Wind über der Prärie

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Hardy Retzner räusperte sich. „Das würde ich wohl Ihrem Beruf zuschreiben.“

„Wie darf ich das verstehen?“

„Nun, ich hätte es ihnen nur gegen einen schriftlichen Vertrag geliehen!“

Friedrich stieß ein verächtliches „Pah!“ aus. „Das ist typisch Mediziner! Kein Vertrauen in die Menschheit und die Ehrlichkeit der einfachen Leute!“

Doktor Retzner wollte protestieren, doch er kam nicht dazu, weil Friedrich ihn ruckartig am Oberarm fasste. „Sagen Sie mir die Wahrheit, Hardy, die ganze Wahrheit. Ich werde sie Luise nicht verraten, sie würde sie vermutlich nicht verkraften, aber ich will es wissen, ich muss es wissen!“ Die beiden Männer schauten sich fest in die Augen. Der Österreicher ahnte, welche Frage nun folgen würde und er musste schluckten.

„Sagen Sie mir, ob Hubert es schaffen kann. Ganz ehrlich und ohne Schönmalerei.“

Ein schwerer, verzweifelter Seufzer war die Antwort. „Ich weiß es nicht, Pastor, ich weiß es wirklich nicht! Hugh, ich meine, Hubert ist stark und jung und wenn er auf dem Wagen fährt, hat er durchaus eine Chance! Vor allem, weil er so wieder zu Kräften kommen kann.“

„Dann wird Nikolaus die langen Fußmärsche übernehmen müssen“, murmelte Friedrich gedankenverloren.

„Das dürfen Sie nicht erlauben!“, widersprach Doktor Retzner ernst. „Der Junge ist viel zu zart! Er würde das nicht durchstehen!“

„Aber...“

„Ihre Tochter, Pastor, sie kann das. Wenn jemand es durchhalten kann, dann Juliane!“

„Das Mädchen?“ Friedrichs Augen weiteten sich. Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

„Ja, Pastor, sie schafft das! Sie hat einen Dickkopf und ist zäh. Das konnte ich in den vergangenen Wochen häufig beobachten. Sie hält was aus! Geben Sie ihr die Möglichkeit, sich zu beweisen!“

Zweifeld runzelte Friedrich die Stirn. „Wir haben noch bis morgen Zeit! Bis dahin werde ich mir das durch den Kopf gehen lassen, aber jetzt lassen Sie uns zum Abendessen gehen. Meine Frau wartet bestimmt schon.“

Das Wetter schien kein Einsehen mit ihnen haben zu wollen, denn es regnete in Strömen, als am anderen Morgen die aufsteigende Helligkeit im Osten die Nacht vertrieb. Das Trommeln auf dem Dach des Pfarrhauses weckte Friedrich und das erste, was er wahrnahm, war der Geruch von frischgebackenem Brot, der durch den Flur und die Zimmer zog. Meine Güte! Wie lange musste seine Frau bereits wach sein, wenn sie schon frisches Brot gebacken hatte?

Langsam richtete er sich auf. Er zog sich an und warf einen Blick durch die angelehnte Tür des angrenzenden Schlafzimmers. Hubert und Nikolaus schliefen noch, er würde sie später wecken. Juliane war nicht hier und auch ihre Wolldecke schon fort. Vermutlich hatte sie bereits begonnen, den Wagen zu beladen. Friedrich warf einen Blick die Treppe hinab, in den kleinen Wohnraum des Pfarrhauses. Dort stand Luise am Herd und kochte ein paar Eier. Hardy Retzner war ebenfalls nicht zu sehen.

Nun, dachte Friedrich, kein Wunder. Er wird die Nacht auf dem Fußboden nicht sehr angenehm verbracht haben. Wahrscheinlich hilft er Juliane.

Die Vorstellung ließ ihn schmunzeln. Wenn sich da nicht etwas anbahnte zwischen den beiden, dann fraß er einen Besen! Es war doch eindeutig, dass die zwei sich gern hatten und sobald sie in Oregon angelangt sein würden, musste er sich Doktor Retzner einmal zur Brust nehmen und ihm dringend ans Herz legen, endlich um die Hand seiner Tochter anzuhalten!

Keine vierzig Minuten später hatten auch seine beiden Söhne gefrühstückt, als es auf einmal an der Tür klopfte und ein junger Mann den Kopf zur Tür herein streckte.

„Der Doktor schickt mich! Alle sollen sofort ihre Sachen packen und zur Scheune hinüberkommen! In einer Stunde geht es los!“

„Du lieber Himmel!“, entfuhr es Luise und sie sprang hastig auf. „So bald schon?“

„Ich habe noch überhaupt nichts zusammengepackt!“, erklärte Hubert und erhob sich ebenfalls.

„Ich auch nicht!“, rief Nikolaus und beeilte sich, ihm zu folgen.

„Dann trödelt nicht länger herum!“, bat Friedrich und hob die Arme. „Wir müssen zusehen, dass wir rechtzeitig zu den anderen stoßen!“

Auf dem Platz vor dem Stall hatten sich die Wagen und Gespanne aufgereiht, fertig für die Abreise. Stimmen schrien, riefen, einige lachten, andere schimpften. Überall herrschte Hektik und Aufregung. Irgendwo dazwischen, etwas an den Rand gedrängt, standen Julie und Doktor Retzner bei ihrem Wagen und warteten.

„Haben Sie Ihre Sachen alle schon eingepackt?“, wollte er jetzt von ihr wissen.

Julie nickte. „Ja, habe ich gleich heute Morgen verstaut, bevor irgendjemand wach war.“ Sie blickte zufrieden an sich hinab. Sie trug ihren Reitrock mit den Stiefeln und dazu eine Bluse und ein Regencape darüber. Zwar ließen die Schauer ein wenig nach, je länger der Morgen andauerte, doch das Wetter zeigte noch immer keine Gnade.

„Hoffentlich bleibt es nicht den ganzen Tag so scheußlich!“ Doktor Retzner hob den Blick gen Himmel und bezweifelte, dass seine Bitte erhört werden würde. „Oh!“, machte er dann, denn seine Augen hatten vier Personen entdeckt, die zielstrebig auf sie zueilten. „Jetzt gibt’s gleich ein großes Donnerwetter!“

Julie straffte die Schultern und machte ein störrisches Gesicht. Sie war offensichtlich bereit, es auf einen Kampf mit ihren Eltern ankommen zu lassen. Hardy Retzner atmete tief durch und lehnte sich demonstrativ unbeteiligt an Hans, eines der beiden Maultiere, der gemeinsam mit seiner Kumpanin Otto die Hektik um sich herum mit stoischer Ruhe ignorierte.

„Na, alles bereit?“, rief Friedrich, noch bevor er sie erreicht hatte. „Sind wir startklar?“

„Sind wir!“, versicherte der Österreicher und kratzte sich ahnungsvoll den Hals.

„Tut mir leid, dass wir erst jetzt kommen“, entschuldigte Friedrich sich und winkte seiner Familie, damit sie die restlichen Gepäckstücke nach hinten brachten, um sie im Wagen zu verstauen. Es war nicht viel: Ihre Koffer, die sie bereits aus Bremerhaven mitgebracht hatten, das Zinngeschirr, die Töpfe und Pfannen und die restlichen Decken. Mehr besaßen sie nicht. „Wir hatten nicht damit gerechnet, dass der Aufbruch so plötzlich erfolgt. Man hätte einem wenigstens gestern Abend Bescheid geben können, dass wir in aller Herrgottsfrüh schon die Stadt verlassen.“

‚Man’ wäre ihr Treckführer gewesen, der sich jedoch seit der Eintreibung seines Vorschusses nicht mehr um sie gekümmert hatte.

„Ich glaube, es geht los!“, schrie auf einmal jemand neben ihnen und kletterte auf seine Kutsche. Tatsächlich – Charlie ohne Nachnamen ritt auf einem großen, schwarzen Hengst zwischen ihnen hindurch. Er verkündete laut brüllend, dass sich alle in anständiger Reihenfolge hinter ihm einordnen sollten, sobald er das Zeichen zum Aufbruch geben würde.

„Nun, gut“, entschied Friedrich. „Hubert, du übernimmst das Gespann! Luise, Nikolaus, rauf mit euch!“

Er half seiner Frau auf den hohen Kutschbock hinauf, ehe sein jüngster Sohn flink hinterher kletterte. Hugh musste sich von Doktor Retzner stützen lassen, um auf der anderen Seite hinaufzukommen. Er war noch zu schwach, als dass er es alleine hätte schaffen können.

Friedrich beobachtete, wie die Wagen vor ihnen sich in Bewegung setzten; einer reihte sich hinter den nächsten. Eine eigenartige Stimmung überkam ihn. Hätte er geahnt, dass vergangenen Sonntag sein letzter Gottesdienst in der Kirche gewesen war – er hätte sich gebührend von den Menschen hier verabschiedet, die ihm ans Herz gewachsen waren. Komisch, dachte er, wie schnell sich der Mensch doch an etwas gewöhnt.

Die beiden Maultiere zogen ihren Wagen mit einem Ruck an und das riss Friedrich aus seinen Gedanken. Er drehte sich herum, um zu sehen, ob Doktor Retzner und Julie ihm folgten. Sie schienen auf der anderen Seite des Wagens zu sein, denn er hörte seine Tochter mit dem Österreicher auf Deutsch reden.

Zunächst mussten sie ein Stück den Weg zurück, den sie gekommen waren, um dann auf die Hauptstraße von St. Louis einzubiegen, die sie weiter nach Westen bringen würde. Das Lager blieb hinter ihnen zurück, mitsamt all den restlichen Menschen, die voller Hoffnung waren, irgendwo in diesem Land eine bessere Zukunft zu finden. Sie würden auch nicht mehr lange hier bleiben. Einige waren schon vor ihnen aufgebrochen, immer weiter, den Oregon Trail entlang, voller Zuversicht und überschäumendem Herzen, andere warteten auf einen anderen Treck oder wollten in einer anderen Himmelsrichtung ihr Glück versuchen.

„Jetzt geht’s noch ein letztes Mal durch die Stadt“, sagte Hardy Retzner auf Deutsch mit breitem, österreichischen Akzent. „Und dann heißt es endgültig ‚Lebewohl!‘“

„Sie werden doch nicht sentimental werden?“, fragte Friedrich streng, doch es gelang ihm nicht recht, seine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten. Auch er verspürte einen Abschiedsschmerz im Herzen. Wenn er ehrlich war, hätte er nichts dagegen einzuwenden gehabt, hierzubleiben, doch ihr Ziel hieß Westküste. Nur deswegen war er in dieses fremde Land gekommen, deshalb hatte er Deutschland den Rücken gekehrt.

Sie gingen nun hinter dem Wagen und seine Augen wanderten hinüber zu seiner Tochter, die eifrig voranstapfte. Er sah sie zum ersten Mal an diesem Tag – er stutzte.

„Was...?“ Mit drei schnellen Schritten stand er bei ihr und packte sie unsanft am Arm. „Was, in aller Welt, trägst du für fürchterliche Sachen?“, zischte er wütend, damit nur sie ihn verstehen konnte. „Woher hast du dieses...dieses sündige Zeug?!“

Selbstbewusst warf Julie den Kopf zurück. Nur sie selbst wusste, wieviel Mut ihre Worte sie kosteten: „Ich trage praktische Kleidung zum Laufen, Vater!“

„Die anderen Frauen, die keinen Platz mehr auf einem Wagen gefunden haben, können sich auch anständig anziehen!“ Ein ungeheurer Zorn ergriff von Friedrich Besitz. Er schüttelte seine Tochter heftig, ohne zu merken, dass die Gespanne an ihnen vorbeizogen und sie zurückblieben. „Sofort wirst du in den Wagen klettern und dich umziehen!“

 

„Nein!“, rief Julie trotzig. Sie fühlte sich tief verletzt von der Behandlung durch ihren Vater, die alle anderen nun mitbekamen. „Wenn ich diese Sachen nicht tragen darf, gehe ich keinen Schritt weiter, sondern bleibe hier! Ich kann selbst entscheiden, was ich anziehe und was nicht! Ich bin in deinen Augen immerhin erwachsen genug, dass du mich verheiraten willst!“

Friedrich starrte sie einen Augenblick fassungslos an. Noch nie hatte sie es gewagt, so mit ihm zu sprechen! Wutentbrannt und völlig außer sich hob er den Arm. „Du wirst es nicht noch einmal wagen, so mit deinem Vater zu sprechen!“

Erschrocken wollte Julie dem Schlag ausweichen, doch jemand anderer kam ihr zuvor. „Bitte, Pastor!“ Geistesgegenwärtig packte Hardy Retzner Friedrich am Handgelenk. „Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt! Wir müssen weiter!“

Die beiden Männer wechselten einen langen, herausfordernden Blick.

„Bitte, Pastor“, sagte der Österreicher noch einmal. „Wir haben keine Zeit für solche Kleinigkeiten!“

Einen Moment schien es, als würde sich Friedrichs Zorn nun gegen ihn richten, doch schließlich gab er nach. „Sie haben recht!“, stieß er, nur schwer beherrscht hervor. „Lass uns das heute Abend klären, wenn wir lagern. Wir sollten uns, glaube ich, wirklich beeilen!“

Längst waren fast alle anderen Wagen an ihnen vorbeigefahren und um die scharfe Linkskurve des Weges, hinter den ersten Häusern, verschwunden. Sie fingen an zu laufen, dann zu rennen, um ihren eigenen wieder einzuholen. Auf der Hauptstraße hatten sich rechts und links Neugierige versammelt, um den Abzug der Siedler zu verfolgen. Einige winkten, andere standen einfach nur da und schauten. Außer Atem erreichten Friedrich, Julie und Hardy Retzner ihrn Planwagen, wo Luise sie bereits aufgeregt empfing.

„Wo steckt ihr denn? Wir haben uns schon Sorgen gemacht! Um Gottes Willen, Juliane! Wie siehst du denn aus? Friedrich, unternimm etwas! Sie kann doch so nicht herumlaufen!“

„Später!“, rief ihr Mann und seufzte resigniert. „Nicht jetzt!“ Er rückte sich seinen breitkrempigen, schwarzen Hut zurecht und stellte auf einmal fest, dass es aufgehört hatte zu regnen.

Doktor Stankovski und seine Frau hatten sich vor dem Praxisgebäude eingefunden und winkten. Als sie Doktor Retzner erblickten, eilten sie ihm entgegen und drückten ihm einen großen, verschlossenen Korb mit Proviant in die Hände.

„Für Sie, mein Lieber!“, versicherte der alte, grauhaarige Arzt. „Möge Gott Sie beschützen auf all Ihren Wegen und mögen Sie dort ankommen, wo Sie es sich wünschen!“

„Vielen, vielen Dank!“ Der junge Österreicher hatte Mühe, seine Rührung zu verbergen. Er lächelte. „Das wäre doch nicht nötig gewesen!“

„Reden Sie nicht“, meinte Doktor Stankovski. „Schauen Sie lieber, dass Ihr Wagen nicht ohne Sie die Stadt verlässt!“

„Oh, ja, natürlich!“ Hardy Retzner reichte ihm kurz die Hand, danach der Frau und dann musste er fort, wenn er nicht wollte, dass sie sahen, wie er gegen die Tränen ankämpfte. Sie waren in den wenigen Wochen so herzlich zu ihm gewesen, hatten ihn behandelt wie ihren eigenen Sohn und das, obwohl er bis heute kein vernünftiges Wort Englisch zustandebrachte. Wie sollte er ihnen das je vergessen?

Er wandte sich um und eilte hinter den vorbeiziehenden Wagen her, deren eisenbereifte Räder tiefe Rillen in der aufgeweichten Erde der Hauptstraße hinterließen.

Der Treck rollte durch die Stadt, an den Häusern vorbei und den Menschen, die darin lebten. Hugh hielt die Zügel fest in der Hand. Es war ihm nicht recht, dass Julie anstatt seiner jetzt nebenher laufen musste, aber es half nichts. Er selbst war dazu nicht in der Lage, dazu fehlte ihm einfach noch die Kraft nach der schweren Erkrankung. Auf einmal stellte er fest, dass sie auf Höhe des einen, bestimmten Saloons angekommen waren. Eine Gruppe Mädchen stand davor und beobachtete die vorbeiziehenden Wagen. Seine brauen Augen glitten hastig über sie hinweg und fanden, wonach sie suchten. Suzie lächelte und schwenkte ein buntes Taschentuch. Vorsichtig, kaum merklich und nur für sie verständlich hob er kurz die Finger seiner linken Hand. Sie nickte ihm zu, ihre Blicke trafen sich ein letztes Mal und dann waren sie vorüber, der Saloon lag hinter ihnen. Hugh schluckte und starrte regungslos geradeaus. Er registrierte, dass seine Mutter neben ihm redete, doch er hörte ihr nicht zu. Sein Kopf schwirrte. Er hatte sie lieb gewonnen, sehr lieb sogar. Suzie, dachte er und musste lächeln. Erinnerungen an erregende, befriedigende Nächte drängten sich in seine Gedanken, doch er zwang sie zurück. Niemals würde er sie vergessen, das wusste er, aber ebenso war ihm bewusst, dass er sie vermutlich niemals wiedersehen würde. Zu weit lag Oregon entfernt und irgendwann würde er ein anderes Mädchen heiraten und dann war sie nichts mehr, außer einem schönen, prägenden Erlebnis aus seiner Vergangenheit. Sie war eine gute Lehrerin in Sachen Liebe gewesen, doch schon jetzt begann ihr Bild zu verblassen, bis sie nur noch ein nettes, verschwommenes Bild in seiner Erinnerung darstellte. Genau, wie diese Stadt, in der sie einige Wochen verbracht hatten und die nur eine Zwischenstation vor ihrem eigentlichen Ziel war, vor dem Land, ganz im Westen, das Oregon genannt wurde.

Der Treck

Die ersten dreizehn Tage regnete es beinahe ohne Unterlass und zwischendurch fiel in höheren Lagen sogar Schnee, wobei ein eisiger Wind blies, je näher sie den Rocky Mountains kamen. Wie weit sie auch vorwärtsdrangen, die dunklen Wolken schienen sie zu verfolgen und nicht aufhören zu wollen, ihnen das Leben schwerzumachen. Endlich, am Abend des vierzehnten Tages, als sie in einem kleinen, grünen Tal ihr Lager aufschlugen, durch das ein schmaler Bach floss, der an einigen Stellen über die Ufer getreten war, hörte es auf und die Sonne kam zum Vorschein.

„Seien wir lieber froh, dass wir nicht eingeschneit worden sind“, kommentierte Hardy Retzner in seiner eigenen, trockenen Art und zog sich den feuchten Regenmantel aus. „Sauber sehen wir alle miteinander aus!“

Julie blickte an sich hinab und musste ihm stumm rechtgeben. Ihre Stiefel und ihr Reitrock waren mit Erdkrusten überzogen und verklebt. Bis zu den Oberschenkeln hinauf wies der Stoff eine bräunlich-schmutzige Verfärbung auf und es tat ihr leid um den geliebten Hosenrock, der nun ruiniert war, aber gut, solange sie sich auf dem Trail befanden, solange würde sie ihn auch noch anbehalten.

Lagerfeuer wurden angezündet, während sich die Wagen zu einem Kreis formierten. Die Zugtiere wurden abgespannt, getränkt und in die Mitte der Wagenburg getrieben und Wachen für die Nacht eingeteilt. Gleich darauf dufteten die ersten Mahlzeiten und Schüsse fielen, weil sich drei oder vier der jungen Männer aufgemacht hatten, frisches Fleisch zu besorgen.

„Hoffentlich treffen sie nicht versehentlich irgendeine Kuh, die einem Rancher gehört“, raunte Friedrich stirnrunzelnd und setzte sich an ihr Feuer, über dem Luise eine Suppe im Topf zum Kochen brachte. Dazu gab es trockenes Brot. Die Dämmerung brach schnell und unvorbereitet über dem Land herein, das noch unter dem Einfluss des langen Winters stand und dem Frühling nur allmählich gewährte, sich durchzusetzen.

„Meinst du, es gibt hier überhaupt Ranches?“, fragte Hugh, während er sich neben seinem Vater niederließ. Die Fahrt im Wagen und die Strapazen des Trecks hatten seiner Gesundheit nicht sonderlich gut getan. Er war blass und mager und fror sehr schnell. Mindestens alle vier Stunden kontrollierte Hardy Retzner seine Temperatur und den Puls, doch bisher war alles in Ordnung und der Österreicher hoffte inständig, dass es auch so bleiben würde, denn bei einer weiteren Erkältung oder gar einer nochmaligen Lungenentzündung gab er dem jungen Mann keine Überlebenschancen. Darüber sprach er selbstverständlich mit niemandem, aber das Wissen darüber belastete ihn.

Luise machte sich daran, die letzten Konservenbüchsen mit Bohnen und Karotten zu öffnen, die sie in St. Louis eingepackt hatten, um sie in die Brühe zu schütten.

„Bloß gut, dass wir bald in der nächsten Stadt sein müssten“, seufzte sie und holte den großen Topf hervor.

Friedrich schmunzelte. „Du wirst dich daran gewöhnen müssen, wieder ohne Konserven auszukommen! Bis Oregon liegt noch ein weiter Weg vor uns und...“

Er wurde durch ein lautes Klatschen unterbrochen. Im Schein der Lagerfeuer, die neben jedem der Wagen brannten, trat Charlie in die Mitte und hob die Hände zum Zeichen, dass er Aufmerksamkeit erwartete. Zum ersten Mal, seitdem sie ihn kannten, trug er nicht seinen breitkrempigen, schmutzigen Cowboyhut. Sein ungepflegtes Haar glänzte golden im Schein der flackernden Feuer und ließ ihn auf eigenartige Weise unnahbar und gleichzeitig geheimnisvoll aussehen. Er war überhaupt ein merkwürdiger Mensch.

„Was ist los?“, wollte Julie wissen. Sie hatte sich im Inneren des Wagens ihrer schmutzigen Kleidung entledigt, die sie nun zum Trocknen außen an die Holzverkleidung hängen wollte. Morgen wollte sie alles in dem kleinen Flüsschen auswaschen. Stattdessen trug sie jetzt einen langen Rock mit dazugehörigen Unterkleid und die unbequemen Schürschuhe.

„Ah, nichts weiter!“, erwiderte Hardy Retzner auf Deutsch und hob sie vom Wagen herab. Seine Hände legten sich um ihre schmale Taille und er hielt sie einen Moment länger fest als nötig. Eine kaum zügelbare Sehnsucht überkam ihn und er musste einen Schritt von ihr zurücktreten, um nicht die Beherrschung über sich zu verlieren. Sie hatte den Zopf gelöst, der ihr rotblondes Haar für gewöhnlich zusammenhielt und nun fiel es lang und glatt bis über ihre Schultern hinab. Er verspürte große Lust, seine Finger hindurchgleiten zu lassen, doch er glaubte zu wissen, dass er dadurch mehr zerstören als gewinnen konnte.

„Was will Mister Charlie?“, fragte Julie, ihren Blick nicht von dem Mann mittleren Alters abwendend.

Der österreichische Arzt grinste, ehe er sehr leise und auf Deutsch erwiderte: „Ich fürchte, er will uns mit einer Rede beglücken!“

Julie unterdrückte ein Kichern, doch ihre bernsteinfarbenen Augen glitzerten übermütig. Abwartend standen und saßen die Siedler vor und neben ihren Wägen, rund um die Lagerfeuer und wollten wissen, was ihr Führer ihnen mitzuteilen hatte.

Noch einmal hob Charlie den Arm, dann schallte seine tiefe, von dem amerikanischen Akzent stark geprägte Stimme, über die kleine Wiese: „Morgen Mittag werden wir die Town of Kansas erreichen! Macht euch keine Hoffnungen, wir werden uns dort nicht lange aufhalten! Ihr werdet gerade genug Zeit haben, um Lebensmittel zu kaufen oder was auch immer ihr sonst benötigt! Dann geht’s weiter!“

„Wie lange werden wir denn noch bis Oregon brauchen?“, rief jemand, von der Perfektion seines Englisch her vermutete Hardy, es könnte ein Brite sein. Seine grünen Augen betrachteten ihren – vom Äußeren einem Cowboy nicht unähnlichen – Treckführer eindringlich. Er spürte, dass das noch nicht alles gewesen war, was er ihnen zu sagen hatte.

„Oregon“, wiederholte Charlie gedehnt und bemühte sich, seine zu langen, struppigen Haare glattzustreichen, was ihm jedoch nicht gelang. „Oregon ist noch sehr weit fort! Wir müssen über die Rocky Mountains und durch Indianergebiet! Wir haben zwar immer wieder Forts und Städte auf unserem Weg, an denen wir Vorräte besorgen können, aber in Oregon wird sich dann jeder einen Platz für sich suchen müssen! Das wird nicht ganz leicht!“

„Wieso?“, rief jemand anderer. „Ich dachte, in Oregon gibt es noch fast keine Siedler!“

Charlie lachte leise und bellend auf. „Wo habt ihr das gelesen? In einer von euren Zeitungen in Europa?“ Er lachte noch einmal, diesmal lauter. „In Oregon gibt es längst Städte und jede Menge Farmen! Was glaubt ihr, wieviele tausend Leute wie ihr sich in den vergangenen Jahren dorthin auf den Weg gemacht haben und alle mit derselben Hoffnung! Glaubt ihr, die lassen sich das Land von euch einfach so besetzen?“

Ein lautes, protestierendes oder ungläubiges Murmeln ging durch die Menschen. Sie wollten nicht glauben, was sie hörten.

„Und was wollen Sie jetzt tun?“, rief eine aufgebrachte Frau. „Wo sollen wir dann hin?“

„Es gibt eine ganz einfache Lösung!“, schrie ihr Treckführer, beinahe triumphierend, zurück. Er schien genau auf diese Frage gewartet zu haben. „Dieses Land ist riesig! Es werden alle genug Platz finden! Wir werden die Town of Kansas morgen nicht in westlicher, sondern in südlicher Richtung verlassen! Dort unten gibt es noch jede Menge unbesiedeltes, unberührtes Land! Wir werden uns in Richtung Arkansas River aufmachen, bis zu einem Fort, das dort errichtet ist. Da können wir bleiben und...“

 

„Zum Arkansas River?“, wiederholte Hardy Retzner lauter als beabsichtigt. Alle Augen wandten sich ihm zu. Er hatte die Landkarte genau vor Augen und wusste, wovon Charlie sprach. „Das ist doch alles Indianergebiet!“

„Noch!“, entgegnete ihr Führer selbstbewusst. „Noch ist es das, aber nicht mehr lange! Die Regierung will so schnell wie möglich Verhandlungen mit den Indianern aufnehmen und das Gebiet für die Siedler nutzen.“

„Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es doch verboten, sich dort niederzulassen!“

Charlie kniff die Augen zusammen. „Willst du mir erklären, welche Gesetze in diesem Land gelten? Welche Rechte ein Siedler hat? Schon einmal etwas von einem Heimstättengesetz gehört?“

„Allerdings“, erwiderte der junge Österreicher erzürnt und bereit, sich mit ihrem Treckführer anzulegen. „Und es besagt nicht, dass es auch für Land gilt, das den Indianern überlassen wurde! Wir haben keinerlei Rechte uns...“

„Rechte!“, brüllte Charlie unkontrolliert und die Geduld verlierend. „Es gibt schon lange Farmer dort unten, ohne dass jemand groß Notiz davon genommen hat! Und jetzt stell dir vor, was passiert, wenn das Land irgendwann zur Besiedlung freigegeben wird und wir bereits dort sind? Weißt du, was das bedeutet?“

„Und wenn es nicht freigegeben wird?“, bohrte Hardy unbeeindruckt nach. „Was dann?“

„Es wird!“, schrie Charlie wütend, die Hände zu Fäusten ballend. „Dieses ganze Land wird eines Tages von euch Einwanderern besiedelt sein! Nichts davon wird mehr wild und unentdeckt sein und kein Indianer wird mehr auf irgendeinem Besitztum pochen, weil es keinen von ihnen mehr geben wird!“

„Wollen Sie mir etwa andeuten, dass wir uns das Land stehlen sollen? Obwohl es uns nicht zusteht?“ Auch Hardy Retzner brüllte jetzt. Es war ihm unbegreiflich, dass jemand auf solch absurde, gefährliche Ideen kam. „Die Indianer werden genauso wenig begeistert sein, wie die schon angesiedelten Farmer in Oregon, wenn wir uns einfach an ihrem Besitz bedienen! Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, dass die sich nicht dagegen zur Wehr setzen werden? Und was wird dann aus uns? Ein Haufen Leichen in der Prärie?“

„Red keinen Unsinn, du kleiner, dummer Europäer!“ Herausfordernd stemmte Charlie die Arme in die Hüften. „Wir werden nach Süden ziehen und zwar bis in die Nähe des Forts, wo sich der letzte Stützpfosten befindet! Dort könnt ihr eine Stadt errichten, oder was auch immer ihr wollt und dort seid ihr sicher! Und jetzt gibt es keine weiteren Diskussionen mehr oder ihr könnt euch morgen einen anderen Führer suchen...falls ihr so etwas in einer Stadt wie der Town of Kansas findet!“

Seine Drohung zeigte Wirkung – alle schwiegen und starrten Hardy Retzner vorwurfsvoll und abwartend an. Rüde packte Friedrich ihn am Arm.

„Was ist denn in Sie gefahren? Das ist doch eine einmalige Gelegenheit!“

„Das ist Raub!“, stieß der junge Arzt wütend hervor. „Nichts weiter! Wir machen uns auf Land breit, das uns nicht zusteht!“

„Aber wenn Mister Charlie sagt, dass die Regierung Verhandlungen mit den Indianern führt, dann ist es das in ein paar Wochen vielleicht schon! Und wenn dann alle dorthin rennen, sind wir bereits da und haben unser Parzellen abgesteckt!“

Fassungslos legte Hardy Retzner sich einen Moment die Hand vors Gesicht. „Pastor, begreifen Sie denn nicht? Unser werter Fährtensucher hat lediglich erklärt, dass die Verhandlung bald aufgenommen werden sollen! Das ist ein gewaltiger Unterschied! Was, wenn der Regierung etwas dazwischen kommt? Oder wenn sie eine bessere Idee hat oder es zu keiner Einigung kommt? Was dann?“

„Ach, nun malen Sie den Teufel doch nicht an die Wand!“, fuhr Friedrich ihn ungehalten an. „Ich hab’ mir dieses Heimstättengesetz unzählige male durchgelesen! Wir haben das Recht auf 160 Acres Land, das sind 64 Hektar! Jedenfalls ich, weil ich ein verheirateter Mann mit Familie bin, aber das will ich gar nicht! Ich möchte lediglich ein kleines Häuschen bauen und eine Kirche errichten, in der ich zu all diesen Menschen predigen kann und auch zu all denjenigen, die noch folgen werden!“

Kopfschüttelnd wandte Hardy Retzner sich ab. Wenn nicht einmal mehr ein Geistlicher, ein Pfarrer, sich seines Unrechts bewusst war, wie konnten das dann die anderen hier? Wie konnte er ihnen nur begreiflich machen, dass es falsch war, was sie taten, dass sie mit entscheidenden, wenn nicht gar lebensgefährlichen Konsequenzen zu rechnen hatten? Er umrundete den Wagen und lehnte sich auf der anderen Seite gegen das rauhe Holz, dort, wo der Schein des Feuers ihn nicht treffen konnte. Er fühlte sich entsetzlich hilflos und sehr erschöpft. Die Kälte der Nacht kroch in ihm hoch, doch er nahm sie kaum wahr.

„Glauben Sie wirklich an das, was Sie eben gesagt haben?“, fragte auf einmal Hugh neben ihm. Der junge Mann war ihm unbemerkt gefolgt, verunsichert und durcheinander.

Hardy schaute ihn nicht an. Ihm war nicht danach, jetzt mit irgendjemandem zu streiten, schon gar nicht mit Hugh.

„Ja, das meine ich, aber bitte...“

„Warum?“, unterbrach der junge Mann ihn. „Warum glauben Sie das?“

„Bei Doktor Stankovski hatte ich genug Gelegenheit entsprechende Artikel zu lesen und die dazugehörige Wahrheit aus dem Mund eines Mannes zu erfahren, der es wissen muss.“ Er hatte seine Stimme gesenkt und Hugh musste sich anstrengen, um ihn verstehen zu können. „Immer weiter werden die Indianer zurückgedrängt, immer weiter, bis es keinen Ort mehr für sie gibt. Dieses riesige, einzigartige Land hat einst ihnen gehört, ihnen ganz allein...bis wir kamen, wir Siedler und Eindringlinge, die es ihnen fortnehmen. Immer mehr davon, immer mehr, aber eines Tages werden sie zurückschlagen. Selbst, wenn wir immer noch mehr von ihnen töten und in Reservate pferchen – eines Tages werden sie zurückschlagen und für ihre Rechte kämpfen. Das ganze Land dieser Vereinigten Staaten gehört ihnen, nicht uns.“ Er seufzte und brach ab. „Was nützt es schon, wenn ich rede? Gar nichts. Die anderen werden auf Mister Charlie hören, weil er Erfahrung hat und dieses Land schon mehrmals ohne größere Zwischenfälle in alle möglichen Richtungen durchquert hat...ein verdammt zäher Bursche. Wer weiß? Vielleicht hat er auch schon vorher Siedlertrecks in den Süden geführt, in dieses Gebiet wo auch wir hin sollen, aber selbst wenn wir unbeschadet bis zu diesem Fort durchkommen, wer sagt, dass wir dort bleiben können? Wer sagt, dass uns die dort stationierten Soldaten nicht gleich wieder davonjagen, weil sie dort sind, um Leute wie uns davon abzuhalten, über das Land herzufallen? Vielleicht kommen wir auch gar nie erst an, weil die Indianer uns zuvor überfallen. Wer weiß das schon?“

Hugh schluckt. Im Stillen bewunderte er den jungen, strohblonden Arzt mit dem schmalen, eingefallenen Gesicht und dem energischen Auftreten. Er hatte ihn von ihrer ersten Begegnung an bewundert, als er den jungen Matrosen auf dem Schiff versorgt hatte. Schon an diesem Tag hatte Doktor Retzner etwas in ihm auszulösen vermocht, das er bis dahin nicht gekannt hatte. Es war wie eine Art unstillbarer Wunsch, ein Drängen, das ihn irgendwohin führen wollte und er konnte nicht genau sagen, wohin. Ein Wunsch, den er nicht beim Namen nennen konnte, noch nicht.

„Ich...gehe...das Abendessen ist fertig“, brachte Hugh zerstreut hervor, ehe er sich abwandte und eilig zum Feuer zurückging.