Die Faxen Dicke

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Die Faxen Dicke
Die Faxen Dicke
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Czyta Reiner Hänsch
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24.12. Ko Samui - erster Tach: Pelledei Lock Lissoh
(Paradise Rock Resort)

„WÄLLKAMM TO THAILÄNN! WÄLLKAMM TO THAILÄNN!“

Da. Ich kann sie sehen! Mitten im stürmischen Meer der hilflos herumtreibenden Touristen und anderer Gestrandeter, die alle wie wir aus der Ankunftshalle des fernen Flughafens im Paradies geschwemmt werden, entdecke ich sie als Erster. Die thailändische Außendienstmitarbeiterin von Töffte Reisen. Sie ist ganz klein und man sieht sie nur, weil sie die leuchtend rote Pappe mit der typischen, markanten Aufschrift „Töffte Reisen“ ganz hochhält. Und die kleine Frau selbst kann man nur sehen, weil sie ab und zu einen lustigen Hüpfer macht, um ihrerseits auch mal über das wogende Meer der erschöpften Touris gucken zu können. Wie eine rote, auf den Wellen hüpfende Rettungsboje in ganz schwerer See.

Aber sie ist da. Nur für uns. Wir sind angekommen.

Es ist unerträglich heiß für uns arme Menschen, die direkt aus dem deutschen Winter kommen – und es regnet in Strömen. Wie zu Hause.

Nein, falsch. Völlig falsch. Es regnet nicht, sondern ein tropischer Wasserfall ergießt sich aus einer Milliarde Himmelseimern prasselnd auf das Dach des offenen, im lockeren rustikalen Urwaldstil erbauten Ankunftsgebäudes und macht die Verständigung schwierig.

„DA!“, brülle ich meinen Leuten durch das Unwetter zu.

„WAAAS?“, Steffi ist nach dem langen Flug etwas gereizt.

„ACH, EINFACH MITKOMMEN!“ Ich bin auch nicht mehr derselbe. Ja, ja, der Urlaub macht sich schon bemerkbar.

Ganz unauffällig und in der Hoffnung, dass vor allem Steffi es nicht bemerkt, ziehe ich kurz mein Handy aus der Hosentasche und schalte es an. Es dauert eine Weile, aber dann meldet sich das kleine Wunderwerk mit voller Beleuchtung und fünf Ladebalken. Oh, ich muss sparsam sein. Und als ich es direkt wieder ausschalten will, da klingelt es doch tatsächlich. „Tätäätätää­tätäätätää!“ Erschrocken drehe ich mich nach Steffi um, aber sie hat in dem allgemeinen Lärm nichts gehört. Also gehe ich eben dran. Es ist Ulli. Mein lieber Kollege aus der Redaktion unserer Zeitung im fernen Sauerland.

„Ja?“

„Hömma, Don Camillo, … pchch … halt dich fest …“, quäkt das Handy mit Ulli drin schon los.

„Ich bin nicht …“

„Ja, halt ma die Klappe, Don … pchch …, ich muss dir wat … pchch … erzählen, … pchch … glaubsses nich’.“

Schlimme Störungen.

Tja, da hat der Ulli sich wohl verwählt und denkt, ich sei Don Camillo. Don Camillo, müssen Sie wissen, ist mein Partner und der Herr der Finanzen unserer kleinen Zeitung. Heinz-Josef Camillo Montebello heißt er mit ganzem Namen. Sein Vater war Italiener. Bei uns heißt er natürlich nur Don Camillo. Bietet sich ja an.

“Der Blömecke“, krächzt das Handy weiter … pchch … Großkotz Schlüter … pchch … Riesensauerei … pch … pch …“

„Ulli, ich bin’s, Alex, was ist da los?“

„Alex?“, fragt das Handy erschrocken. „Scheiße!“

Und dann ist die Verbindung tot. Was wollte er denn da so Wichtiges an Don Camillo berichten. Blömecke, Schlüter, Riesensauerei? Ich muss ihn unbedingt sofort noch mal zurückrufen.

Aber da steht Steffi schon direkt neben mir und hat diesen Blick drauf, der Telefongespräche momentan nicht duldet.

„Abschalten! Urlaub!“, sagt sie nur und das reicht dann auch schon. Ich schalte es also schnell wieder aus und lasse es mit unschuldigen Gesicht wieder in die Tasche flutschen. Später.

Jetzt nähern wir uns erst mal voller Hoffnung und völlig erschöpft dieser so sympathisch lächelnden, hübschen, kleinen Person mit all unseren Habseligkeiten, die wir mit viel Fantasie und Mühe auf zwei quietschenden Gepäckkarren untergebracht haben, und sehen sie leer und kraftlos an.

Hilf uns! Erbarme dich unser!

„Ah ju Missa änn Missi Leichenhalle?“, fragt sie uns mit einer recht hohen, leicht kieksigen Stimme, die sich an einem sehr gewagten Englisch versucht.

Leichenhalle? Nein. Das sind wir nicht. Das ist ja gruselig.

„Ah JU Missa änn Missi Leichenhalle?“, versucht die kleine rote Bojenfrau es weiter und wendet sich jetzt an ein älteres, etwas verkrampft und irgendwie unzufrieden wirkendes Paar. Bayern, wie wir schon vorher an ihrem niedlichen Dialekt eindeutig erkannt haben.

„Schorsch, jetzt moch holt! Du Hirsch, du dammischer!“

Die Reise hat auch bei ihnen ihre Spuren hinterlassen, und sie scheinen jetzt schon alles zu bereuen. Beim Aussteigen haben sie ein gehöriges Tempo vorgelegt, das ich den beiden in ihrem Alter gar nicht mehr zugetraut hätte. Sie wollen wohl auf jeden Fall die ersten sein, die hier in die trügerische Freiheit des Flughafens von Ko Samui entlassen werden, haben es aber leider nicht ganz geschafft, obwohl die stämmige Frau ihren Gatten durch kasernenhofähnliche Anfeuerungen immer wieder zu Höchstleistungen angetrieben hat.

Aber unsere Koffer waren einfach schneller. Sie waren nur Zweite. Ätsch. Die Bayern müssen nicht immer gewinnen. Und jetzt steht dieser unzufriedene, gebeutelte, bayrische Mann mit seiner noch unzufriedeneren Gattin direkt neben uns, und sie klammern sich, schon sichtlich geschwächt, an die rettende Boje, um nicht doch noch in letzter Minute abzusaufen.

„Jetzt sog halt wos!“, sagt sie.

Und er sagt dann artig: „Na. Des san mir a net! Mir hoaß’n Reichenhaller!“, mit der letzten verbliebenen Würde.

„Yes, Leichenhalle“, sagte die freundliche, mandeläugige Boje und zeigt auf ihre zerknitterten Papiere, die sie fröhlich in der linken Hand schwenkt. „Here look, Lei-chen-hal-le, two Pörssen.“

Der wuchtige Bayernmann wirkt zunächst verwirrt und wischt sich den strömenden Schweiß von der breiten Stirn, aber nach so einer Tortur von Flug scheint er mit jedem Namen einverstanden. Also nimmt er den neuen Namen, nach kurzer, demütigender Rücksprache mit seiner Gattin, an und die beiden setzen sich erschöpft und dankbar in die Richtung in Bewegung, in die die freundliche Rettungsboje zeigt. Frau Leichenhalle allerdings nicht, ohne sich noch mal demonstrativ nach uns umzudrehen und dann mit triumphierenden Blicken zum wartenden Bus zu schippern. Die Bayern sind wieder vorne.

Doch wo sind wir?

Wir haben schließlich auch einen Namen und einen Anspruch darauf, jetzt endlich erlöst zu werden aus der Hölle unserer vor über zwanzig Stunden begonnenen Traumreise, alle Zwischenstopps und Verspätungen mitgerechnet. Der angekündigte Abflug in Düsseldorf sollte zwar erst um die sehr moderate Zeit von elf Uhr fünfundvierzig stattfinden, aber wir mussten natürlich trotzdem schon in unmenschlicher Frühe aufstehen, um den fernen Flughafen zu erreichen, weil das Sauerland ja schließlich nicht direkt zu Düsseldorf gehört. Außerdem mussten wir noch mal und noch mal überprüfen, ob wir denn auch wirklich alles dabei haben.

Unser Tag begann praktisch gegen sechs Uhr heute Morgen, nein, das war ja schon gestern. Wir haben ja Zeit und Raum über-wunden, sämtliche physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt und sind ja gewissermaßen in die Zukunft geflogen. Wir erleben ja jetzt hier, weit im Osten, eine Zeit, die in unserem alten, kalten, nassen Deutschland erst in sechs Stunden stattfinden soll. Da blickt man kaum noch durch.

Ich denke kurz an meine Kollegen in der Redaktion, wo es gestern sicher noch eine kleine Weihnachtsfeier gegeben hat. Vielleicht ist die Feier ja auch noch gar nicht vorbei. Im sauerländischen Leckede-Hintersten ist es ja jetzt erst sechs Uhr morgens, und vielleicht hat man ohne den ätzenden Chef einfach mal etwas länger und ausgiebiger gefeiert. Gut möglich.

Ich habe vor dem Abflug noch mal in der Redaktion angerufen und mit Don Camillo gesprochen, um ihm zu sagen, dass es eben jetzt mal zwei Wochen ohne mich gehen müsse.

„Ja, ja“, hat er nur gesagt, „dat geht schon.“ Und weil er im Sauerland geboren ist, sagt er noch: „Getz ärholsse dich ärsma, wo.“ ‚Wo‘, ganz kurz gesprochen, ist eine der durchaus gebräuchlichen Sonderformen von ‚woll‘. Ich kann mir vorstellen, dass er dabei vor den Kollegen eine alberne Fratze gezogen hat. Die sind so froh, dass sie mich endlich für eine ganze Weile los sind.

Don Camillo und ich verstehen uns prima, aber auch er hat mir dringend zum Urlaub geraten.

Naja. Jetzt bin ich ja weg.

Und wir sind dann heute … also gestern, ach egal, alle ganz früh wach gewesen und haben uns in den Zug nach Düsseldorf gesetzt. Das Auto sollte zu Hause bleiben. Ganz stressfrei dieses Mal. Und im Zug haben wir dann sogar noch ein wenig schlafen können.

Wir sind dann in das Taxi gestiegen, das uns zum Flughafen bringen sollte und konnten immer noch nicht recht glauben, dass wir wirklich in den Urlaub fuhren. Noch waren wir ja auch in Düsseldorf. Und als wir dann noch mal unser Gepäck ansahen, das wir da soeben hinten im Kofferraum des beigen Mercedesbusses verstaut hatten, konnten wir auch nicht glauben, dass das wirklich alles war. Es kann eigentlich nicht sein, dass man mit vier Schrankkoffern und sechs großen Taschen und Beuteln als Handgepäck vierzehn Tage im Paradies überleben kann. Wir mussten was vergessen haben.

„Abgeschlossen?“, eröffnete meine liebe Steffi dann im Taxi ein spannendes Match, und ich konterte gelassen per Rückhand mit „Jou!“

Die nächste Ballangabe hieß dann „Gas aus?“

Ich parierte wieder locker mit „Jou!“

„Heizung runter?“

„Jou!“

„Pässe?“

„Jou!“

„Kreditkarten?“

„Jou?“

„Sonnenbrille?“

„Jou!“

„Badehose?“

„Jou!“

Dann ging es immer weiter ins Detail und verlor sich irgendwann im Unwichtigen wie zum Beispiel „Schwarze Socken?“. Darauf antwortete ich dann gar nicht mehr, während der Taxifahrer schon seit einigen Minuten auf den Befehl „Umdrehen!“ zu warten schien und mich unsicher von der Seite anschielte.

 

Dafür dachte ich mir dann aber selbst eine Frage aus dem „Checked-Roger-Over-Peep-Pilotenspiel“ aus, die heute Morgen (oder eben gestern) „BÜGELEISEN?“ lautete.

Damit hatte ich sie. Ha! Spiel, Satz und Sieg.

Meine liebe Steffi hatte nämlich am Morgen, also eigentlich ja mitten in der Nacht – sie ist dafür schon um halb vier aufgestanden, weil sie sowieso nicht schlafen konnte – noch ihr kleines Schwarzes gebügelt, weil sie angeblich davon geträumt hat, mit mir auf einer besonders schicken Party im Paradies zu sein mit lauter berühmten und bekannten Leuten. Und als Sky Dumont sie dann fragte, ob er ihr einen scharfen Sex-on-the-Beach anbieten oder auch nur einen gewöhnlichen Banana-Cocktail von der Bar mitbringen dürfe, da bemerkte sie, dass sie nichts anhatte. Nichts. Sie war nackt. SIE HATTE EBEN NICHTS AN-ZU-ZIE-HEN!, wie sie ja auch selbst immer sagte. Auch wenn ich immer sagte: „Wozu willst du das denn mitnehmen, das brauchst du doch nie!“. Aber da haben wir den Beweis: Für diese schicke Party mit Sky Dumont hatte sie eben nichts. Gar nichts.

Also bügelte sie mitten in der Nacht.

Ich hatte sie! Mit „Bügeleisen?“ hatte sie nicht gerechnet. Ohrenbetäubende minutenlange Stille aus dem Halbdunkel des dem Flughafen entgegenrasenden Mercedes-Rücksitzes. Entsetztes, endloses Schweigen, schockgeweitete Augen. Der Taxifahrer verminderte dann auch schon mal prophylaktisch die Geschwindigkeit, wir fuhren plötzlich fast nur noch Schritttempo, und immer wieder schaute er lauernd und abwartend zu mir herüber.

„Bü-gel-ei-sen“, quälte meine arme Steffi sich hinter mir. „Bü-gel-ei-sen … verdammt.“

Natürlich war das Bügeleisen aus. Ich hatte es extra noch mal überprüft, weil es ihr schon einmal, ein einziges, dummes Mal passiert war, es nicht auszuschalten. Zum Glück fuhren wir da nicht gerade ans andere Ende der Welt in den Urlaub, sondern nur zu Tante Hedi ins Bergische, und konnten also locker umdrehen und die Katastrophe verhindern.

Ich ließ meine Steffi aber boshafterweise noch ein wenig zappeln. Das war fies. Ja. Vielleicht lag es an der allgemeinen Erregung, am so genannten Reisefieber … ich will es auch nie wieder tun.

Der Taxifahrer wurde noch langsamer und einige Fahrzeuge rasten böse hupend an uns vorbei … nein, ich konnte nicht riskieren, dass wir deswegen zu spät zum Flughafen kamen, also sagte ich schließlich: „Bügeleisen ist aus, mein Schatz. Ich hab selbst nachgesehn.“

„Oh, du mieser Kerl, und es WAR auch aus. Ich HATTE es ausgeschaltet. Das WEIß ich doch!“ Steffi war echt sauer.

„Nein, du weißt es eben NICHT, sonst hättest du jetzt ja nicht so lange überlegt, OB es aus ist. Du warst dir nicht sicher.“

Das hätte ich wohl besser nicht sagen sollen, ich alter Klugscheißer, denn jetzt war sie auch noch beleidigt, aber ich kann es ja auch nicht lassen. Sie drehte sich demonstrativ zur Seite und kümmerte sich dann intensivst um Max, der seit gestern Abend etwas Temperatur hatte. Ausgerechnet. Um mich kümmerte die liebe Steffi sich erst mal gar nicht mehr. So, das hatte ich davon.

„Weiter!“, sagte ich kurz ab zum Taxifahrer, und der gab achselzuckend wieder richtig Gas Richtung Flughafen. Ich meine auch, ein leichtes Kopfschütteln bemerkt zu haben. Unverschämter Kerl.

Und da fiel es mir ein.

Ich hatte gestern noch lange danach gesucht, aber dann hatte ich es aufgegeben und irgendwie auch vergessen. ICH habe etwas vergessen. Ich habe kein Ladegerät für mein Handy! Verdammt. Das ist schlimm! Zwei Wochen ohne Verbindung mit der richtigen Welt? Zwei Wochen, ohne mit der Redaktion zu telefonieren? Das geht ja gar nicht. Naja, die werden sicher im Hotel ein passendes Ladekabel für mich haben. Sicher. Ist ja schließlich ’n Traumhotel!

„Wott jo nehm?“, fragt mich jetzt die kleine, rote, rettende Boje auf dem Ko-Samui-Flughafen und sieht uns sehr freundlich lächelnd dabei an.

Wott jo nehm? Man muss sich erst mal an diese extravagante und selbstbewusste Art gewöhnen, so locker mit der englischen Sprache umzugehen. „Wott jo nehm?“ kann eigentlich nur heißen „What’s your name?“, kombiniere ich messerscharf, während wir uns zum wiederholten Male den Schweiß abwischen und die am Leib klebenden Kleider lösen, um wenigstens etwas von der zwar heißen, aber immerhin ventilatorisch gequirlten Luft an die nach Kühlung schreiende, schwitzende, schon Blasen werfende Haut kommen zu lassen.

„Our name is Knippschild“, sage ich freundlich, sehr deutlich und überaus bestimmt zu der netten Boje und denke, dass damit endlich Fahrt in die verfahrene Angelegenheit kommen müsste, wir erkannt und gescannt werden vom allmächtigen Urlaubsmoloch und wieder wie richtige Urlauber überhaupt existieren.

Doch damit liege ich leider falsch. Die kleine freundliche Boje findet unseren Namen leider nicht auf ihrer zerknitterten Liste, sieht uns aber trotzdem weiter freundlich an. Wahrscheinlich wird sie uns gleich mit demselben freundlichen Gesicht wieder zurück nach Deutschland schicken.

„Missa and Missi Lotze?“, fragt die kleine freundliche Frau stattdessen und blickt geduldig abwartend in die Runde. Lotze? Wenn ich die bis jetzt gelernten thailändischen Eigenarten bei der Aussprache auf diesen Namen anwende, dann ist ein deutsches ’R’ so was wie ein thailändisches ’L’, und das gesuchte Ehepaar hieße dann also … Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht hießen sie ja doch Lotze. Hoffentlich.

„Missa and Missi Lotze?“ wiederholt sie, und der ganz sympathisch wirkende baumlange Mann von Reihe vierzehn nähert sich jetzt etwas unsicher und zögerlich der winzigen Bojenfrau. Sie blickt nach ganz oben zu ihm auf und ruft ihm noch mal versuchsweise ein freundliches „Lotze?“ zu.

Ich lächele dem Großen aufmunternd, aber auch etwas neidisch zu. Scheinbar ist er schon dran.

Er murmelt irgendwas, reicht der kleinen thailändischen Töffte-Frau einen Zettel runter, sie liest ihn, vergleicht, und reicht ihn dann nach oben zurück. Und dann nickt der lange Mann. Er scheint mit seinem Namen einverstanden zu sein, winkt seiner eigenen netten, normalwüchsigen Frau, und die beiden ziehen überglücklich, aber erschöpft Richtung Bus. Die haben’s schon mal geschafft.

Steffi sieht mich vorwurfsvoll an, als ob es jetzt an mir läge, dass hier nichts passiert, weil ich die Lage nicht im Griff habe, weil ich nicht mal einer kleinen, freundlichen thailändischen Frau, die uns offensichtlich nichts Böses will, klarmachen kann, wer wir sind und dass wir ein verdammtes Recht auf diesen Urlaub haben, den wir uns so schwer verdient haben.

„Papa, jetzt mach mal!“, ruft da auch noch der schwerkranke Max von seinem Kofferthron herunter, auf dem er seit einiger Zeit sitzt und heftig schwitzt.

Bitte, liebe Trägerin des roten Sonnen-Abzeichens von Töffte-Reisen, schick uns nicht wieder weg. Vertreibe uns nicht aus dem Paradies, in dem wir ja gerade erst angekommen sind. Lass uns hier im gelobten Land unseren verdienten Urlaub machen, bitte. Nur zwei Wochen! Tu es für mich und meine Familie.

Inzwischen wanken mehr und mehr Mitreisende mit neuen fantastischen Namen ermattet, aber glücklich an uns vorbei, immer in die Richtung, in die die Boje sie schickt.

Alle haben jetzt einen Namen, alle haben bald ein Zuhause für die nächsten zwei Wochen. Sie können jetzt Urlaub machen, sie sind alle erfasst von der unbestechlichen Urlaubsmaschinerie. Sie sind endlich eingerastet ins Räderwerk des allmächtigen Pauschaltourismus. Die Glücklichen.

Ich probiere es also noch mal mit leicht veränderter, versuchsweise frei ans Thailändische angepasster Aussprache unseres Namens und sage: „Knippssild“.

Nein, auch „Knippssild“ kommt in der Liste unserer freundlichen Betreuerin nicht vor.

„K-anippessilll!“ Zweiter Versuch.

Nein. Freundliches Kopfschütteln.

Was kann man noch machen? „Kniiipp…“. Nein. Mir fällt nichts mehr ein, aber die freundliche Frau findet keine Gnade. Es gibt uns einfach nicht.

„Zeig ihr endlich unsere Zettel!“, ruft Steffi mir zu. Sie sitzt inzwischen zusammengesunken und ohne Hoffnung auf unserem gigantischen Kofferensemble und macht einen erbärmlichen Eindruck. Max ist eingeschlafen.

Die Zettel! Ja, warum eigentlich nicht. Manchmal haben Frauen ja ganz gute, bestechend einfache und praktische Ideen. Ich wühle also in der kleinen, schwarzen Tasche herum, die ich mir als Dokumentenmappe auserkoren habe, und die auch nur ich tragen darf, der ich darüber wache, dass auch alles zusammenbleibt. Ich finde endlich unsere Zettel, die Urlaubsberechtigungsscheine, unter Kennern auch „Wautschers“ genannt, und zeige sie der kleinen, roten Frau. Hier ist ja schließlich unser Name klar und deutlich in Druckschrift zu lesen. Hier kann man sehen, wer wir sind, was wir eigentlich hier wollen, wohin, wie lange und warum, und so.

Sie sieht die Wautschers interessiert an, blättert wichtig darin herum und löst dann das Rätsel um unseren Namen ganz einfach und in Sekundenschnelle mit einem freundlichen „NIPSI!“

Na, bitte, es geht doch.

Von mir aus!

Wir sind jetzt die Familie Nipsi aus Germany und freuen uns mächtig über unseren neuen Namen. Wir haben es geschafft. Wir sind durch! Endlich, endlich gilt jetzt auch für uns die befreiende Handbewegung zum Haltepunkt des Busses und ich trommele fröhlich, aber erschöpft meine kleine Familie Nipsi zusammen.

Die gesamte Mannschaft der anderen Getriebenen ist schon längst vollständig in einem silbernen Toyota-Kleinbus älteren Baujahrs versammelt, und vorwurfsvolle Blicke treffen die Familie Nipsi, die noch nicht mal ihren richtigen Namen kennt und damit den Beginn des ganzen Urlaubsvergnügens unfairerweise erheblich verzögert. Nur Herr Lotze-oder-so lächelt uns verständnisvoll an. Kann ja passieren. Er muss ein wenig seinen Kopf einziehen, denn der Bus ist nicht für mitteleuropäische Scheinriesen ausgelegt.

Ich lächele achselzuckend zurück und dann verteilen wir uns mit auf die restlichen engen Sitze. Ich komme neben einem schwitzenden, ganz dicken Menschen zu sitzen, der schon kaltlächelnd die Oberherrschaft über die Mittellehne gewonnen hat und auch nicht bereit ist, diese Macht zu teilen. Und ich bin zu schwach, um darum zu kämpfen.

Und so rattern wir in diesem stark klimatisierten, das heißt eigentlich kühlschrankmäßig tiefgefrosteten Toyota-Bus dahin. Alle zittern, Max niest, und wir alle hoffen, dass diese Tour nur sehr kurz sein wird.

Das wird sie aber nicht.

Die ersten beiden Aussteiger haben es richtig gut. Jedenfalls denken wir das zuerst, denn schon nach etwa fünf Minuten Fahrt wirft man das Pärchen aus Dresden an ihrem Hotel raus. „Lägünä Lötsch“, davon haben sie schon die ganze Zeit geschwärmt und sich kindlich darauf gefreut.

Es ist ein fünfstöckiger, furchterregender gelber Kasten direkt an der belebten Hauptstraße und in der Einflugschneise des Flughafens. Also sehr verkehrsgünstig gelegen, wie die bunten Urlaubsprospekte so was ja immer gerne anpreisen. Ich frage mich ängstlich, wer sich diesen verheißungsvollen Namen für den grauenhaften Siebziger-Jahre-Bunker ausdenken durfte – und wie er damit auch noch durchgekommen ist. Laguna Lodge. Sagenhaft.

Wir sind überglücklich, dass der Toyota uns noch nicht ausspuckt und wir weiterrattern dürfen und schnattern dafür auch gerne noch ein wenig länger. Als wir zurückblicken und die beiden armen Dresdner im erbarmungslosen Tropenregen inmitten ihrer zahlreichen, neuen, roten Hartschalenkoffer stehen sehen, tun sie uns unendlich leid.

Ich müsste dringend noch mal Ulli zurückrufen. Der verwählte Anruf von ihm hat mir doch zu denken gegeben. Irgendwas scheint da zu passieren im Sauerland. Riesensauerei, hat er gesagt. Aber ich komme jetzt nicht an das Handy dran, weil Steffi mich leicht säuerlich anlächelt. Aber immerhin lächelt sie schon wieder und das sollte man nicht aufs Spiel setzen.

Der Toyota pflügt sich seinen Weg durch Wasserlachen, die in etwa die Größe unserer heimischen Talsperren haben, und man denkt bei jeder neuen Stauanlage, dass der Wagen unweigerlich darin versinken müsse.

Ein paarmal gibt Max ein fassungsloses „Boah!“ ab, dann zittert er wieder. Der heutige Regenguss ist wohl keineswegs der erste oder gar einzige der Wintersaison auf dieser schönen Insel. Regen scheint hier wohl eher typisch zu sein. Wo kommt das ganze Wasser her? Was haben dieses Land und seine Menschen verbrochen, um so bestraft zu werden?

 

Der Fahrer vermindert zwar freundlicherweise ein wenig die Geschwindigkeit, wenn die Hütten der Ko-Samuianer zu dicht an der Straße und den Stauseen stehen, aber als dann nur noch Hütten dicht an der Straße stehen, da lässt es sich einfach nicht mehr vermeiden, dass auch schon mal die eine oder andere Hütte samt zunächst noch freundlich lächelnder Bewohner mit einer gewaltigen Fontäne schmutzig-brauner Regensuppe eingenässt wird. Auch einheimische Moped- und Rollerfahrer, die die riesigen Seen umsichtigerweise mit angezogenen Beinen vorsichtig durchschiffen, haben gegen unseren Fahrer keine Chance und werden erbarmungslos fontänisiert.

Land ohne Gnade.

Die Familie mit dem ewig plärrenden Blag ist jetzt endlich auch raus, als wir vor einer weiteren, überaus schäbigen Absteige anhalten, die uns allen das blanke Entsetzen ins Gesicht treibt. Den dicken schwitzenden Kerl neben mir hat es auch erwischt. Er muss raus! Alle beten, dass der Fahrer jetzt bloß nicht ihren neuen thailändischen Namen aufruft, und auch wir flehen darum, weiter im herrlich kühlen Toyota schockgefroren zu werden.

Nein. Der Name „Nipsi“ fällt nicht. Wir dürfen also weiter auf eine angemessene Unterkunft hoffen. Die Bayern und die Lotzes-oder-so sind auch noch da. Sollte das Schicksal Leichenhalle, Lotze und Nipsi füreinander bestimmt haben?

„Papa, wie lange noch?“, stöhnt Max und Steffis schöne Augen blicken mich aus leeren Höhlen an. Mein Gott.

Der Bus rattert weiter und weiter, herrliche, braune Spritzwasserfontänen nach beiden Seiten steigen lassend, und wir haben fast eine ganze Inselumrundung hinter uns, als der Toyota in eine enge Gasse abbiegt, die an der hinteren Seite mehrerer Restaurants, zwielichtiger Bars und dunkler Kaschemmen vorbeiführt. Der Fahrer bahnt sich hupend und fluchend einen Weg durch Menschen, Müll und Ruinen.

Es gießt noch immer in Strömen, ein paar unfreundliche Hunde bellen uns an, ich blicke in finstere Hinterhöfe, sehe Steffi leicht irritiert an, versuche zwar genügend Gleichgültigkeit zu verbreiten, aber ich weiß, dass auch sie sich gerade fragt, ob das Ganze vielleicht eine Falle ist, in die man uns hinterhältig gelockt hat – und ob Frau Gantenbrink vielleicht hinter all dem steckt.

Dann wird der Urwald wieder dichter, wir haben die Gasse verlassen und es wird dunkel. Richtig dunkel. Nicht nur wegen der dichten Urwaldbeblätterung, sondern auch, weil die Sonne, die wir den ganzen Tag noch nicht gesehen haben, jetzt auch schon hinter den dichten nassen Wolken langsam untergeht. Es ist inzwischen siebzehn Uhr hier in Thailand, da verabschiedet sich die Sonne eben. So ist das im Paradies!

Wir sind jetzt fast neunundzwanzig Stunden unterwegs, fast ganz ohne Schlaf …

„Laaast Christmas, I gave you my heart … „ knödelt es aus dem Toyota-Radio und ich weiß schlagartig auch wieder warum.

Heute ist Heiligabend!

Jaaaa, heute ist ja der Tag der Tage oder der Abend der Abende. Heiligabend. Ach du Scheiße!

Millionen, nein Milliarden, ach was, ALLE Menschen sitzen jetzt mit ihren Lieben unter den festlich geschmückten, glitzernden, nadeligen Grüngewächsen im Warmen, haben Tränen der Rührung in den Augen und sie trinken Glühwein oder wenigstens Tee mit Rum.

Ja, heute ist Heiligabend, und wir haben es alle vergessen – außer mir natürlich wieder mal. Wann und wie sollen wir denn jetzt die unausweichliche Bescherung machen? Heiligabend ohne Bescherung geht doch gar nicht. Na, vielleicht gleich nach unserer Ankunft im „Paradise Rock Resort“. Da müsste es doch gehen, da werden wir es uns dann noch so richtig feierlich gestalten. Ganz sicher. Max hat zum Glück noch gar nicht bemerkt, welchen besonderen Tag wir da gerade in einem eisgekühlten Toyota Kleinbus am Ende der Welt vertrödeln.

Und dann bleibt der Wagen einfach stehen. Nein, jetzt noch nicht. Nein. Bitte weiterfahren. Nur noch eine Stunde vielleicht, oder so. Nicht hier!

Doch es gibt kein Weiter, hier muss es sein. Wir sind da.

„Pelledei Lock Lissoh“ sagt der Fahrer, und das muss es also sein. Eindeutig.

„Paradise Rock Resort“, er hat es ja gesagt. Dann sagt er auch noch „Nipsi“, „Lotze“ und „Leichenhalle“, und damit ist unser aller Schicksal besiegelt. Wir haben es geschafft, wir sind am Ziel unserer Träume und am Ende unserer Kräfte. Dankbar, aber einer unsicheren Zukunft entgegensehend, steigen wir also aus.

Ich drücke dem Fahrer kraftlos einen Schein des neuen Geldes in die Hand, von dem ich nicht genau weiß, wie viel er eigentlich wert ist, und er bedankt sich überschwänglich. Naja, die Thais sind eben sehr höfliche und dankbare Menschen. Sie freuen sich auch über Kleinigkeiten, das habe ich schon gemerkt.

Wir sehen uns an. Glücklich? Vielleicht. Auf jeden Fall erschöpft und ergeben in unser ungewisses Schicksal. Unser Leiden soll also vorerst ein Ende haben.

Der Bayer sagt „Pfüeti!“ zu unserem Fahrer, der auch die tonnenschweren bayerischen Koffer aus dem Toyota gewuchtet hat, und gibt ihm nichts von dem neuen Geld. Er will es lieber für sich behalten. Frau Leichenhalle nickt uns noch mal gehässig zu und dann verschwinden beide eilig mit ihren zwei rollenden Riesenkoffern in Richtung einer schwachen Lampe, die wohl den Eingang unserer Endstation Sehnsucht beleuchtet. Jedenfalls ist es das einzige Licht, das uns in dieser tropischen Dunkelheit etwas Hoffnung gibt. Das Ehepaar Lotze-oder-so folgt den beiden, nachdem der große Herr Lotze dem Fahrer nach langer Prüfung seines neuen ausländischen Geldbestandes einen eher rötlichen Schein heruntergereicht hat. Soso.

„Ja, dann woll’n we ma!“, sagt Herr Lotze und nickt uns noch mal freundlich zu. „Schön’ Urlaub, woll?“

Woll? Wo kommt der denn her?

Tja, da stehen wir also nun inmitten unserer Kofferberge triefend nass im warmen Regen und heulen fast.

„Sah in dem Prospekt aber ganz anders aus“, sagt Steffi schlecht gelaunt, schwer enttäuscht und am Ende ihrer Kräfte.

„Naja, man sieht ja fast nichts“, versuche ich den ersten Eindruck etwas aufzubessern.

Man sieht aber auch wirklich kaum etwas. Ich kann neben den Mülltonnen, aus denen eine magere Katze gerade etwas schleimig Gelbliches zieht und damit verschwindet, den Eingang zu einer Küche entdecken, in der offensichtlich irgendeine Art von menschlichem Leben auszumachen ist. Man hört Stimmen und das Klappern von Geschirr. Ich verschweige Steffi aber, dass ich auch sehe, wie da gerade ein haariges Tier, größer als eine Maus, kleiner als eine Katze aus der offenen Küchentür in die schwarze Dschungelnacht hinausflüchtet. Vielleicht habe ich gerade eine neue Tierart entdeckt.

Hinter uns lässt sich die Einfahrt zu einer Art Autowerkstatt oder auch Autofriedhof erkennen. Ein leichter Öl- und Dieselgeruch mischt sich mit dem schweren Aroma des Urwalds. Ein Hund bellt, aber sonst sieht man keine Menschenseele. Es scheint das wahre Ende der Welt zu sein, und so weit sind wir ja schließlich auch gefahren. Nur dass es dann da wirklich auch so aussieht, wie man sich das Ende der Welt immer vorstellt, das hätten wir nicht gedacht.

Der Urwald um uns herum fabriziert eine Menge exotischer und unheimlicher, nie gehörter Geräusche, und ein tropischer Vogel sitzt irgendwo über uns und macht: „Ts, ts, ts“, als wolle er uns einen Vorwurf machen.

Ja, wem soll man jetzt einen Vorwurf machen? Uns selbst, weil wir unbedingt und sofort Urlaub haben wollten und alles genommen hätten? Oder vielleicht Frau Gantenbrink vom Reisebüro Töffte, weil sie sicher wusste, wie gruselig es hier am Ende der Welt aussieht, und uns trotzdem hingeschickt hat?

Es hilft ja nichts, unsere Sachen werden nass, und da sich kein Schatten aus dem Dunkel schält, um uns irgendwas abzunehmen, ergreife ich voller Verzweiflung die Initiative und den ersten Koffer und schleppe ihn Richtung Glühbirne der Hoffnung. Steffi nimmt mutlos den zweiten und auch Max kann zwei der Taschen tragen, obwohl er vor Müdigkeit fast umkippt.