Professorin werden

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Spannendes neues Forschungsthema

Vorbilder für die neue Forschungsrichtung fand ich in meinem Bekanntenkreis an der Hochschule zwar keine. Aber ich hatte mich bisher noch nie an Vorbildern orientiert, nicht im Gymnasium, nicht bei der Studienwahl, nicht im Studium und nicht bei der Diplomarbeit. Ich wollte schon immer meinen eigenen Weg gehen. Als Kleinkind, so erzählten mir meine Eltern, hätte ich nie mit den anderen spazieren wollen. Zwar immer in Sichtdistanz, aber ganz allein sei ich stets gegangen. Auch später liess ich mir selten helfen. Mit dem Studium und durch meine Unterrichtstätigkeit war das Vertrauen in mich selbst gewachsen. Ich würde es schaffen, auch in der Forschung meinen eigenen Weg zu finden. Mit dieser Überzeugung begann ich meine Doktorarbeit.

Wie steinig dieser Weg werden sollte, konnte ich nicht erahnen. Da war zuerst die Frage, wer eine solche Forschung betreuen könnte. Eine fachliche Betreuung, so stellte sich nach etlichen Gesprächen heraus, wollte niemand wirklich übernehmen. Zu neu und zu wenig erprobt war das Forschungsgebiet. Aber formal fanden sich zwei Professoren: einer vertrat die Didaktik, der andere die Forstwissenschaft und die Ökologie. Sie erklärten sich bereit, die Arbeit als Dissertation an der ETH zu vertreten. Fachliche Unterstützung müsste ich mir selbst an geeigneten Orten holen, so lautete die mündliche Vereinbarung. Finanzielle Mittel standen auch keine zur Verfügung. Ich musste die Arbeit an der Dissertation also mit Unterrichten querfinanzieren. Lediglich ein Semester lang erhielt ich ein symbolisches Gehalt.

Dennoch liess ich mich nicht von meiner Idee abbringen. Schritt für Schritt entwickelte ich das Design für die Forschungsarbeit, in intensiven Gesprächen mit interessierten Personen in meinem Umfeld. Mein Ziel war es, das Verständnis für ökologische Zusammenhänge bei Jugendlichen zu untersuchen. Ich wollte zeigen, dass es Möglichkeiten gab, ein solches Verständnis zu fördern. Mit Peter diskutierte ich stundenlang über mögliche Forschungsdesigns. Er war der wichtigste Partner in diesem Findungsprozess. Er dachte mit, äusserte unumwunden Kritik, wenn er eine Idee für nicht umsetzbar hielt. Über all die Jahre trug er die Forschungsarbeit mit grossem Engagement mit. Die forschungsmethodischen Grundlagen erarbeitete ich mir aus der Literatur, vor allem durch das Studium von ausländischen Forschungsarbeiten. Es wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass in meinem Studium keine einzige Lehrveranstaltung zu Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte angeboten worden war. Wie kann Wissen erzeugt werden, welche Zugangsweisen nutzen die einzelnen Disziplinen, welche philosophischen Fragen liegen den methodologischen Zugangsweisen zugrunde, unter welchen Bedingungen gilt wissenschaftliches Wissen als anerkannt? Welche Methoden sind für die Fragestellung adäquat, wie kommt man zu Daten und wie lassen sie sich auswerten und interpretieren? Alle diese Fragen waren im Studium nie grundlegend gestellt worden, sondern lediglich implizit in den naturwissenschaftlich-experimentellen Vorgehensweisen enthalten gewesen. Es waren aber gerade diese neuen Herausforderungen, die mich am meisten faszinierten. Wie simpel erschien dazu im Vergleich eine einfache experimentelle Forschungsanordnung wie in meiner Diplomarbeit, bei der es nur darum ging, mehr oder weniger zu replizieren, was andere bereits untersucht hatten. Nie war von irgendjemand damals die Frage nach dem wissenschaftlichen Tun und dessen Fundierung gestellt worden. Wissenschaftliche Tätigkeit als experimenteller Aktionismus, so kam es mir im Rückblick vor.

Wie viel spannender war es doch, den Forschungsprozess von Grund auf durchzudenken: Welches war genau mein Forschungsfeld? Waren es die Lernenden, waren es unterrichtliche Planungskonzepte oder war es das reale Handeln im Klassenzimmer? Waren es die Lehrpersonen oder einzelne Schulen als Ganzes? Und welche Schulen waren in das Forschungsfeld einzubeziehen? Sollten sie sich unterscheiden, müssten sie sich unterscheiden? Sollte ein quasi-experimentelles Design entwickelt werden, oder sollte die Schulrealität, wie sie sich aktuell und situativ präsentierte, teilnehmend beobachtend untersucht werden? Oder wären ausschliesslich direkte Gespräche mit einzelnen Akteuren zielführend? Ich setzte viel Zeit und viele Gedanken dafür ein, um aus meiner Forschungsidee ein begründetes Konzept zu entwickeln. Ausgangspunkt meiner Forschung war, dass es bisher keinen Ökologieunterricht gab, weder auf der Sekundarstufe I noch im Gymnasium. Ich konnte deshalb annehmen, dass die Jugendlichen keine ökologischen Kenntnisse mitbrachten und eine Untersuchung über vorhandene Ökologiekenntnisse keinen Sinn machte. Ich entschied mich deshalb für eine Interventionsstudie. Die einzige, die ich damals im deutschsprachigen Raum kannte und die mit dem Biologieunterricht zu tun hatte, die sogenannte Düker-Tausch-Studie («Über die Wirkung der Veranschaulichung von Unterrichtsstoffen auf das Behalten», 1956), schien mir zu einfach in der Fragestellung. Für meine Untersuchung konzipierte ich eine komplexere Anlage. Ich entwickelte ein ökologisches Unterrichtskonzept zum Nahrungsnetz im Wald, unterstützt durch ein ausgeklügeltes Mehrfachtransparent, das ich in den Klassenzimmern am Overheadprojektor präsentieren und mit Erklärungen ergänzen konnte. Im anschliessenden Test sollten die Schülerinnen und Schüler nicht einfach ihr Wissen wiedergeben müssen, sondern zeigen, wie sie nach der Einführung in ökologische Sichtweisen einen weiteren Schritt zur Analyse und Synthese vollziehen konnten. Die Interventionsstudie führte ich in zahlreichen Klassenzimmern in der Stadt Zürich und im ländlichen Entlebuch durch. Ich codierte die Antworten nach den kognitiven Denkstufen, verglich sie mit dem Vortest und analysierte sie bezüglich verschiedener Variablen wie Alter, Schultyp, Stadt und Land. Die Erfassung der Daten und die Auswertung waren höchst aufwendig – ohne Computer. Hartnäckig blieb ich dran, auch wenn ich manchmal vor schwer überwindbaren Hürden stand. Mit den Ergebnissen konnte ich schliesslich zeigen, dass Jugendliche im Alter von 13 bis 16 Jahren ökologische Zusammenhänge verstehen konnten, vorausgesetzt, sie wurden didaktisch gut an die Fragestellungen herangeführt.

Zwei wichtige Ereignisse fielen in die letzte Phase meiner Dissertation: Im Herbst 1975 ermöglichte mir mein Doktorvater, am Seminar «Ökologie in allgemeinbildenden Schulen» teilzunehmen, das am Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) an der Universität Kiel ausgeschrieben war. Die Chance nahm ich gerne wahr, obwohl ich keine Vorstellung davon hatte, was mich erwarten würde. Es war meine erste Reise in den Norden von Deutschland. Alles kam mir sehr fremd vor: die Fachsprache und die streitbare Diskussionskultur am Institut, die geschliffene deutsche Sprache, das norddeutsche, deftige Essen, die flache, offene Landschaft, die Ostsee, der ständige, kühle Wind. Die Teilnehmer am Seminar waren in erster Linie Biologiedidaktiker aus ganz Westdeutschland, die an Lehrerbildungsinstituten unterrichteten, sowie einige Erziehungswissenschaftler aus dem IPN. Nach einer Anlaufzeit, in der ich wegen der mir fremden, damals in Deutschland verbreiteten, langatmigen erziehungswissenschaftlichen Fachsprache kaum etwas verstand, gewöhnte ich mich daran, auf Kernaussagen in Referaten und Diskussionen zu achten. Wenn etwas wichtig war, wurde der Sachverhalt in den folgenden Beiträgen wiederholt aufgegriffen und betont. Mit der Zeit erhielt ich ein gutes Bild davon, was die zuständige Arbeitsgruppe am Institut zum Thema «Ökologie im Unterricht» erarbeitet hatte. Die vorgelegten Papiere erschienen mir reichlich abstrakt. So fühlte ich mich herausgefordert, mich mit konkreten Beiträgen in die Diskussionen einzubringen, mit Aussagen über das Bildungswesen in der Schweiz, meine Erfahrungen mit Ökologie beim Unterrichten und meine Arbeiten an der Dissertation. Dies erweckte Aufmerksamkeit, nicht nur wegen der Inhalte, sondern auch wegen der Sprache. Die Schweiz war den Norddeutschen damals so fremd wie mir umgekehrt Norddeutschland. Man glaubte, mein Hochdeutsch sei die schweizerdeutsche Mundart und wunderte sich über die gute Verständlichkeit. Meine Beiträge wurden gehört und mit Interesse aufgenommen. Zum Abschluss des Seminars wurde ich angefragt, ob ich aus der Aussensicht einen Bericht über das Seminar schreiben und in der Zeitschrift Praxis der Naturwissenschaften – Biologie in der Schule publizieren würde. Ich sagte zu. Das war der Anfang einer Zusammenarbeit, die sich über viele Jahre erstrecken sollte und mir für meine Arbeiten zu Ökologie im Unterricht eine viel grössere Plattform bot als die noch kaum vorhandene naturwissenschaftsdidaktische Forschung in der Schweiz.

Das zweite wichtige Ereignis gegen Ende meiner Dissertation war die Begegnung mit Ruth Cohn. Auf der Suche nach Literatur, um mich in gruppenpädagogische Themen zu vertiefen, fiel mir ein Sonderheft der Zeitschrift Schweizer Schule in die Hand. Es trug den Titel «Themenzentrierte Interaktion», die Autorin war Ruth Cohn. Ich wusste damals nichts über Ruth Cohn und begann aus Interesse zu lesen. Die Lektüre packte mich dermassen, dass sie über Wochen auf meinen Zugfahrten von Uerikon-Stäfa nach Zürich und am Abend zurück meine ständige Begleiterin war. Ruth Cohn hatte in jenem Sonderheft Texte vorveröffentlicht, die wenig später als Buch «Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion» (1975) im Klett-Cotta Verlag erschienen. Die Texte berichteten über Gespräche in Weiterbildungen mit Therapeuten und Lehrpersonen, auf eine Weise, die mich als Leserin mitriss, als wäre ich selbst dabei gewesen. Ein Jahr später, 1976, war ein Kurs mit Ruth Cohn am Pestalozzianum, dem Institut der Zürcher Lehrerfortbildung, ausgeschrieben. Es handelte sich um einen andragogischen Weiterbildungskurs, einen Kurs für Lehrerbildner.

 

Ich bewarb mich, obwohl ich keine Tätigkeit als Lehrerbildnerin vorweisen konnte, und ich wurde in den zweiwöchigen Kurs in einem Hotel in Braunwald aufgenommen. 24 Personen nahmen am Kurs teil, die meisten von ihnen erfahrene Lehrerbildner. Frauen waren wir nur ganz wenige. Im Kurs erlebte ich unmittelbar, was ich zuvor in Ruth Cohns Texten gelesen hatte. Es war faszinierend, wie sie die Balance zwischen individuellen Bedürfnissen, Teilgruppen und der grossen Gruppe mit wohl durchdachten Themenstellungen halten konnte. Im Laufe des Kurses fragte sie mich, ob ich ein Thema aus meiner Dissertation mit ihr zusammen vorbereiten und mit der ganzen Gruppe bearbeiten möchte. Ich wagte den Versuch. Ruth Cohn machte es mir nicht leicht, das Thema Ökologie für die Gruppe vorzubereiten. Zunächst fand sie das Thema zu abstrakt, ohne Zusammenhang mit ihrem eigenen Leben. Bis ich auf die Idee kam, das Wachsen, Gedeihen und Absterben der Bäume im Wald und die fortlaufende Verjüngung zum Thema zu machen. Da hakte sie ein, das interessierte sie, die damals schon über siebzig Jahre alt war und sich Gedanken über Alter und Tod machte. Nach dem eingehenden Vorbereitungsgespräch lag dann die genaue Vorbereitung der Stunde mit meinen 23 Kolleginnen und Kollegen bei mir. Ich erinnere mich noch, dass ich mit einem fiktiven Waldspaziergang begann und die Aufmerksamkeit auf Totholz lenkte, verbunden mit der Frage, wie es dazu kam und was mit ihm geschehen würde. Und schon waren wir mitten in der Ökologie. Es wurde eine denkwürdige Stunde, die Raum für viele Fragen bot und die Anwesenden begeisterte. Am Schluss waren sie erstaunt, wie viel sie über ökologische Zusammenhänge gelernt hatten, und meinten, dass sie wohl in Zukunft aufmerksamer als bisher durch den Wald gehen würden.

Die direkte Zusammenarbeit mit der bekannten Psychotherapeutin und Gruppenpädagogin bei der Vorbereitung des Themas Ökologie prägte mich nachhaltig. Eindrücklich erfuhr ich, wie Lernen den Menschen nicht wirklich berühren kann, wenn seine persönlichen Ziele und Emotionen nicht einbezogen werden. Veränderungen, die mit dem Lernen angestrebt werden, kommen nicht einfach deshalb zustande, weil dies die Lehrpersonen so wollen. Sie geschehen nur dann, wenn Lernanlässe im Individuum Resonanz erzeugen und eine kleinere oder grössere Erschütterung auslösen. So war es mir im Seminar mit Ruth Cohn ergangen. Und so wollte ich Lernen für andere möglich machen. Es gab mehrere Weiterbildungsangebote in der Schweiz, welche die Themenzentrierte Interaktion von Ruth Cohn weiter pflegten. Doch sie interessierten mich nicht. Neue Lernformen zu erproben, die das herkömmliche Dozieren infrage stellten, entsprach dem Zeitgeist der Jahre nach 1968. Mir waren aber der beinahe missionarische Eifer und die Verehrung von Ruth Cohn suspekt, die ich in nachfolgenden Gruppierungen erkannte. Lieber entwickelte ich eigene Konzepte, um naturwissenschaftliche Themen mit dem Erleben der Lernenden zu verbinden. Mit der gleichen kritischen Haltung distanzierte ich mich in den folgenden Jahren auch von vereinfachenden Weltverbesserungsideen und fundamentalistisch geprägten Lebensstilen, die ich gelegentlich in der Natur- und Umweltschutzerziehung vorfand.

Im November 1976, kurz nach dem Kurs mit Ruth Cohn, schloss ich die Dissertation mit einem Prüfungskolloquium ab. Nach arbeitsintensiven Jahren konnte ich schliesslich meine Promotionsurkunde entgegennehmen. Stolz nahmen meine Eltern an der Promotionsfeier teil, mit besonderem Stolz mein Vater, obwohl er anfänglich als praktisch orientierter Biologe und Biologielehrer meinem Forschungsvorhaben kritisch gegenübergestanden war. Noch einmal war dann mein Durchhaltewillen gefordert, bis die Dissertation für die Anwendung in der Praxis umgearbeitet und 1978 im Verlag Sauerländer/Diesterweg als Buch unter dem Titel «Ökologie im Unterricht» publiziert war.

Nun war der Weg geebnet, um massgebliche weitere Schritte zur Erforschung des naturwissenschaftlichen Unterrichts in der Schweiz zu tun. Jedenfalls so stellte ich mir meine nahe Zukunft vor. An eine akademische Karriere dachte ich zwar nicht, aber ich hatte mit meiner Dissertation neues Wissen gewonnen, und anlässlich des Seminars in Kiel hatte ich Kontakte zu zahlreichen Fachleuten knüpfen können, die in der Forschung zur Biologiedidaktik arbeiteten. Den Ökologieunterricht mit Unterrichtspraxis und Forschung voranzubringen, war mein prioritäres Ziel. Ich war bereit.

Durststrecke

Da sass ich nun, eine 26-jährige, erwartungsvolle Wissenschaftlerin voller Tatendrang. Und niemand schien auf mich gewartet zu haben. Niemand interessierte sich für meine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Niemand hatte Bedarf an wissenschaftlicher Aufklärung von aktuellen Unterrichtsfragen. Eine Bewerbung in einem Lehrerseminar da, eine Bewerbung in der Lehrerweiterbildung dort; keine Chance, man suchte nach Männern mit langjähriger Praxiserfahrung, die man dank den Netzwerken in Bildungs- und Militärkreisen ohnehin schon kannte. Männer mit langjähriger Erfahrung – da wusste man, was man hatte. Eine junge Frau, Wissenschaftlerin, das klang nach Theorie. Theorie betrachtete man als abgehoben von der Praxis, bewirtschaftet von Leuten, die keine Ahnung davon hatten, wie die Dinge in der Realität wirklich waren. In der Schule galt die Praxis, wer höhere Positionen einnehmen wollte, musste sich seine Sporen ganz traditionell in vielen Jahren Berufsarbeit verdient haben. Solche Leute hatten sich bewährt, sie wussten, was berufliche Belastung bedeutete und welche Schwierigkeiten das Unterrichten mit sich brachte. Aber Wissenschaft für die Schule? Das hatte die Schule aus der Sicht der Praktiker nicht nötig.

Nicht nur ich spürte die Ablehnung, die man der Forschung für die Schule entgegenbrachte. Auch politisch deuteten die Zeichen auf Feindseligkeit gegenüber der Akademie. Seit 1971 war im Kanton Aargau das Projekt einer Hochschule für Bildungswissenschaften vorbereitet worden. Die Vorlage zum Hochschulgesetz wurde 1976 vom Parlament zurückgewiesen und 1978 vom Regierungsrat begraben. Der Bildungsforschung stand man noch misstrauischer gegenüber als der etablierten Forschung. Akademisch gebildete Lehrer – noch sprach man nicht explizit von den Lehrerinnen – und Forschung über Unterricht und Bildung waren Schreckgespenster in der Bevölkerung und in der Politik. Typisch links, abgehoben und praxisfern, lautete das Verdikt. Der Boden war nicht vorbereitet für unkonventionelle neue Wege.

Mit aller Härte bekam ich das abweisende, gar feindselige Umfeld zu spüren. Dass ich als Frau einen eigenen Weg eingeschlagen hatte, kam mir nicht zugute. Im Gegenteil, mein unkonventioneller Werdegang machte andere misstrauisch. Dennoch dachte ich nicht daran, meine Zielrichtung zu ändern und mich den Kollegen anzuschliessen. Meine Dissertation hatte ich als Buch mit dem Anspruch veröffentlicht, einen wichtigen Beitrag für die Praxis zu leisten. Erst einige Jahre später würde ich mit Freude feststellen können, dass ich dieses Ziel erreicht hatte. Mein Buch «Ökologie im Unterricht» wurde gelesen, auch von Praktikern. Und sie konnten etwas damit anfangen. Sie übertrugen Ideen in ihren Unterricht und nutzten das Konzept für die Lehrplanentwicklung.

Davon bemerkte ich aber nach Abschluss der Dissertation noch nichts. Überall schienen die Türen verschlossen zu sein. Fremdes war nicht erwünscht. Von Tag zu Tag wurde das Nachdenken über die Zukunft unerträglicher. Ich drehte mich im Kreis. Was wäre, wenn, dann … Doch nichts tat sich. Warten brachte nichts, Sinnieren auch nicht. Ich spürte, wie die Energie in mir nachliess und wie ich mich passiv im Strom der Traurigkeit treiben liess. Brahms’ Doppelkonzert mit den melancholischen Passagen im zweiten Satz hörte ich mir tagelang an. Das passte zu meiner Stimmung.

So viel hatte ich investiert, seit ich das Studium begonnen hatte. Die vielen Praktika, Übungen und Kolloquien im Studium, in denen ich mit grossem Einsatz und Interesse Fachkenntnisse erworben hatte. Das zielorientierte, disziplinierte Lernen, mit dem ich mich auf Bestleistungen in den Prüfungen vorbereitet hatte. Die studienbegleitende Unterrichtstätigkeit, die mir wegen der Präsenzanforderungen im Studium organisatorische Kunststücke abverlangt hatte. Die Überwindung der Krise im Diplomsemester mit einem Kraftakt, und schliesslich die konstante, intensive Forschungsarbeit für die Dissertation. All das sollte umsonst gewesen sein? Über Wochen versank ich in einer Mischung aus Selbstmitleid, Wut, Angst und Trauer. Wut und Trauer überwogen, vor allem die Trauer, trotz bester Qualifikationen ignoriert zu werden. Meine berufliche Ausbildung machte keinen Sinn, wenn niemand mich brauchte. Ich hätte eine volle Stelle als Lehrerin an einer Schule übernehmen können. Aber dann hätte ich die Forschung aufgeben müssen. Ich wollte jedoch meine bisherige Forschung weiter vertiefen können. War ich wirklich bereits am Ende meiner Träume angekommen? Dennoch, aufgeben wollte ich nicht.

Eines Tages kam ich bei meinen Recherchen auf die Idee, mich für ein Nachwuchsstipendium beim Schweizerischen Nationalfonds zu bewerben. Ob die Chancen intakt waren, fragte ich mich erst gar nicht. Wichtig war, dass ich wieder ein Ziel hatte und etwas dafür tun konnte. Ich beschrieb meine Forschungsidee und nahm Kontakt mit dem IPN in Kiel auf. Das IPN war damals das einzige Institut im deutschsprachigen Raum, das systematisch naturwissenschaftsdidaktische Forschung betrieb. Ich wusste, dass ich dort die Möglichkeit haben würde, meine Forschungsarbeit mit Biologiedidaktikern zu diskutieren.

Die Gründung des IPN ging auf den «Sputnik-Schock» zurück. Als Russland 1957 den ersten Erdsatelliten erfolgreich in den Weltraum schickte, war die westliche Welt erschüttert. Offenbar war die Sowjetunion technisch weiter fortgeschritten, als man bis dahin angenommen hatte. Die Ursachen für den Rückstand im Westen ortete man vor allem im Bildungswesen; man begann also, die Notwendigkeit, naturwissenschaftlichen Unterricht zu stärken, zu betonen. Dazu sollten Förderprogramme und neue Curricula entwickelt werden. In Deutschland wurde deshalb 1966 das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften als zentrales, vom Bund und den Ländern finanziertes Forschungsinstitut gegründet. Damit standen dem IPN von Anfang an ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung, um ein Institut mit grosser Ausstrahlung im ganzen deutschsprachigen Raum zu werden. Es wurde ein Zentrum für forschungsgestützte Naturwissenschaftsdidaktik. Später entstanden in der ganzen Bundesrepublik an den Universitäten Lehrstühle in Fachdidaktik Biologie, Chemie, Physik und Mathematik. Viele dieser Lehrstuhlinhaber hatten am IPN doktoriert oder im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit Kontakte mit den dortigen Forschern gepflegt. Dank der grosszügigen finanziellen Möglichkeiten konnte das IPN auch wissenschaftliche Seminare ausschreiben und bekannte Wissenschaftler für Referate einladen.

Nachdem mir der geschäftsführende Direktor auf meine Anfrage hin einen Arbeitsplatz am IPN zugesichert hatte, reichte ich meinen Forschungsantrag an den Nationalfonds über die Forschungskommission der ETH ein. Das Warten begann. Ob die Forschungskommission sich schon je mit einem Thema, wie ich es zu bearbeiten plante, befasst hatte, bezweifelte ich. Ich hoffte dennoch, dass die Kommission Verständnis für das Anliegen hatte und mich als junge Wissenschaftlerin fördern würde. Und tatsächlich, die erlösende Zusage kam. Man hatte in der Forschungskommission auf meine vielversprechende Dissertation gesetzt, war aber auch auf meine Unterrichtsweise aufmerksam geworden. Offenbar gab es Leute in der Forschungskommission, die sich für meine Forschungsideen stark gemacht hatten und mein Vorhaben unterstützten. Man wollte mir die Gelegenheit geben, ein Jahr lang im Ausland einem selbst gewählten Forschungsthema nachzugehen und die wissenschaftliche Debatte unter Leuten mit ähnlichen Interessen zu pflegen.

Nun galt es, den gemeinsamen Aufenthalt im Ausland als Ehepaar zu organisieren. Peter arbeitete bei der Schweizerischen Vereinigung zur Förderung der Beratung in der Landwirtschaft. Die Institution, die kurz «Landwirtschaftliche Beratungszentrale» hiess, bildete landwirtschaftliche Fachleute als Beratungskräfte für Bauernfamilien aus. Vielleicht könnte mit dem Direktor der Beratungszentrale ein teilweise bezahlter Urlaub für Peter ausgehandelt werden, mit Anrechnung von Ferien und Arbeiten im Ausland, die auch der Beratungszentrale zu Hause dienlich wären? Geld war für uns beide in diesem Moment sekundär. Haushälterisch mit einem reduzierten Lohn umgehen zu müssen, schreckte uns nicht ab. Viel wichtiger war uns, den Auslandaufenthalt für beide gewinnbringend gestalten zu können. Peter unterbreitete schliesslich dem Direktor einen Vorschlag, der einen Teilurlaub während eines halben Jahres beinhaltete. In der bezahlten Hälfte des Urlaubs würde er eine Arbeit über die sozioökonomische Beratung in Schleswig-Holstein und weiteren Bundesländern verfassen, von der auch die Beratungszentrale in der Schweiz profitieren könnte. Über ein ganzes Jahr verteilt würden wir jeweils einen Monat in der Schweiz und einen Monat in Kiel verbringen. Der Vorschlag wurde vom Direktor gut aufgenommen. Dieser war bereit, uns die Chance eines Aufenthalts im Ausland zu gewähren. Dem Vorhaben konnte also nichts mehr im Wege stehen.

 

Zwischen 1977 und 1978 mieteten wir in Kiel eine Wohnung, von der aus ich das IPN zu Fuss und mit dem Velo gut erreichen konnte. Es war eine kleine 2-Zimmer-Wohnung im oberen Stockwerk eines Einfamilienhauses. Unten wohnten die Eigentümer, ein älteres Ehepaar. Er war CDU-Politiker im Kieler Stadtparlament und kannte sehr viele Leute, zumal er sehr gesellig war und öfters auch einmal Partystimmung an der Bar in seinem Keller aufkommen liess. Er war ein grosser Liebhaber klassischer Musik, und so gehörten zu den Anlässen immer auch Kostproben aus seiner riesigen Plattensammlung, die er über vier Lautsprecher abspielen konnte. Durch unsere Vermieter lernten wir rasch viele Leute aus Kiel kennen. Sie waren mächtig stolz, dass sie uns überall als «unsere Schweizer» vorstellen konnten. Rasch fühlten wir uns in Kiel sehr wohl.

Als Forschungsthema hatte ich «Schülerzentrierter Biologieunterricht» gewählt, weil ich der Frage nachgehen wollte, wie Schülerinnen und Schüler als Lernende aktiver in die Unterrichtsplanung und -durchführung einbezogen werden könnten. Ich wollte durch Interaktions- und Inhaltsanalysen zeigen, inwiefern sich der Unterricht mit einem partizipativen Ansatz von herkömmlichen Unterrichtsformen unterscheidet. Das Interesse für dieses Thema war in meinem Ökologieunterricht entstanden, für den ich neue Unterrichtsformen entwickelt hatte.

Für das gewählte Forschungsthema erhielt ich am IPN zwar nicht direkte Unterstützung, da dort andere Themen bearbeitet wurden. Doch ich hatte zum ersten Mal Gelegenheit, Teil einer wissenschaftlich tätigen Gruppe zu sein und an den zahlreichen und mit Lust geführten wissenschaftlichen Debatten teilzunehmen. Die meisten Mitarbeiter in der Abteilung Biologiedidaktik waren ursprünglich Biologielehrer gewesen und hatten sich für eine wissenschaftliche Tätigkeit am IPN beworben, als das Institut im Aufbau begriffen war. So gehörten alle zur ersten Forschergeneration am IPN, die Atmosphäre war entsprechend dynamisch und zukunftsgerichtet. Einige dieser Wissenschaftler zeichneten sich später als Autoren von Werken aus, die grosse Resonanz fanden, wie zum Beispiel die Studien zur Umwelterziehung in Deutschland oder das Handbuch zur Biologiedidaktik, das auch heute noch ein Standardwerk ist.

Wie anders war doch die Stimmung am IPN, verglichen mit jenem Forschungslabor, in dem ich meine Diplomarbeit durchgeführt hatte. Hier am IPN traf ich auf die Forschungsatmosphäre, die ich immer gesucht hatte. Man diskutierte miteinander, zum Teil auch heftig, aber immer mit Respekt und Wohlwollen. Und oft schien es gar an ein Spiel zu grenzen. Spielerisch erprobte man die Debattierkunst, ohne die sich eine wissenschaftliche Tätigkeit nicht wirklich entfalten konnte. Neue Einblicke erhielt ich auch in der ausserordentlich gut bestückten Bibliothek. Als eine eigentliche Fundgrube erschloss sie sich mir, als ich Stunden um Stunden dort verbrachte und mich in aktuelle Forschungsstudien vertiefte. An Workshops und Tagungen begegnete ich vielen Forscherpersönlichkeiten, deren Namen mir aus Büchern und Zeitschriften bekannt waren, unter anderen Wolfgang Klafki, Wolfgang Schulz, Hilbert Meyer, Horst Rumpf, Reiner Winkel, Herbert Gudjons. Autoren von Fachliteratur persönlich zu kennen, erwies sich fortan als hilfreich beim Strukturieren und Einordnen der uferlos erscheinenden Fachliteratur. Aus der gesichtslosen Literatur wurden lebendige Erfahrungen. Mit Peter zusammen nahm ich an Ausflügen und Anlässen teil, und wir beide genossen die neue Unabhängigkeit und Sorglosigkeit, zu zweit und in Freundeskreisen.

Zu Beginn meines Forschungsjahres im Herbst 1977 organisierte die Abteilung Biologiedidaktik am IPN die erste grosse Tagung der neu gegründeten Sektion Fachdidaktik des Verbands Deutscher Biologen. Ich war schon im Frühling angefragt worden, ob ich an der Tagung die Schweiz vertreten und über die Biologielehrerausbildung in der Schweiz referieren könnte. Als Vorbereitung für mein Referat besuchte ich Institutionen in Zürich, Basel, Bern und Freiburg, die Biologielehrerinnen und -lehrer für das Gymnasium ausbildeten. Ich führte Gespräche mit den zuständigen Lehrerbildnern. Sie waren hauptberuflich in einem Gymnasium als Biologielehrer tätig, wie das in der Schweiz üblich war. An die angehenden Lehrpersonen gaben sie ihr Wissen im Sinne einer «Meisterlehre» weiter. Ich anerkannte diese Art der Ausbildung sehr wohl, vertrat aber aufgrund meiner Forschungserfahrungen die Auffassung, dass sich die jungen Lehrpersonen in ihrer Ausbildung und später auch mit biologiedidaktischer und erziehungswissenschaftlicher Forschung befassen sollten, um für den Unterricht stets auf dem neusten Stand zu sein. Diese zwei Standbeine, die Unterrichtspraxis und die didaktische Wissenschaft, wollte ich in meinem Referat in ihrer gegenseitigen befruchtenden Wirkung aufzeigen. Ich war mir aber wohl bewusst, dass meine Position nicht der aktuellen schweizerischen Lehrerbildung entsprach. Deshalb fragte ich einen meiner Gesprächspartner, einen Biologielehrer aus Basel, der zwanzig Jahre älter war als ich, ob er am Kongress in Kiel seine Sicht auf die aktuelle Lehrerbildung in der Schweiz präsentieren würde. Er sagte zu, und wir begannen mit der gemeinsamen Vorbereitung. Es war ein spannender Austausch, wir vertraten unterschiedliche Vorstellungen zur zukünftigen Lehrerbildung, kamen aber zum Schluss, dass sie sich gut ergänzten. Doch wie sollten wir das in ein Referat umsetzen?

Wir entschieden uns schliesslich, statt eines Referats einen Dialog zu führen, also Themen vorzubereiten und dann im Wechsel unsere Positionen und Argumente vorzutragen. Da wir bereits ausführlich diskutiert hatten, bereiteten wir uns auf diesen Dialog nicht gemeinsam vor, sondern überlegten je individuell, was wir zu den ausgewählten Themen vortragen wollten. Am Eröffnungstag des Kongresses in Kiel war auch unser Referat angesetzt. Am IPN hatte man sich eine technische Installation bauen lassen, damit die Rednerinnen und Redner sich an die vorgegebene Redezeit hielten. Es war ein nachgebautes Lichtsignal. Zu Beginn des Vortrags war die unterste Lampe auf Grün geschaltet, nach 15 Minuten auf Gelb und nach 20 Minuten auf Rot. Mein Kollege und ich wussten, dass wir zu zweit mit unserem geplanten Dialog die Zeit nicht einhalten konnten. Müssten wir spontan kürzen? Ich beruhigte meinen Kollegen und flüsterte ihm zu, wir würden schon irgendwie eine Lösung finden. So begannen wir unseren Dialog bei Grün. Unsere Rede und Gegenrede entwickelten sich wunderbar, die Anwesenden hörten gebannt zu, und wir kamen richtig in Fahrt. Alle glaubten, wir hätten unseren Auftritt minutiös wie ein Theaterstück geübt. Als die Lampe auf Gelb schaltete, befanden wir uns auf der Bühne mitten in einem spannenden Austausch. Die Lampe schaltete auf Rot, und wir waren noch lange nicht am Ende unseres Vortrags. Mein Kollege aber reagierte blitzschnell und sagte zum Tagungsleiter, er habe nun gewiss auf Rot geschaltet, damit die Farbe der Lampe zu meinem Kleid passe. Ich trug ein knallrotes Kleid. Ein grosses Gelächter im Saal quittierte die Bemerkung. Es war wie eine Befreiung, denn eigentlich stiess die Ampelidee bei allen Rednern auf wenig Verständnis. Wir hatten das Publikum auf unserer Seite, führten unseren Dialog weiter und ernteten am Schluss tosenden Applaus. Noch zwanzig Jahre später, als ich Biologiedidaktikern, die damals dabei gewesen waren, begegnete, erinnerten sich diese an das denkwürdige Rollenspiel, wie sie es nannten, – und an mein rotes Kleid.

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