. Im Tierreich tolerieren sich in dieser kurzen Phase Tiere, die sich sonst sofort gegenseitig auffressen würden. Liebe ist also ein Überbleibsel unserer tierischen Vergangenheit.“

“Man sollte als Mann auch nicht sagen: ‘ich habe geheiratet‘, sondern ‘ich wurde geheiratet‘, das ist Passiv, die Leidensform.“

“Mir fällt noch eine perfide Frage ein.“

“Was denn?“

“Schlägst du deine Frau immer noch?“

“Was soll das?“

“Ganz einfach: sagst du nein, gibst du indirekt zu, deine Frau früher geschlagen zu haben. Sagst du ja, bist du sowieso erledigt.“

 

“Raffiniert.“

Die Wohnung in Münchenstein war leicht zu finden.

Die Klingel funktionierte nicht. Die Gegensprechanlage auch nicht. Bei Nachbarn klingeln wollten sie aus Pietät nicht.

Also nahm der Kommissar sein Handy und wählte die ebenfalls ermittelte Nummer.

Der Anrufbeantworter meldete sich. Das übliche bla, bla, bla … aber dann zum Schluss: ‘Sie können eine Nachricht hinterlassen. Ich rufe Sie sobald als möglich zurück. Pfeifen Sie nach dem letzten Sprechton …‘

“Voll der Schenkelklopfer“, sagte er zum Assistenten,

“dann müssen wir eben zu ihrer Arbeitsstelle.“

“Nach Basel, zur Pharma-Bude?“

“Genau, nach Basel, auf in die Stadt!“

Sie machten sich auf den Weg nach Basel.

Unterwegs hörten Sie Musik im Auto, genauer gesagt Oldies, nicht dieses moderne Zeugs, wo man bei vorbeifahrenden Autos immer ‚ups – ups – ups – ups‘ hört und den Eindruck hat, das Auto würde pulsieren und bei jedem ‚ups‘ breiter werden und dann wieder schmaler. Das waren ja eigentlich nur fahrende Lautsprecher.

Sowas empfanden sie nur als akustische Umweltverschmutzung. Sie hörten Oldies, das waren musikgewordene Erinnerungen und im Kopf tauchten zu jedem Song auch gleich die dazugehörigen Situationen aus einer lange vergangenen Jugend auf. Ach, ja …

Dann aber hörten sie einen kurzen Pfeifton, ihre Oldies wurden unterbrochen und es kam eine dringende Verkehrsmeldung. Das hörte sich ernst an.

Es war eine ganz, ganz dringende Glatteiswarnung für ihre Strecke: Blitzeis! Es hätten sich schon mehrere Unfälle ereignet. Streudienste seien noch nicht vor Ort. Die Polizei mahnte zu angepasster Geschwindigkeit, ausreichendem Abstand und generell zu äusserster Vorsicht. Von notwendiger Winterausrüstung war die Rede. Und als Extra-Empfehlung der Tipp, doch 10 Minuten früher von zuhause loszufahren wegen der extremen Verkehrslage, oder noch besser: heute gar nicht fahren.

Mit einem weiteren kurzen Pfeifton war die Meldung beendet und ihre Oldies wurden wieder gespielt.

Der Assistent sass wie versteinert in seinem Sitz, wie vom Blitz getroffen, nein, wie von zwei Blitzen getroffen, man konnte sehen, dass es in ihm denkt, leider noch ohne aussprechbares Resultat. Aber es arbeitete in ihm … Jelato bemerkte das und war schon schadenfroh.

Der Assistent fragte: “Was war das denn?“

Scheinheilige Gegenfrage: “Was?“

“Ja, diese Verkehrsmeldung, verdammt. Glatteiswarnung, Blitzeis, Winterausrüstung. Das ist doch irre! Was soll das? Wir sind mitten im Sommer, die Sonne scheint, wir haben 27 Grad, und zwar plus!“

Jetzt kam sein Auftritt. Bühne frei, Vorhang: der Kommissar zeigte mit gespielter Lässigkeit nach vorne auf das Armaturenbrett.

Der Assistent schaute und erstarrte schon wieder.

Dann benutzte er ein Schimpfwort aus dem Bereich der Fäkalsprache. Da war er aber voll reingelaufen.

Verdammt, das hätte er merken können, nein, merken müssen. Da hat ihn der Alte aber böse gelinkt.

Dieses alte Auto hatte noch ein Kassettenabspielgerät, ein Tape-Deck, und was sie gehört hatten, war eine Kassette. Im Winter vom Radio aufgenommen, eine ganze Oldiesendung, eine Stunde lang inclusive dazwischen gequatschter Verkehrsnachrichten. Was andere verärgert löschten, liess Jelato absichtlich drauf.

“Ich habe auch eine Kassette für den Winter“, meinte der Kommissar spöttisch. „Da sind Oldies drauf und die Wassertemperaturen vom Freibad und dass die Kinder irgendwo hitzefrei haben.“

“Das ist ja krank.“

“Es dient der Auflockerung – und es ist eine Art Intelligenztest.“

“Wie kommt man nur auf solche Ideen? Ist das heilbar? Wird das irgendwann besser?“

“Nein, haha.“

Sie waren fast am Ziel.

Die Firma war am grossen Logo von weitem zu erkennen. Einfach der Strasse am Rhein entlang, nicht zu verfehlen.

An der Porte brachten sie ihr Anliegen vor.

„Wenn Sie bitte hier warten würden“, sagte der Portier und telefonierte. Nach dem kurzen Telefonat stellte er ihnen Besucherausweise aus. Er erklärte ihnen den Weg und wiess darauf hin, dass sie die Ausweise nachher wieder abgeben sollten.

Sie gelangten zum betreffenden Gebäude.

Vor dem Gebäude sahen sie an einer Ecke Leute stehen. Er dachte an eine Stehung, man müsste ja wirklich nicht immer eine Sitzung abhalten. Oder war das eine sogenannte Ansammlung, eine Keimzelle für einen Volksaufstand, eine Verschwörung, ein konspiratives Treffen?

Das war es aber nicht. Es stieg Rauch auf. Habemus papam. Von wegen, nix da, habemus Zigarette!

Das war die Raucherecke, wie früher auf dem Schulhof, wo sie von fortschrittlichen Leuten eingeführt worden ist und von noch fortschrittlicheren Leuten Jahre später wieder abgeschafft wurde.

Die standen da und zogen sich gerade ihre Lungenbrötchen rein.

“Siehst du, das ist wahrer Fortschritt. Die Raucher werden in Zukunft nicht mehr an Lungenkrebs sterben.“

“Wieso?“

“Sie erfrieren im Winter im Freien.“

“Fortschritt hat viele Gesichter.“

Sie betraten das Gebäude.

Im Eingangsbereich hing ein grosses Bild an der Wand. In weisse Tücher gekleidete dunkle Gestalten in der Nacht, die erinnerten fast ein wenig an Ku Klux Klan. So um die 100 solcher Leute schlichen in einer langen Reihe an den Wändern der Häuser in einer Stadt entlang.

Darunter der Spruch:

Horig, horig, horig isch die Katz,

und wenn die Katz nit horig isch,

no fängt sie keine Mäuse! Horig, horig.

Der Assistent meinte: “Irgendwie mysteriös, und das Bild scheint mir unpassend in einer Versuchstierhaltung.“

Der Kommissar mit seinen deutschen Wurzeln erklärte dem Assistenten, was es damit auf sich hat.

“Das ist die alemannische Fasnacht auf der anderen Seite des Rheins, das kennst du halt nicht. Das sind die Hüüler von Bad Säckingen, ist ungefähr 40 km von hier weg, und was die machen, das heisst Ecken auslaufen.“

“Was soll der Katzenspruch?“

“Das ist ein ungelöstes Rätsel der Menschheit. In der Region hier haben sie es eben mit den Katzen. Sie verehren dort auch eine Dichterkatze, den Kater Hiddigeigei. Da musst du halt mal den „Trompeter von Säckingen“ lesen. Die haben nicht nur eine Scheffelstrasse, der hat es nämlich geschrieben, der Scheffel, die haben einen Hiddigeigei-Brunnen, ein Hiddigegei Hotel, eine Hiddigeigei Skulptur, eine Hiddigeigei …“

“Hör schon auf, ich werde ja selber noch ganz Hiddigeigei.“

“Jaja, aber in dem Gedicht gibt es eine Stelle, die würde viel besser hierher passen.”

Er zitierte:

“Ach, das Leben birgt viel Hader

Und schlägt viel unnütze Wunden,

Mancher tapfre schwarze Kater

Hat umsonst den Tod gefunden”

Soviel Bildung hätte der Assistent dem Kommissar gar nicht zugetraut. Der Alte überraschte ihn immer wieder, heute schon zum zweitenmal.

“Das würde wirklich besser zu den Versuchstieren passen, dürfte aber sicher nicht aufgehängt werden.“

“Pass nur auf. Man erklärt uns sicher gleich, dass hier jede Katze gerne Versuchstier wäre, und dass es wahrscheinlich lange Wartelisten für die Katzen draussen gibt.”

“Ich glaube, sie verkaufen unter anderem Rattengift in ihrer Geschäftssparte namens Tiergesundheit. Da muss man auch erstmal drauf kommen.”

Sie wurden bereits vom Vorgesetzten der Frau erwartet.

Das Büro war eingerichtet wie eben geschäftliche Büros eingerichtet sind.

Jelato analysierte es blitzschnell.

Handy vorhanden, Notebook auf dem Tisch, kein überragendes Kunstwerk an der Wand, kein Teppich, etwa 15 Quadratmeter Bürofläche, keine eigene Sekretärin. Also mittleres Management.

Er war nicht hierarchisch orientiert, im Gegenteil, das werden wir noch sehen, aber er wollte immer möglichst schnell wissen, wer ihm gegenüber sitzt.

Dann das übliche Bild einer dümmlich grinsenden Geschäftsleitung mit einem Stück Papier vor sich, wahrscheinlich so ein ISO-Zertifikat aus der früher grassierenden ISO-Zertifizierungswelle, oder Supplier of the year oder ähnlicher Käse.

‘Das soll die Quelle der Innovation hier sein? Die sehen ja aus wie ein Anti-Beatles-Komitee aus den 60er Jahren, alle im dunklen Anzug, wie bei einer Beerdigung und dann dieses lächerliche Stück Papier‘, dachte er.

Ein merkwürdiges Objekt auf dem Schreibtisch, nicht ganz klar, was das sein soll, mit einer Gravur. Er vermutete sowas wie Employee of the month, also die englische Form von Held der Arbeit, für 150-prozentige Planübererfüllung.

Sie erklärten zum zweitenmal, weshalb sie hier waren.

Der Vorgesetzte, der sich nun sehr wichtig vorkam, lies die Frau rufen.

“Die Lisa soll doch mal kommen, es ist dringend!“

Lisa – die Frau des Toten

Es dauerte nicht lange, da kam sie zur Tür herein, zierlich, eher schüchtern, mit dunkler Vorahnung von irgendwas Ungutem, da aus Erfahrung ein Ruf ins Büro des Chefs selten etwas Positives bedeutete.

Meistens musste sie sich dann lange Vorträge anhören und sogenannte unangenehme Mitarbeitergespräche über sich ergehen lassen.

Auch der jährliche Zieldialog, den sie hier im Haus alle aus irgendeinem Grund Zielmonolog nannten, wurde in diesem Büro geführt. Und natürlich die Mitarbeiterbeurteilung, die sie sich alle gefallen lassen mussten, ohne Gegenrecht auf eine Chefbeurteilung selbstverständlich, man weiss ja warum ...

Aber heute war es wirklich ernst, sehr ernst.

“Setzen Sie sich doch bitte, wir haben leider eine sehr traurige Nachricht für Sie.“

Und dann kam das, was der Kommissar am meisten an seinem Beruf hasste …

Nachdem sie sich einigermassen wieder gefasst hatte, traute er sich mit ein paar Fragen raus, er fing belanglos an:

“Wie lange arbeiten Sie denn schon hier?“

Der Vorgesetzte: “Sie ist jetzt schon sieben Jahre bei uns.“

“Sie arbeiten hier mit Tieren?“

”Ja, hier werden Versuchstiere gehalten, für die Arzneimittel-Tests und so“, meldete sich schon wieder der Vorgesetzte.

Es hätte den Kommissar überhaupt nicht überrascht, wenn auf seiner Visitenkarte der Name „P. Lappermaul“ gestanden hätte.

‘Zu vorlaut, der Junge, so wird das nix‘, dachte er gleich – und dann: “Kommen Sie, wir fahren Sie nachhause“ und zum Vorgesetzten, “sie kann doch sicherlich jetzt heim?“

Aber das war eigentlich keine Frage, er erwartete auch keine Antwort.

Der Vorgesetzte “Plappermaul” jammerte noch ein bisschen von wegen ‘selbstverständlich‘ und ‘Ersatz beschaffen‘ und ‘wieder melden, wenn‘s besser geht‘, aber sie waren jetzt schon draussen und auf dem Weg zum Auto.

“Wir reden lieber irgendwo in Ruhe weiter, wenn’s recht ist.“

Nach ein paar Schritten wunderte er sich.

“Wieso ist hier soviel Platz zwischen dem Gebäude und dem Zaun, und was ist mit dem Zaun?“

Das waren sicher gute 50 Meter freie Distanz und Stacheldraht oben auf dem Zaun.

Sie war natürlich ziemlich verstört und total abwesend.

Aber sie antwortete doch. Die wichtigsten Worte in ihrer Erklärung waren Sachen wie ‘Handgranatenwurfweite‘, ‘militante Tierschützer‘ und ‘es wurden auch schon mal Beagles befreit‘.

Da fiel ihm die Lawinensuchkatze von den Kindern ein.

“Halten Sie hier auch Katzen?“

“Auch Katzen.“

“Aber Sie haben hier nichts zu tun mit verschwundenen Katzen in der Region?“

“Nein, sicher nicht. Solche Tiere wären für uns auch völlig unbrauchbar.“

“Wissen Sie, es gibt immer wieder so Gerüchte, dass Tierfänger im Auftrag von Tierversuchsfirmen unterwegs sind und streunende Hunde und Katzen einfangen.

“Das wäre ungesetzlich und würde uns auch gar nichts nutzen. Diese Tiere haben einen undefinierten Gesundheitszustand und wir wissen nicht, was sie an Bakterien, Würmern, Milben und so mit sich rumtragen. Das würde alle Testergebnisse wertlos machen.

Kann auch für Menschen sehr gefährlich sein, Toxoplasmose zum Beispiel, wenn eine Frau schwanger ist.“

 

Bei ihr zuhause in Münchenstein in einer gemütlichen Dreizimmerwohnung konnte dann ein endlich ungestörtes Gespräch stattfinden.

“Geht es? Sollen wir jemanden verständigen?“

“Nein, ich rufe meine Eltern und Schwiegereltern nachher selber an.“

“Dürfen wir ein paar Fragen stellen?“

“Ja.“

Dann fing ein langes Gespräch an.

Jelato‘s Hauptinteresse galt natürlich dem Vorabend, dem Verhalten des Toten, seinem Gesundheitszustand, eventuelle Probleme mit Nachbarn oder Kollegen, dem Zustand ihrer Ehe.

Am Anfang von Ermittlungen weiss man ja noch nicht, was von Bedeutung sein könnte. Also fängt man erstmal breit an und alles und jedes wird abgeklopft, in der Hoffnung, irgendwo einen Ansatzpunkt zu finden.

Lisa erzählte ihnen, was ihr Mann am Vorabend gemacht hatte und was er für den nächsten Tag plante.

Am Abend vor seinem Auffinden schaute er demnach noch die Wetternachhersage mit Karlsson vom Dach** an und kritisierte, dass wieder mal eine falsche Prognose vom Vortag aufgearbeitet werden musste. Und anschliessend wurde für den nächsten Tag leider wieder nur eine Wischi-Waschi-Prognose abgeliefert. Das hätte ihren Mann genervt, weil er was vor hatte am nächsten Tag.

Die legten sich nicht fest, die Brüder und Schwestern, erzählten was von Regenwahrscheinlichkeiten und gelegentlichen Aufklarungen, dass es nachts dunkel wird und morgens wieder hell und so Zeug. Sie drückten sich vor der klaren Aussage, dass sie auch keine Ahnung hatten. Sie hatten nur eine vage Vorahnung, wie es am nächsten Tag wettermässig werden könnte. Dafür brauchten sie aber sehr viele Worte. Und am Schluss schoben sie die Schuld auf irgendeinen Computer. Die Modelle widersprächen sich. Das übersetzte ihr Mann jeweils mit ‘Nichts Genaues weiss man nicht‘.

Über so einen Mist hätte er sich immer geärgert, nicht viel, aber doch. Sich ein bisschen zu ärgern hätte ihm aber womöglich gefallen, er hätte ja schliesslich die Wetternachhersage jeden Abend extra angestellt, um sich zu ärgern. Seine Frau hatte immer den Verdacht, er spielt nur ärgern.

Der Kommissar dachte beim Wort ‘ärgern‘ dann sofort an seine eigenen Erfahrungen mit den Wetterprognosen. Die hatten ihm schon manche potenzielle Bergtour versaut. Da sagen sie schlechtes Wetter voraus und dann wird es doch ein herrlicher Tag. Aber er unterdrückte seinen Kommentar.

“Wenn man wüsste, dass man bald sterben muss, dann wäre man bei solchen Kleinigkeiten viel gelassener“, sagte Jelato ernst. “Man würde viel klarer unterscheiden zwischen wichtig und unwichtig.“

“Ach, das konnte er. Er hat manchmal gesagt, dass es in der deutschen Sprache heisst ‘sich ärgern‘, oder auch ‘ich ärgere mich‘. Das heisst, das muss man schon selber machen. Ein anderer kann einen gar nicht ärgern, wenn man das nicht selber macht.“

“Ja, das Spiel heisst ja auch: Mensch ärgere dich nicht und nicht Mensch, ich ärgere dich nicht.“

Seiner Frau hatte der Tote am Vorabend erklärt, dass er mal raus müsste. Keine grosse Sache. Einfach einen Tag ohne Stress, raus in die Natur, an die frische Luft. Wetter wäre ja sowieso nicht richtig vorhersehbar, aber eher gut. Sein Arzt hatte ihm wohl zu sowas geraten.

Viel Ärger in der Bank. Die berufliche Situation mal durch den Kopf gehen lassen, abschalten, nur wandern, Schwimmsachen sicherheitshalber einpacken, irgendwo einkehren. Nur raus aus der Jobmühle, er nannte es ‘Batterien wieder aufladen‘.

Das tat er gelegentlich, soweit also nichts Auffälliges, aber jetzt war es ihm irgendwie wichtiger als sonst, wahrscheinlich wegen dem ärztlichen Ratschlag.

Überhaupt, die Tatsache, dass er einen Arzt aufgesucht hatte, zeige den Ernst der Lage. Er wäre nicht der Typ, der wegen jedem Mist zum Arzt rennt.

“Er hatte kein Handy bei sich. In seinem Beruf hat man aber sicher ein Handy, gehört doch zum Alltag.

Wissen Sie, weshalb nicht?“

“Der Arzt hat ihm wohl gesagt, er soll das Stressteil doch mal weglegen, daheim lassen, oder mindestens ausschalten. Er hat es dann hier gelassen und gemeint, das ging früher ja auch ohne.“

Sie hätten jetzt eigentlich gehen können, aus ihrer Sicht war die Befragung vorerst abgeschlossen. Aber die Frau hatte noch viel auf dem Herzen.

Es kam dann alles mögliche zur Sprache, natürlich überwiegend die heute üblichen Dinge, wie sie in jeder grossen Firma ablaufen.

Sie hörten aufmerksam zu. Es könnte etwas Relevantes für den Fall dabei sein. Das konnte man vorher ja nicht wissen.

Und dann ging es um die grossen aktuellen Themen in der Wirtschaft, aber diesmal nicht aus der Sicht von Finanzanalysten, mitverdienenden Politprofis oder unbeteiligten Journalisten. Nein, diesmal aus der Sicht von Betroffenen, eins zu eins, original, unverfälscht, ohne Blick auf Verkaufszahlen und Wahlen.

Angst um den Arbeitsplatz, Globalisierung, Profitmaximierung, Personalabbau in grossem Stil, und zwar sowohl in ihrem Betrieb als auch in der Bank ihres Mannes, dort wären sie wohl auch am Reorganisieren und Restrukturieren.

Ihr Mann hätte sich Gedanken gemacht deswegen.

Die Reorganisationen und Restrukturierungen erfolgten in immer kürzeren Abständen, jetzt wäre es praktisch ein permanenter Prozess. Alles ein Zeichen der Hilflosigkeit, was da gemacht wird. Die chaosverliebten Manager könnten so hinter dauernden Reorganisationen ihre Unfähigkeit verstecken, genau wie die Partei in China, dort heisst das Chaos permanente Revolution. Nur eines hätten alle Massnahmen immer gemeinsam: Personalabbau, Stellen streichen. Was anderes könnten die heutigen CEO’s wohl gar nicht mehr.

Diese Sparprogramme hätten als einzig kreatives Moment immer wieder neue Namen. Was das Erfinden von solchen Namen angeht, würde es den Managern nicht an Kreativität mangeln. Je nach Zeit und Firma hiessen diese Programme Desiderio, Call to Action, Operative Agenda, Forward oder Operational Excellence, neuerdings auch Focus 2015, 2016, 2017 und so weiter.

In ihren beiden Firmen würde praktisch dasselbe passieren: Auslagerung der Telekommunikation nach England, Verlagerung der Informatik nach Indien, Standort Schweiz zu teuer, Auflösung aller Infrastrukturen wie Feuerwehr, Bewachung, Handwerker, Reinigung, Abfallentsorgung und so weiter, alles weg zu billigeren Dienstleistern. Hat früher alles zur Firma gehört und jetzt ist es extern.

Es kam alles auf den Tisch, was die Belegschaften derzeit so beschäftigte.

Die Mitarbeiter wären nur noch zu teure Produktionsfaktoren. Die Kostenstruktur müsse angepasst werden und, und, und, … bei ihnen im mehr technischen Bereich hiesse das manchmal Lean Production und Reinvention und Restart und in der Bank einfach nur Effizienzsteigerung, wegen Geldverlust durch Zockerei und wegen den hohen Strafen in allen Ländern, vor allem USA, da müssten gewaltige Rückstellungen gemacht werden.

Ausserdem plane man eine Konzentration auf das Kerngeschäft und so weiter. Was das denn genau wäre, dieses Kerngeschäft, das bliebe jeweils meist im Dunkeln. Oft genug aber war es der Bereich mit der höchsten Marge.

Er erinnerte sich an einen Spruch von früher: ‘der Mensch als Mittelpunkt‘, aber anders geschrieben: ‘der Mensch als Mittel. Punkt‘.

Und er dachte auch an die neuen Manager. Die sind wie kleine Kinder, ein Lego-Häuschen kaputt zu machen ist eben leichter als eines zu bauen.

Richtig ergiebig für ihre Ermittlungen war auch der weitere Verlauf des Gespräches nicht.

Bevor sie gingen fragte er noch zwischen Tür und Angel: “Sie haben eine Katze?“

“Ach wegen dem Katzenbaum dort? Nein, wir hatten mal eine. Die ist aber verschwunden. Eines Tages kam sie einfach nicht mehr zurück. Und nur nebenbei, sogar die Versuchstiere sind von den Umstrukturierungen betroffen. Ihre Stellen werden auch zusammengestrichen.“

“Nein.“ – „Doch.“

“Was passiert mit den Tieren?“

“Das wollen Sie nicht wirklich wissen.“

“Ohje, trotzdem, besten Dank für Ihre Auskünfte. Und nochmals aufrichtiges Beileid.“

“Ja, danke.“

Wieder draussen meinte der Assistent: „Das ist doch überall dasselbe in der Arbeitswelt, überall derselbe Mist. Die Arbeit wird in Billiglohnländer verlagert und die Leute hier werden rausgeschmissen. Wer hat denn heute eigentlich noch Spass an der Arbeit? Wenn das unser Fortschritt ist.“

Dabei hatten sie doch nur mal live gehört, was genau so jeden Tag in der Zeitung stand. Aber live ist das dann doch nochmal was anderes. Plötzlich wird aus der anonymen Zahl 3‘000 aus der Zeitung ein Mensch. Ein einziger Fall reicht da manchmal schon.

“Spass an der Arbeit hatten ursprünglich alle. Der Mensch kann gar nicht anders. Es ist seine Natur“, meinte Jelato.

“Das ändert sich aber schnell.“

“Ja, es passiert etwas Merkwürdiges. Nach einer bestimmten Zeit in einer solchen Arbeitsatmosphäre sind sie frustriert und ziehen sich zurück in ihr Schneckenhaus. Sind diese Leute dann wieder zuhause, werden sie sofort hochaktiv. Die laufen Marathon, buddeln den halben Garten um, sind kreativ in ihren Hobbies, schauspielern, töpfern, züchten Rosen, trainieren ihre Hunde, kümmern sich um Pferde, sind hoch motiviert. Ich kenne welche, die fahren am Abend mit dem Rennrad noch schnell 60 km. Das machen die Menschen aber nur freiwillig, würde man sie dazu zwingen, gäbe es einen Aufstand.“

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