Wind über der Prärie

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Zum ersten Mal wurde Hugh bewusst, welche Schwerstarbeit sein kleiner Bruder hier zu verrichten hatte und er bewunderte ihn im Stillen dafür. Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie sämtlichen Mist hinaus auf den Haufen gekarrt und frisch eingestreut hatten.

„Das ging wunderherrlich schnell heute“, strahlte der Ungar und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Könntest kommen jeden Tag! Würde alles immer so schnell sein!“ Er lachte fröhlich, wobei er seine dunklen Augen zusammenkniff.

„Geht nicht“, erwiderte Hugh entschuldigend. „Die Eisenbahn zählt auf mich!“

„Ah ja!“, rief Miklós und klatschte sich bedauernd in die Hände. „Die Eisenbahn! Die wird kosten eines Tages unseren Pferden das Dasein! Du wirst sehen!“ Er seufzte betrübt. „Aber was redet alter, dummer Miklós hier? Ihr müsst nach Hause, nicht wahr? Eltern warten und ist schon spät! Kommen morgen wieder! Gute Nacht!“

„Gute Nacht!“, rief Nikolaus fröhlich und drückte dem Ungar kurz die Hand. Er mochte ihn sehr und hörte unheimlich gerne seine Geschichten an, die er zu erzählen wusste.

„Gute Nacht“, sagte auch Hugh, doch nur leise, denn jedes lautere Wort hätte einen erneuten Hustenanfall ausgelöst. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und schlurfte hinter seinem kleinen Bruder hinaus ins Freie. Noch immer fiel Regen vom Himmel.

„Ist das nicht schön?“, jubelte Nikolaus ausgelassen und hüpfte über mehrere Pfützen hinweg.

Hugh erwiderte nichts. Er fühlte sich ausgesprochen elend und erschöpft. Er konnte sich selbst nicht erklären, woher das kam. Am Morgen noch war er bei bester Gesundheit gewesen, das hieß, nein, eigentlich auch schon nicht mehr, wenn er ehrlich sein wollte. Einige male war ihm eigenartig schwindlig geworden und er war im Grunde ganz froh gewesen, als sein Arbeitstag sich dem Ende geneigt hatte.

Sie mussten wieder den weiten Weg quer durch die Stadt zurücklegen. Als sie das Pfarrhaus betraten, schlug ihnen der Duft von Luises Mahlzeit entgegen und drehte Hugh fast den Magen um. Er musste sich am Türrahmen festklammern. Die Welt um ihn herum begann, sich zu drehen.

„Du lieber Himmel! Wie siehst du denn aus?“ Das war Julie. Er spürte, wie ihre kleine, zarte Hand ihn fasste und stützte und die andere sich auf seine Stirn legte. „Du glühst ja! Los, leg dich sofort in dein Bett! Ich hole Hardy, du brauchst einen Arzt!“

„Mir...geht’s...gut“, brachte Hugh leise und schwerfällig hervor. „Wirklich...“

„Genauso siehst du auch aus!“, erwiderte Friedrich sarkastisch. Seine großen, kräftigen Pranken packten seinen Sohn entschlossen und zerrten ihn zur Treppe. „Rauf da! Mach’ schon!“

Nur mit letzter Kraftanstrengung und mit Hilfe seines Vaters gelang es Hugh, sich am Geländer hinaufzuziehen. Oben gab es nur zwei Räume: Im einen teilten sich die Kinder zwei Betten, im anderen schliefen Luise und Friedrich.

Hugh wankte zu seinem Bett. Seine Knie gaben unter ihm nach, er sank auf die Daunendecke und spürte, wie im nächsten Augenblick eine harte, schwarze Dunkelheit über ihm hereinbrach und er das Bewusstsein verlor.

„Schnell, Mädchen!“, rief Friedrich erschrocken nach unten, während er die Decke unter seinem Sohn hervorzog und über ihm ausbreitete. „Hol’ Hardy! Deinem Bruder geht es sehr schlecht!“

„Ja, ich laufe!“ Bereits im Hinausstürmen warf Julie sich ihr Cape über und dann rannte sie los, durch den strömenden Regen und die morastigen Straßen. Sie merkte nicht, wie sich ihr langes, rotblondes Haar mit Wasser vollsog und ihre Schuhe durchweichten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Den Symptomen nach zu urteilen musste es sich um eine schwere Grippe handeln oder womöglich um Schlimmeres. Sie atmete schnell und keuchend. Ihre Röcke waren längst völlig durchnässt und wurden mit jedem Schritt schwerer. Hoffentlich hatte sie Glück und Hardy war noch in der Praxis, sodass sie nicht bei Doktor Stankovski klopfen und diesen bei seinem Feierabend stören musste! Sie eilte die menschenleere, wie ausgestorben wirkende Hauptstraße hinab. Nur aus dem Saloon drangen Musik und Gelächter, wie jeden Abend. Um die nächste Kurve und dann war da die Praxis. Julie seufzte erleichtert – Licht fiel aus einem Fenster auf die Straße. Sie raffte ihre Röcke und eilte hinüber. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Ihre Faust hämmerte laut gegen die Türe.

„Hardy?“, rief sie leise. „Sind Sie da?“ Es dauerte keine drei Sekunden, dann wurde die Tür von innen aufgerissen.

„Julie!“ Erschrocken fasste Doktor Retzner sie an den Schultern. „Was ist passiert? Geht es Ihnen nicht gut? Sie sind ja ganz nass!“

„Mit mir ist alles in Ordnung!“, brachte sie keuchend hervor. „Aber Hugh...ich meine, mein Bruder ist krank! Bitte, Hardy, Sie müssen sofort mitkommen!“

„Natürlich, warten Sie!“ Er wirbelte herum, griff nach seiner Tasche und der Jacke. Die Eingangstür fiel krachend ins Schloss. Der Österreicher legte einen Arm um Julies Schulter, als fürchtete er, sie würde andernfalls den Weg zurück in der Dunkelheit und dem Regen nicht überstehen.

Als sie das Pfarrhaus erreichten, wurden sie bereits von einer aufgeregten, äußerst besorgten Luise empfangen, die sich von ihrem Mann kaum beruhigen ließ. Nur Nikolaus saß, wie unbeteiligt am Tisch, über seinem Abendessen.

„Er hat mir geholfen, den Pferdestall zu misten“, sagte der Junge zwischen zwei Bissen und beobachtete, wie der österreichische Arzt die Treppe hinauf eilte, gefolgt von Luise.

„Was meinen Sie, Doktor?“, rief sie verängstigt und faltete die Hände, wie zum Gebet. „Es ist doch nichts Ernstes?“

„Lass ihn doch erst einmal schauen!“, versuchte Friedrich sie zu bremsen und zog sie vom Bett fort. „Wie soll er etwas sagen können, wenn du andauernd dazwischenredest?“

Doktor Retzner ließ sich nicht von dem Gespräch ablenken. Er kannte das bereits und hatte schon vor vielen Jahren gelernt, einfach wegzuhören und sich nur auf seine Arbeit zu konzentrieren. Julie stellte sich neben ihn und beobachtete, wie er Hughs Atem überprüfte, seinen Puls maß und die Temperatur nahm. Schließlich richtete er sich auf. Sein schmales Gesicht legte sich in tiefe Falten.

„Was ist es?“, fragte Julie leise, jede seiner Regungen besorgt beobachtend.

„Nun“, er biss sich kurz auf die Lippen. „Er hat sich ganz offensichtlich eine Lungenentzündung eingefangen.“

Luise stieß einen kurzen, leise Schrei des Entsetzens aus. Genauso gut hätte er das Todesurteil für ihren ältesten Sohn verkünden können.

„Sind Sie ganz sicher?“, wollte Friedrich wissen, während er seine Frau an beiden Oberarmen stützte.

„Ja.“ Der Arzt nickte. „Es tut mir leid, aber ich kann nichts Großartiges für ihn tun. Das muss er alleine schaffen. Halten Sie ihn möglichst warm und flößen Sie ihm so viel heißen Tee ein, wie es nur geht und wenn das Fieber zu hoch wird – dann versuchen sie es mit Wadenwickel.“

„Aber...das kann doch nicht alles sein!“, rief Luise verzweifelt und presste sich die Hände vors Gesicht.

„Ich komme gleich morgen Früh wieder vorbei“, versprach Doktor Retzner. „Sehen Sie unbedingt zu, dass er nicht friert! Ich besorge Ihnen auch noch ein paar dickere Wolldecken und jemand muss über Nacht Wache halten.“

„Das kann ich tun!“, rief Julie sofort.

„Kommt nicht in Frage!“, donnerte Friedrich. „Du bist den ganzen Tag auf den Beinen und brauchst deinen Schlaf! Deine Mutter und ich können uns abwechseln! Du versuchst zu schlafen und keine weitere Diskussion!“

„Ja, Vater“, sagte Julie leise, wenn auch mit innerem Widerwillen. Sie verstand doch ein klein wenig etwas von Medizin mittlerweile. Sie wollte Hugh jetzt beistehen!

Doktor Retzner verabschiedete sich, unzufrieden, nicht mehr tun zu können. Manchmal, dachte er, während er die Türe hinter sich zuzog und hinaus ins Freie trat, ist es ein verdammt frustrierender Beruf. Man will helfen und kann nicht, man will Leben retten und hat keine Ahnung, wie man es anstellen soll, weil es keine Möglichkeiten gibt oder weil wir an unsere Grenzen als Mediziner stoßen, an die Grenzen dessen, was wir wissen.

Er blieb stehen, hob sein schmales, müdes Gesicht dem schwarzen Nachthimmel entgegen. Die Regentropfen fielen kalt auf seine Haut. Er schloss die Augen. Diese Aussichtslosigkeit, diese Hilflosigkeit! Wie konnte er Hubert nur helfen? Wie konnte er sein Leben retten? Nicht nur um Huberts Willen und deshalb, weil er sich als Arzt dazu verpflichtet fühlte – für Julie vor allen Dingen, für Julie wollte er den jungen Mann am Leben erhalten. Sie würde es ihm nie verzeihen, sollte er es nicht schaffen.

Langsam ging Hardy Retzner weiter. Es half nichts, er musste endlich aufhören, sich selbst zu belügen. Ein sanftes Lächeln spielte um seine Lippen, während er langsam durch die Dunkelheit spazierte. Jeden Morgen wartete er voller Sehnsucht und Vorfreude darauf, dass die Tür der Arztpraxis aufschwang und die helle, fröhliche Stimme ihn und Doktor Stankovski begrüßte. Wenn sie strahlend und glücklich, diese Arbeit verrichten zu dürfen, im Hinterzimmer verschwand, um sich umzuziehen. Verträumt suchte der junge Arzt sich seinen Weg über die matschigen Wege, durch die ausgestorbenen Gassen zwischen den Wohnhäusern bis zur Hauptstraße. Er durfte nicht länger vor sich selbst verleugnen, was dieses einfache, ehrliche und doch so besondere Mädchen ihm bedeutete, dass sie schon längst sein Herz erobert hatte, ohne es vermutlich überhaupt auch nur zu ahnen. Sie war noch fast zu jung, um zu wissen, was Liebe bedeutete, aber doch nicht zu jung und er war fest entschlossen, um ihre Hand anzuhalten, sobald sie in Oregon angelangt sein würden. Wenn er dort erst einmal seine eigene Arztpraxis eröffnet haben würde und ihr eine sichere Zukunft bieten konnte – dann würde er sie bitten, seine Frau zu werden. Er wollte sie an seiner Seite haben, jeden Tag und dieses bezaubernde Mädchen sein Eigen nennen können.

 

Irgendwann, dachte er, wird es soweit sein und dann wird sie vor mir stehen und ich werde sie fragen, ob sie mich heiraten will. Und sie wird mich mit ihrem eigenen, hinreißenden Lächeln ansehen und das wird der Beginn eines neuen Lebens sein!

Wände stürzten auf ihn ein, Pferde galoppierten auf ihn zu, überrannten ihn. Die Kutschenräder holperten über ihn hinweg, begruben ihn bei lebendigem Leib auf der Straße. Dann war da plötzlich Suzie. Sie stand über ihm und trug nur eine weiße, mit Spitzen besetzte Corsage...dieselbe, die sie auch bei ihrem zweiten Treffen vor einer Wochen getragen hatte. Wie schön sie aussah, wie unglaublich attraktiv und erregend! Sie hatte sich gefreut, ihn wiederzusehen und diesmal hatte er gleich gewusst, was er von ihr haben wollte. Sie hatte ihn mitgenommen, hinauf in ihr Zimmer und diesmal war es anders, intensiver und noch schöner gewesen. Hugh lächelte. Er wollte die Hand nach ihr ausstrecken, doch in dem Augenblick, da er sie berührte, löste sie sich in Luft auf und an ihre Stelle trat... Ein Offizier stand mit einem Mal über ihm, brüllte zu ihm hinab, er solle gefälligst aufstehen und nicht faul herumzuliegen. Er solle sofort die restlichen Kutschen anspannen, damit sie von hier fort kämen. Erschrocken wollte Hugh aufspringen, dem Befehl Folge leisten, doch er konnte nicht, nicht ein Glied seines Körpers gehorchte ihm. Jede Bewegung war unmöglich und er wartete angstvoll darauf, was dieser ihm völlig unbekannte Soldat nun mit ihm anstellen würde...

„Er ist entsetzlich unruhig!“, rief Luise verzweifelt durch die offene Tür hinunter, was Julie dazu veranlasste, ihr Abendessen stehenzulassen und die Stufen der Treppe hinaufzurennen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie verfing sich fast in einem der Unterröcke und stieß ein leises Schimpfwort aus, das ihre Mutter zwar hörte, aber geflissentlich ignorierte.

„Er redet ununterbrochen wirres Zeug, das ich kaum verstehe und wenn, dann begreife ich nicht, was es bedeuten soll“, sagte Luise stattdessen und legte ihre Hand auf die Stirn ihres ältesten Sohnes.

„Das Fieber ist wieder gestiegen“, erkannte Julie auf einen Blick und griff nach Hughs Handgelenk, um den Puls zu fühlen. „Schnell und unregelmäßig“, stellte sie sachlich fest. „Lass uns Wadenwickel machen und ihm wieder Tee einflößen!“

„Gut, wenn du meinst, lass es uns versuchen.“ Luise richtete sich auf. Sie war nun doch sehr froh, ihrer Tochter nicht verboten zu haben, Doktor Retzner in der Praxis zu helfen. So verstand sie ein wenig von Heilkunde und wusste wenigstens gleich, was gut oder schlecht für Hubert sein würde. Seit drei Tagen lag er nun hier, in diesem Dämmerzustand zwischen Delirium und Wachphasen, zwischen Genesung und hohem, lebensgefährlichem Fieber.

„Sie müssen Geduld haben“, hatte Doktor Retzner ihnen erklärt. „Der Körper muss erst Abwehrstoffe bilden, vorher kann er nicht gesund werden. Diese Zeit müssen Sie ihm einräumen.“ Und auf Luises Frage, wie lange das dauern könnte, hatte er nur die Schultern heben können: „Vielleicht eine Woche, vielleicht auch vier, das hängt davon ab, wie schlimm es ihn erwischt hat. Das aber sehen wir erst im Laufe der nächsten Tage.“

Die Sonne kam hinter den grauen Regenwolken hervor und spiegelte sich in den unzähligen Pfützen und Teichen, die sich überall auf der Wiese und rund um die Kirche gebildet hatten. Endlich schien das schlechte Wetter gegen den Frühling und die steigenden Temperaturen verloren zu haben.

Nikolaus hüpfte die Hauptstraße der Stadt hinab, in der sie nun doch länger als ursprünglich geplant hatten bleiben müssen. Der schmächtige, braunhaarige Junge sprang über eine Pfütze und überquerte die Straße. Die Schule war wieder einmal geschafft und nun hieß es, Miklós im Stall und bei den Pferden zu helfen, eine Arbeit, die er sehr viel lieber tat als zur Schule zu gehen und zu lernen. Er liebte den Geruch der großen, kräftigen und doch so sanften Tiere und die Art, wie der kleine Ungar ihn lehrte, mit ihnen umzugehen.

Der Platz, auf dem das Lager der Auswanderer errichtet worden war und die Scheune sich befand, stand fast gänzlich unter Wasser. Bei jedem Schritt gab die durchweichte Erde unter ihm nach und er spürte die Nässe durch seine Lederschuhe. Nikolaus rannte, um die Pfützen und Teiche hinter sich zu lassen. Keine zwei Stunden später war er mit seiner vertrauten Arbeit fertig und er lief denselben Weg zurück. Er wusste, dass er spät dran war und dass seine Mutter wieder böse mit ihm sein würde. Umso weniger achtete er darauf, wohin er seine Füße setzte. Einmal rutschte er aus, als er die Brücke über den Hochwasserführenden Fluss gerade hinter sich gebracht hatte, doch er tat sich nicht weh und so achtete er auch nicht weiter auf seine Kleidung, an der nun Schlamm klebte. Schließlich erreichte der Junge das Pfarrhaus. Er stieß die Tür auf und sprang ins Innere.

„Wie siehst du denn aus?“ Der Aufschrei seiner Mutter ließ ihn zusammenzucken. „Sofort ziehst du dir die Schuhe aus und stellst sie vor die Tür und später wirst du sie saubermachen! Ach, jetzt sieh nur, was du für Dreck mit hereingebracht hast!“

„Entschuldigung“, murmelte Nikolaus betreten und entledigte sich seiner mit Erdklumpen behafteten Stiefel.

„Und dann setz dich hin und iss“, befahl Luise streng, während sie seinen Teller nahm und ihn mit der Erbsensuppe füllte.

Nikolaus verzog das Gesicht, doch er beschwerte sich nicht, sondern tat, wie ihm befohlen und begann zu essen.

„Hubert?“, rief Luise nach oben und horchte. „Willst du auch noch ein wenig etwas haben? Du musst bald wieder bei Kräften sein, vergiss das nicht!“ Sie wartete.

Oben, in seinem Zimmer, richtete ihr ältester Sohn sich langsam ein wenig auf, sodass er sich auf die Ellenbogen stützen konnte. Ihm schwindelte, doch er versuchte tapfer, das Gefühl zu ignorieren.

„Ja“, rief er leise zurück. „Aber bitte nicht zu viel!“

Es ging nur allmählich aufwärts mit ihm, nur ganz langsam hatte sich sein Zustand in der vergangenen Woche gebessert. Er hatte fast zehn Kilo verloren, was ihn völlig abgemagert erscheinen ließ und er fühlte sich auch schwach und noch weit von seiner alten Form entfernt. Seit fast drei Wochen lag er nun hier und hatte nichts außer Pfefferminztee zu sich nehmen können, aber er lebte. Die Lungenentzündung war überstanden und nun musste er zusehen, dass er schnellstmöglich wieder zu Kräften kam. Jeden Tag konnte der Aufbruch mit einem Wagentreck gen Westen bevorstehen und er konnte nicht zulassen, dass seine Familie sich diesem nicht anschließen konnte, weil er noch nicht wieder stark genug war.

Luise brachte ihm eine Schale mit Suppe nach oben und Hugh richtete sich vollends auf, um sich gegen die Wand, hinter dem Bett zu lehnen. Ohne Stütze sitzen konnte er noch nicht, dazu war er noch zu schwach.

„Hardy wird nachher noch einmal vorbeischauen“, bemerkte Luise, während sie ihm die Schale und den Löffel reichte. „Geht es?“, fragte sie zärtlich und wollte ihm zur Hand gehen, doch Hugh winkte hastig ab.

„Natürlich geht es! Keine Sorge! So weit bin ich schon wieder auf dem Damm!“

Er wollte sich nicht bemuttern lassen, dazu fühlte er sich zu erwachsen. Außerdem glaubte er wirklich, es ginge ihm schon wieder viel besser, dank der Hilfe und hervorragenden Betreuung von Doktor Retzner. Jeden Tag sei er hier gewesen, hatte Julie ihm berichtet und immer wieder hätte er andere Medikamente ausprobiert, die er von Doktor Stankovski erhalten habe und doch hätte es alles nichts geholfen.

Aber ich lebe ja noch, dachte Hugh erleichtert und aß langsam die heiße Suppe. Ich lebe und werde überleben und ich werde Oregon sehen und wir werden dort ein eigenes Häuschen besitzen.

Bei dem Gedanken lächelte er vor sich hin. Die Vorstellung ließ ihn Vorfreude verspüren und er malte sich bereits aus, wie ihr Haus sein müsste, dann jedoch kam ihm ein ganz anderer Gedanke. Wie oft hatte er während dieser Fieberphasen an Suzie denken müssen, wie oft war sie vor seinem Auge erschienen und er hatte sich gefragt, ob sie wohl wusste, dass er hier lag. Sie bedeutete ihm etwas, auch wenn er kaum annehmen durfte, dass sie dasselbe für ihn empfand. Für sie war er vermutlich nichts weiter, als eine Nummer in der Liste ihrer Freier. Nur ein junger Mann, der ihr Geld dafür bezahlte, damit sie mit ihm schlief, damit er an ihr seine Triebe ausleben konnte. Er schluckte. Niemals durften seine Eltern davon erfahren, dass er – ihr ältester Sohn, christlich erzogen – bei einer Prostituierten gewesen war und das nicht nur einmal.

Die Suppe schmeckte ihm plötzlich nicht mehr, doch Hugh zwang sich, sie hinunterzuwürgen. Den einzigen, den er dafür verantwortlich machen konnte, war er selbst. Er ganz allein trug die Schuld daran, dass es geschehen war, weil er seine Wallungen und seine Begierden nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Am liebsten hätte er es rückgängig gemacht – und andererseits doch auch nicht. Es waren zwei herrliche, wundervolle Nächte gewesen und er war Suzie dankbar, dass sie ihm erlaubt hatte, sich an ihrem Körper zu vergnügen. Er senkte den Kopf. Irgendwann würde er ihr das sagen. Vielleicht an dem Tag, an dem sie St. Louis wieder verlassen würden, um weiter nach Westen zu ziehen.

Die Sonne besaß trotz der frühen Tageszeit bereits eine ungewöhnliche Kraft und Wärme. Langsam schlenderte Julie neben Doktor Retzner über die Brücke des einstigen Flüsschens, das mit dem Regen der vergangenen Wochen gefüllt nun mehr an einen reißenden Strom erinnerte. Sie wollten sich ein wenig im Lager umsehen und sich um ein paar Kranke kümmern.

„Kaum zu glauben, dass es eine solche Menge Wasser auf einmal geben kann“, meinte der Österreicher und betrachtete mit gerunzelter Stirn den rauschenden, gurgelnden Fluss, der sich unter ihnen seinen Weg durch die Erde pflügte.

Julie musste lachen. „Wenn der Matsch erst einmal getrocknet ist und der Sommer kommt, wären die Leute bestimmt froh, wenn sie so viel Wasser hätten!“

„Das stimmt wohl“, musste Doktor Retzner ihr recht geben. „Im August ist er höchstwahrscheinlich ausgetrocknet.“

Eine Menschenansammlung hatte sich zwischen einigen Zelten und Wagen gebildet. Alle redeten durcheinander, einige schimpften, andere hoben hilflos die Schultern.

„Was ist denn da los?“ Alarmiert schlug Doktor Retzner diese Richtung ein und Julie beeilte sich, ihm zu folgen. Nicht nur deshalb, weil sie neugierig war, was dort vor sich ging, sondern auch, weil es durchaus sein konnte, dass ihre Hilfe benötigt wurde. Julie fühlte sich ausgesprochen nützlich umd wichtig, seitdem sie so viel über die Pflege von Kranken gelernt hatte und mit einer verantwortungsvollen Aufgabe betraut war. Ihr war bewusst, wie enorm sie sich in den vergangenen Monaten weiterentwickelt hatte und dass sie sich fast wie eine ausgebildete Schwester fühlen durfte. Sie erblickte Miklós zwischen den Wartenden.

„Was ist los?“, wollte sie von ihm wissen.

Der Ungar seufzte und zuckte die Schultern. „Nichts Schlimmes. Es sein bloß so, dass bald wir werden weiterziehen. Sehr bald sogar, ich fürchte!“

Julie und Doktor Retzner wechselten einen schnellen Blick. „Wo ist dieser Engländer, der uns hierhergebracht hat?“

„Er wird nicht mehr weiter mit uns fahren“, erklärte der Ungar. „Er hierbleibt, aber das...“ Er deutete auf einen großen, dürren Mann, der nur wenige Meter zwischen den anderen stand. „Das ist ab jetzt unser Führer. Er nennen sich Charlie.“

„Was?“ Doktor Retzner starrte Miklós an. „Das ist nicht dein Ernst! Und wie soll er heißen?“

„Charlie“, wiederholte der Ungar und nickte heftig mit dem Kopf. „Und das mit großem Ernst!“

„Charlie, schön.“ Der Österreicher seufzte. „Und weiter?“

„Nix weiter“, erklärte Miklós. „Er nur heißen Charlie.“

„Aha!“ Doktor Retzner verzog den Mund. „Na, von mir aus. Hauptsache, er bringt uns nach Oregon!“

„Übermorgen, wenn die Sonne aufgeht, brechen wir auf!“, hörten sie ihren neuen Treckführer nun erklären, der sie von nun an leiten sollte. Er sprach mit verzerrtem, undeutlichem Akzent, als habe er den Mund voller Kieselsteine und mit dem selbst Julie ihre Probleme hatte. „Das heißt, ihr habt morgen noch genug Zeit, euch um eure Wagen und die Zugtiere zu kümmern! Lasst die Pferde neu beschlagen, wenn es sein muss und repariert, was repariert werden muss! Wenn wir erst auf dem Weg sind, habt ihr dazu nur noch schwer Gelegenheit!“ Er holte weit mit dem Arm aus und deutete hinter sich, nach Westen. „Dort, meine lieben Freunde, dort draußen gibt es nicht mehr viel, außer Wildnis! Ein paar einzelne Städte, ein paar Ranches und Siedlungen – mehr nicht und alle liegen über viele Meilen verstreut! Also, seht zu, dass Tiere und Wagen euch durch dieses Land bringen können! Ihr seid ganz allein dafür verantwortlich! Ich kenne bloß den Weg, mehr nicht und wer bis übermorgen nicht fertig ist, den lasse ich zurück! Ich nehme niemanden mit, der nicht anständig gerüstet ist!“

 

Ein Murmeln und auch Schimpfen ob so viel Unverschämtheit ging durch die Menge. Die meisten sprachen mittlerweile gut genug Englisch, um das zu verstehen, was er ihnen mitgeteilt hatte.

„Übermorgen?“, fragte Julie und ein Schreck durchfuhr sie. Sie fasste Doktor Retzner am Handgelenk. „Aber...was wird aus Hugh? Er wird eine solche Anstrengung noch nicht schaffen!“

Der Österreicher seufzte tief, während sich seine Stirn in bedenkliche Falten legte. „Wir müssen den Frühling und den Sommer nutzen, um so weit als möglich vorwärts zu gelangen.“ Er überlegte kurz. „Er wird im Wagen mitfahren müssen und jemand anderer wird seinen Platz einnehmen und zu Fuß gehen...“

„Das werde ich tun!“, entschied Julie sofort. „Nikolaus ist zu klein und Mutter hält das auch nicht durch, aber, wenn ich meinen Rock anziehe, Sie wissen schon, den zum Reiten und die Stiefel dazu, dann...“

„...dann wird mich Euer Vater vor aller Augen erschießen“, vollendete Doktor Retzner voller Sarkasmus und verzog das Gesicht. „Ich halte das für keine sehr gute Idee!“

„Aber ich!“, rief Julie störrisch und raffte ihre Röcke. „Er wird es einsehen müssen, wenn er nicht Huberts Gesundheit aufs Spiel setzen will oder vielleicht sogar sein Leben und das tut er ganz bestimmt nicht! Niemals! Verlassen Sie sich nur auf mich!“

Doktor Retzner ächzte leise. „Hoffentlich“, murmelte er, nur zu sich selbst. „Hoffentlich täuschen Sie sich da nicht, Julie-Mädchen!“

Diese jedoch hörte ihn nicht mehr, denn sie war bereits losgestapft durch den Morast und die Pfützen, zurück Richtung St. Louis, um ihren Eltern und Brüdern die Nachricht zu verkünden, sofern Friedrich und Nikolaus schon zu Hause waren. Und dann würde sie in die Praxis laufen und ihre Lieblingskleidung waschen. Oh, wie freute sie sich! Raus aus diesen unpraktischen, nervtötenden Unterröcken, die nur schwer und umständlich waren und andauernd im Weg umgingen! Raus aus diesen Schnürstiefeln, die so unbequem waren, dass sie sie geradezu verteufelte! Ha, was würden ihre Eltern für Augen machen! Sie in einem knöchellangen Reitrock, der zwischen den Beinen wie Hosen getrennt war, und dazu in Cowboystiefeln – nie zuvor hatte sie erfahren, welch herrliche Freiheit solche Kleidung bedeutete. Welch entzückende Aussichten! Julie strahlte in sich hinein. Entschlossen schritt sie vorwärts. Jawohl, überraschen würde sie ihre Familie! Übermorgen früh würde sie eher aufstehen als die anderen und wenn sie dann nachkamen – voilá! Was würden sie für Augen machen! Das Risiko einer Bestrafung würde sie auf sich nehmen. Diesmal stand sie auf der vernünftigen Seite, auf der des Siegers und sie würde gewinnen! Dieses Mal würde sie nicht dulden, dass ihr Wille gebrochen wurde, diesmal nicht!

Schon in aller Früh am nächsten Morgen, kaum, dass es hell genug war, um die Hand vor Augen erkennen zu können, erklangen die ersten Hammerschläge von der Scheune her. So gut wie alle Pferde benötigten neue Hufeisen und Miklós und ein weiterer Ungar hatten alle Hände voll zu tun, wenn sie bis zum Abend damit fertig werden wollten. Die beiden waren die einzigen, die dieses Handwerk gut genug beherrschten, um die Pferde für die lange, unvorstellbar harte Reise vorzubereiten. Auch viele der restlichen Auswanderer, die bisher nicht zu ihnen gehört hatten, machten sich daran, ihre Kutschen auf Vordermann zu bringen und ihre Zelte abzubrechen, in denen sie die vergangenen Wochen zugebracht hatten. Sie wollten sich ihrem Treck anschließen und nicht länger in St. Louis herumsitzen und auf den nächsten warten. Vor allem die Leinenstoffe der Planwagen hatten mit all der Nässe an manchen Stellen Risse und Löcher bekommen, die geflickt werden mussten. Die Räder brauchten Schmiere und die Geschirre der Pferde mussten gereinigt und gefettet werden.

Doktor Retzner packte seine Instrumente zusammen und verabschiedete sich von seinem Kollegen Stankovski, der ihn nur äußerst ungern ziehen ließ. Außerdem steckte er Julies frisch gewaschenen Reitrock und die glänzend geschrubbten Stiefel ein, um sie ihr zu bringen, auch, wenn er es noch immer für keine sehr glückliche Idee hielt. Danach würden Friedrich und Nikolaus ihn bei den Mulis und dem Wagen brauchen und somit wäre der restliche Tag damit zugebracht, ihre Weiterreise vorzubereiten.

Die Stunden flogen dahin, bald wurde es Mittag, dann Abend. Ein kalter Wind kam auf und trieb dunkle Wolken über sie hinweg, ehe die Dämmerung einsetzte und auch die letzten Verbliebenen ihre Arbeiten einstellen mussten. Ein letztes Mal half Nikolaus beim Misten der Ständer, was ihn ein wenig traurig werden ließ. Auch Miklós schwieg an diesem Abend und erzählte keine seiner Geschichten.

Friedrich und Hardy Retzner kontrollierten noch einmal die Waagscheite und Deichsel ihres Wagens, ehe sie sich auf den Weg zum Pfarrhaus und zum Abendessen machten. Diese Nacht würde der Österreicher bei ihnen in der Küche schlafen, damit er keinesfalls den Aufbruch verpasste. Die beiden Männer schlenderten nebeneinander her, jeder in seine Gedanken versunken. Hier und dort brannte eine Lampe vor einem der Häuser, ansonsten herrschte eine geradezu andächtige Stille, als wüsste jeder in der Stadt, dass es nun erstmal wieder ruhiger werden würde, ohne die Neuankömmlinge vor den ersten Häusern. Allerdings würde der Zustand nicht lange andauern und bald würden die nächsten Trecks aus dem Osten die letzte Station vor dem unendlich erscheinenden, ungezähmten Westen der Vereinigten Staaten erreichen und alles würde wieder von vorn beginnen: Einige wenige blieben, doch die meisten zog es weiter, in der Hoffnung, auf bessere Bedingungen oder Bodenschätze, auf ein Stück gutes Land, eine eigene Ranch.

„Heute hat dieser Charlie schon die erste Rate, wie er es nennt, kassiert“, bemerkte Friedrich auf einmal und verschränkte die Hände auf dem Rücken.

„Die Rate?“, fragte Doktor Retzner ahnungslos. „Wofür eine Rate?“

„Na, seinen Lohn dafür, dass er uns weiter nach Oregon bringt!“, erwiderte Friedrich ungeduldig und schüttelte kurz den Kopf über so viel Begriffsstutzigkeit. „Für den Weg, der uns noch bevorsteht, damit er auf uns achtet, damit uns nichts zustößt! Allmählich frage ich mich, ob wir diesen Trail nicht auch alleine gefunden hätten!“

„Ah, geh!“ Der Österreicher machte ein ungläubiges Gesicht. „Das kann er doch nicht machen!“

„Natürlich kann er!“, entgegnete Friedrich. „Oder denken Sie, er bringt uns zu seinem Vergnügen über die Rocky Mountains? Nein, nein, schön wäre es gewesen!“

„Wieviel wollte er denn?“

„Fünf Dollar pro Familie!“ schnaubte Friedrich entrüstet. „Stellen Sie sich vor, fünf Dollar! Wenn Hubert nicht das Geld bei der Eisenbahn verdient hätte...gar nicht auszudenken!“

„Da werden wohl einige Siedler auf halber Strecke liegenbleiben oder sie stehen bei diesem Herrn in der Kreide“, kommentierte Doktor Retzner trocken.

„Ich hab’ einem jungen Ehepaar aus Norwegen ebenfalls die Rate bezahlt“, erzählte Friedrich bedacht. „Sie hätten sonst wohl ihren Wagen verkaufen und damit entweder hier zurückbleiben oder zu Fuß gehen müssen.“