Wind über der Prärie

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„Trotzdem bin ich dagegen“, warf Luise energisch ein. „Sie ist ein Mädchen, das noch nicht einmal einen Haushalt führen könnte, wenn sie erst einmal ins heiratsfähige Alter kommt!“

„Ich bin bereits im heiratsfähigen Alter!“, stieß Julie trotzig hervor. Wieder passierte das, was sie am meisten an sich selbst fürchtete – sie konnte ihr vorlautes Mundwerk nicht beherrschen. „Auch wenn ich nicht vorhabe, mich an einen Mann zu ketten!“

„Juliane!“ Friedrichs Faust krachte auf den Tisch. „Was sind denn das für Reden? Nie wieder will ich etwas Derartiges von dir hören, haben wir uns verstanden? Jede Frau hat irgendwann zu heiraten und dafür zu sorgen, dass viele, gesunde Kinder das Licht dieser Welt erblicken!“

„Ja, Vater“, murmelte das junge Mädchen demütig und biss sich auf die Lippen. Sie war wütend auf sich selbst, aber noch wütender auf die Tatsache, nur ein Mädchen zu sein, dem so viele Grenzen aufgezeigt wurden.

Eine lange Pause trat ein. Schließlich wagte Doktor Retzner es, sich als erster weiter zu dem angesprochenen Thema zu äußern: „Vielleicht täte es Ihrer Tochter einmal ganz gut, wenn sie eine verantwortungsvolle Aufgabe übertragen bekäme und eine Arbeit, bei der sie gefordert wird.“

„Hmm“, knurrte Friedrich missmutig und fixierte seine Tochter scharf. „Sie meinen, sie bräuchte einmal jemanden, der ihr zeigt, dass es für eine Frau besser ist, Zuhause zu bleiben?“

„So in etwa“, erwiderte Doktor Retzner eilig. Er warf Julie einen kurzen, mahnenden Blick zu. „Es wäre mir allerdings ganz recht, wenn Sie sich möglichst schnell entscheiden könnten, denn sonst werde ich mich auf die Suche nach einer anderen Dame machen, auch wenn ich weiß, dass keine so gut geeignet wäre, wie Ihre Tochter.“

„Und was ist mit der Hausarbeit?“, wollte Luise wissen, korrigierte sich jedoch sofort: „Nein, das ist jetzt allerdings unwichtig. Viel entscheidender ist, dass Juliane Ihnen eine Hilfe sein kann, wenn Sie so dringlich eine benötigen!“

„Der Ansicht bin ich allerdings auch!“ Friedrich seufzte tief. „Also, schön!“ Er nickte und reichte Doktor Retzner die Hand. „Ab morgen wird Juliane Ihnen in der Praxis helfen, bis wir uns einem Treck nach Westen anschließen können! Wann soll sie dort sein?“

Überrumpelt starrte der österreichische Arzt ihn für eine Sekunde an. Er hatte nicht mit einer solch schnellen Einigung gerechnet, doch offensichtlich schien der Pastor ihm nicht nur zu vertrauen, sondern ihm seine Tochter sogar sehr gerne in Obhut zu geben.

„Es freut mich sehr!“ Er erhob sich. „Vielen Dank! Und vielen Dank auch für den Tee.“ Dann wandte er sich dem jungen Mädchen zu. „Morgen früh um sieben in der Praxis, damit ich Ihnen schon einmal alles zeigen kann!“

„Natürlich!“, sagte Julie leise und nickte ihm lächelnd zu. Sie konnte es kaum glauben! Ab morgen durfte sie ihm zur Hand gehen und was das Beste war: Sie würde eine Menge neuer Menschen kennenlernen und dazu noch jeden Tag von früh bis spät unterwegs sein – ohne ihre Mutter, die ständig an ihr herumnörgelte und sie schimpfte und herumkommandierte – ohne all die lästige Hausarbeit, die sie sowieso verabscheute!

Kaum, dass Friedrich die Haustür hinter Doktor Retzner geschlossen hatte, legte Luise ihre Strickarbeit beiseite. Sie fixierte ihre Tochter mit strengem, unerbittlichem Blick.

„Ich hoffe“, stieß sie leise hervor, „du wirst uns keine Schande bereiten!“

„Nein, Mutter“, antwortete Julie, ohne sie anzusehen. „Natürlich nicht!“

„Ich möchte keine Beschwerden von Hardy hören, dass du dich daneben benimmst und ständig dein Mundwerk aufreißt!“, grummelte ihr Vater leise, während er sich wieder zu ihnen an den Tisch setzte. Es war ihm nicht recht, dass seine Tochter dem Arzt assistieren würde und er sie somit aus seiner führenden Obhut geben musste. Er hoffte im Stillen, aus ihr eines Tages doch noch eine anständige, wohlerzogene junge Dame machen zu können, die einen geeigneten Ehemann für sich finden konnte. Nur Hardy zuliebe hatte er eingewilligt, das war der einzige Grund. Er seufzte. Nein, es war ihm ganz und gar nicht recht.

Jeden Tag, außer Sonntag, ging Julie von nun an zu Doktor Retzner in die Praxis. Sie half ihm bei all seinen Tätigkeiten, lernte Krankheiten zu erkennen und Verbände anzulegen, fuhr mit ihm und der kleinen Kutsche hinaus zu den umliegenden Farmen und da der Boden so matschig war, kamen sie häufig nur langsam voran.

„Lassen wir es gut sein“, entschied der Österreicher an diesem Tag resigniert. Er sprach mit Julie immer Deutsch, wenn sie allein waren, obwohl sie ihn darum bat, es nicht zu tun, denn so würden seine Englischkenntnisse nie besser werden!

„Aber...wir müssen doch hinaus und nach Mrs. O’Sullivan sehen!“, rief Julie verzweifelt, während sie sich an der überdachten Kutsche festhielt, als die beide Pferde stapfend und keuchend umdrehten und die Räder aus dem schmierigen Morast zerrten. Der Wagen schaukelte gefährlich.

„Mit dem Wagen schaffen wir es nicht!“ Doktor Retzner war damit beschäftigt, die Pferde unter Kontrolle zu halten, die – als sie merkten, dass es zurück in Richtung Stadt ging – durchgehen wollten. „Der Boden weicht immer mehr auf mit dem Regen und wenn es so weitergeht, bleiben wir noch irgendwo stecken! Wir müssen reiten!“

„Aber...ich kann doch gar nicht reiten!“, entgegnete Julie wahrheitsgemäß. Sie war ihr Lebtag noch nie auf einem Pferderücken gesessen – ihr Vater hätte es niemals zugelassen. Eine Tracht Prügel hätte sie sich damit eingehandelt, nichts weiter.

Doktor Retzner antwortete nicht sofort, sondern beruhigte zuerst die Pferde. Als diese wieder in gleichmäßigem Trab vorwärtsgingen, wandte er sich dem jungen Mädchen zu. Er atmete tief durch, wobei sich weiße Atemwölkchen vor seinem Gesicht bildeten. Es hatte sich dramatisch abgekühlt.

„Dann müssen wir das ändern. Hier draußen haben Sie sonst keine Überlebenschancen, wenn Sie sich noch nicht einmal im Sattel halten können!“

„Ja, aber...“, wollte Julie protestieren. „Meine Eltern!“

Der junge Arzt winkte ab. „Ah, geh! Die brauchen doch gar nichts davon zu erfahren! Ich gebe Ihnen heimlich Reitstunden und ich hoffe, Sie lernen schnell, denn wir haben nicht ewig Zeit!“ Er überlegte kurz. „Besser gesagt, in einer halben Stunde sollten Sie mit mir hinaus zur Farm der O’Sullivans reiten können!“

Julie wurde blass. Sie schluckte. Du gütiger Himmel, worauf hatte sie sich da bloß eingelassen? Sie konnte doch unmöglich mit ihm einfach hinausreiten, quer über die aufgeweichte Ebene, um Patienten zu besuchen! Was, wenn sie herunterfiel? So ein Pferd war schließlich hoch!

Ihr blieb jedoch keine Wahl. Kaum zurück in St. Louis angelangt, brachte der Österreicher das Gespann und den Wagen zurück in den Mietstall.

„War wohl nichts, was?“, lachte der Eigentümer leise. „Hätte ich Ihnen gleich sagen können, Doktor! Bei dem Morast kommen Sie nur im Sattel durch und das dürfte schon schwierig genug werden!“

„Ja, das sehe ich allerdings auch so“, erwiderte er in erstaunlich gutem Englisch. „Hätten Sie zwei Reitpferde für uns?“

„Selbstverständlich!“, versicherte der Mietstallbesitzer eifrig. „Ich sattle Ihnen gleich zwei meiner Besten!“

„Sie brauchen sich nicht zu beeilen“, sagte Doktor Retzner und fasste Julie am Arm. „Zuerst müssen wir meine Assistentin noch mit praktischerer Kleidung ausstatten!“

„Praktischerer Kleidung?“, wiederholte Julie verständnislos, ließ sich jedoch mit ihm die Straße hinabführen, in Richtung des Damenmodengeschäfts.

„Natürlich! Sie können doch nicht mit diesen fünfzig Unterröcken auf ein Pferd sitzen! Wir sind nicht am kaiserlichen Hof in Wien, wo die Damen in schicken Kleidchen durch den Park promenieren! Das hier ist Amerika!“

„Ja, aber...“ Julie wusste zwar nicht, wovon er sprach, doch sie spürte, dass es nichts sein konnte, mit dem ihre Eltern einverstanden wären.

„Ruhe!“, entschied Doktor Retzner. „Ich habe das bereits entschieden!“ Und er zog sie durch die Eingangstür des Damenmodengeschäfts.

Als sie dieses keine zehn Minuten später wieder verließen, musste zuerst der Österreicher durch die Türe und nachsehen, ob jemand unterwegs war, den sie kannten.

„Alles klar“, sagte er. „Die Luft ist rein, niemand da!“

Vorsichtig lugte Julie durch die Tür, sich selbst noch vergewissernd, dann erst trat sie hinaus ins Freie. Sie kam sich schrecklich unangezogen und nackt vor. Mit mulmigem Gefühl in der Magengegend blickte sie an sich hinunter. Der knöchellange Reitrock und die hohen Stiefel dazu waren ihr fremd und es fühlte sich eigenartig an, den dicken Webstoff bei jedem Schritt zwischen den Beinen zu haben.

„Das steht Ihnen, Julie-Mädchen“, fand Doktor Retzner lächelnd und bot ihr galant den Arm. „Aber jetzt sollten wir uns ein wenig sputen! Wir haben noch einen weiten Weg vor uns!“

Julie hatte damit gerechnet, dass es nicht ganz einfach sein würde, sich im Sattel eines Pferdes zu halten, doch dass es so holprig und unsanft sein würde, versetzte sie nun doch in Angst und Schrecken. Der Erdboden schien entsetzlich weit entfernt zu sein. Tapfer stapfte ihr Pferd hinter dem von Doktor Retzner her, den schmierigen Fahrrillen folgend, die viele Kutschen auf dem Weg hinterlassen hatten. Julie fragte sich, woher er wissen wollte, dass sie sich nicht schon verirrt hatten, während sie mit einer Hand die Zügel festhielt und mit der anderen das Sattelhorn umklammerte. Das gab ihr ein vermeintlich sicheres Gefühl, sich zumindest im Notfall irgendwo halten zu können.

„Na, alles in Ordnung?“, rief er von Zeit zu Zeit nach hinten und jedesmal antwortete Julie mit einem „Ja, ja!“, was zwar nicht ganz stimmte, aber immerhin dazu führte, dass er weiter ritt. Ihr Hintern schmerzte und sie verspürte große Sehnsucht nach festem Boden unter den Füßen. Sie betete zu Gott, er möge nicht zulassen, dass ihre Eltern sie in diesem Aufzug zu sehen bekamen und dazu noch auf einem Pferd sitzend wie ein Mann – mit einem Bein rechts und dem anderen links. Eine Sünde wäre das wohl in den Augen ihres Vaters auf jeden Fall und sie wollte sich die Konsequenzen für ihr Handeln lieber gar nicht ausmalen.

 

Der April verging und Julie hatte ausschließlich in den Sattel eines Pferdes zu steigen, wenn sie nach einem Patienten sehen musste, nachdem Doktor Retzner herausgefunden hatte, wieviel praktischer und schneller das ging, anstatt mit einer Kutsche zu fahren. Zu Anfang hatte sie mit dem Gedanken gespielt, deswegen nicht mehr in der Praxis zu helfen, doch mit jedem Mal fühlte sie sich dabei sicherer. Sie fand bald heraus, wie sie das Pferd am einfachsten schneller und langsamer werden ließ, es nach rechts oder links lenken konnte. Es dauerte nicht lange, bis sie nicht nur keine Angst mehr davor hatte, in den Sattel zu steigen, sondern es sogar gerne tat, sehr gerne! Sie ließ ihren Reitrock und die Stiefel in einem Hinterzimmer der Praxis, wo sie sich umziehen konnte, damit ihre Eltern keinen Verdacht schöpften. Jeden Morgen verließ sie das Pfarrhaus in ihren Röcken und einer Bluse und bisher schienen sie wirklich nichts von dem zu bemerken, was sie so alles anstellte.

„Ich muss sagen“, bemerkte Doktor Retzner an einem Donnerstag, Anfang Mai. „Diese Reitsachen stehen Ihnen wirklich ausgezeichnet, Julie-Mädchen!“

Sie lächelte und spürte, wie sie errötete. Es war das erste Mal, dass sie von einem Mann ein Kompliment wegen ihres Aussehens erhielt.

„Danke sehr“, erwiderte sie leise und starrte auf ihre Stiefelspitzen hinab. „Ich werde Ihnen das Geld dafür geben, sobald ich es habe und...“

„Nein!“, fiel der Arzt ihr entschieden ins Wort. „Das ist mein Dank für Ihre Hilfe! Ich schenke sie Ihnen! Ich will kein Geld dafür!“ Er lächelte über ihr verblüfftes Gesicht. „Ich habe Ihrem Vater übrigens nach dem Gottesdienst am vergangenen Sonntag erzählt, wieviel Sie gelernt haben und welch ungeheure Hilfe Sie mir sind. Ich glaube, er war sehr stolz.“

„Oh“, machte Julie und fühlte sich ausgesprochen geschmeichelt. „Aber er ist bestimmt nicht mehr stolz, wenn er mich auf einem Pferd reiten sieht, wie einer der Cowboys!“

„Ach was!“ Doktor Retzner winkte ab. „Das findet er doch nie heraus! Wie denn auch?“

Unsicher hob Julie die Schultern. Sie musste sich eingestehen, wirklich sehr viel neues Wissen aufgenommen zu haben in den vergangenen Wochen – mehr Nützliches, als in der Schule. Sie konnte Verbände wechseln, anlegen und einfache Diagnosen wie Mandelentzündung oder Grippe stellen. Sie kannte die Begriffe der einzelnen Instrumente und konnte sie Doktor Retzner reichen, wenn er eines davon benötigte. Oft nahm sie auch eines seiner medizinischen Bücher mit nach Hause, in denen sie dann las – auch, wenn ihre Mutter das nicht gerne sah.

„Da stehen Dinge drin, die nicht gut sind für ein junges Mädchen“, hatte sie ihr erklärt, doch Julie begriff nicht, was sie damit meinte und sie hatte es bisher auch nicht gewagt, ihre Mutter danach zu fragen. Es hätte vermutlich auch wenig Sinn gemacht. Ihre Mutter sprach immer nur dann über Dinge, die ihr unangenehm waren, wenn es keinen anderen Ausweg gab.

„Heute habe ich mir überlegt, dass es Zeit ist, Sie in die Dinge einzuweisen, für die ich Sie am meisten gebrauchen kann, Julie!“ Die warme Stimme mit dem österreichischen Akzent riss sie aus ihren Gedanken.

„Ja?“, fragte Julie vorsichtig und legte abwartend den Kopf schief.

„Ja“, bestätigte Doktor Retzner und lehnte sich an den Behandlungstisch. Es würde nicht ganz einfach für ihn werden und er überlegte schon seit Tagen, welche Worte wohl die richtigen wären. „Und zwar deshalb, weil Sie eine Frau sind und Frauen fühlen sich unter gewissen Umständen bei einer Frau besser aufgehoben, als bei einem Mann.“

„Unter...gewissen Umständen?“

Doktor Retzner schmunzelte. „Ganz recht! Haben Sie sich das Buch angesehen, dass ich Ihnen mitgegeben hatte?“

Julie blickte auf ihre kleine Ledertasche hinab, die sie immer bei sich trug. Er hatte sie ihr gegeben und alles darin untergebracht, was sie gebrauchen konnte und was er in der Praxis bereits liegen hatte und somit entbehren konnte.

„Ich...ich bin nicht sehr weit gekommen“, gab sie gedehnt zu. „Dann hat meine Mutter mir verboten, weiterzulesen.“

„Hmm“, machte Doktor Retzner und kratzte sich nachdenklich am Hals. Er hatte befürchtet, dass ihre Eltern auf diese Art reagieren würden oder womöglich noch schlimmer, wenn sie den Inhalt des Buches genauer betrachteten, aber es half nichts. Wenn sie über die natürlichsten Vorgänge in ihrem Leben nicht Bescheid wusste und keine Ahnung hatte, was in ihrem Körper vor sich ging, konnte er sie auch nicht zu einer Gebährenden schicken.

„Also gut“, meinte er schließlich. „Dann lassen Sie uns das gemeinsam ansehen. Ich verstehe die Bedenken Ihrer Eltern. Unter normalen Umständen dürften Sie dieses Buch tatsächlich nur dann lesen, wenn Sie bereits verheiratet wären und ein Kind bekommen hätten. So jedenfalls ist es bei uns geregelt: Keine Frau darf eine Ausbildung zur Hebamme machen, wenn sie nicht weiß, wovon sie spricht und das, nun...“ Er hüstelte und rang um die richtigen Worte. Es wäre tatsächlich einfacher gewesen, wenn sie zumindest im Ansatz wüsste, was zwischen Männern und Frauen alles vor sich ging. „Nun ja“, fuhr er schließlich fort. „Dies hier sind besondere Umstände, in diesem Land ist alles ein wenig anders und die medizinische Versorgung ist längst nicht so gut gewährleistet, wie in der alten Heimat. Da kann man nicht immer darauf Rücksicht nehmen, was eine junge, unverheiratete Frau wissen darf und was nicht.“

Bereitwillig und neugierig zugleich öffnete Julie die Tasche und holte das dünne Buch heraus. Das schien ja ein ganz schwieriges Thema zu sein, wenn sogar er ihr eine derartige Rede hielt! Sie reichte es Doktor Retzner, der kurz darin blätterte und die entsprechende Seite aufschlug.

„Hier“, sagte er und schob es ihr auf dem Behandlungstisch zu. „Das hier müssen Sie wissen.“

Julie betrachtete die beiden, auf der Doppelseite abgebildeten Zeichnungen und schluckte, peinlich berührt – sie stellten eine nackte Frau und einen nackten Mann dar, doch in ihrem Bäuchen waren seltsame Kringel und Kreise und Linien eingezeichnet.

„Das da“, fuhr Doktor Retzner im sachlichen Tonfall eines strengen Schulmeisters fort, „ist das, was diese Menschheit nicht aussterben lässt – die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane.“

Regungslos starrte Julie auf die Abbildungen. Sie wagte weder, den Blick zu heben, noch richtig zu atmen. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und wartete. Hier öffneten sich ihr ganz neue Ansichten über das Leben und die Dinge, die darin geschahen. Sie spürte, wie nervös Hardy Retzner mit jedem weiteren Satz wurde und hoffte, er würde nicht doch von seiner Idee abkommen, sie in die tiefsten Geheimnisse der Menschheit einzuweihen.

Der Doktor griff zu einem Bleistift und deutete auf jedes einzelne Organ, das in den beiden Körpern eingezeichnet war. Er benannte sie beim Namen und erläuterte ihre Funktion und mit jeder Minute, die verstrich, glaubte Julie, verschlimmerte sich ihr Schwindel. Sie tastete nach dem Behandlungstisch, um sich daran festzuhalten. Ihr Herz schlug laut und deutlich unter ihren Rippen, während Doktor Retzners Worte mehr und mehr Licht in den unerfindlichen Vorgang des Kinderkriegens brachte.

„Waren Sie je dabei, wenn Ihre Mutter eines ihrer Geschwister zur Welt gebracht hat?“, fragte er plötzlich.

Irritiert hob Julie den Kopf. Seine sanften, grünen Augen betrachteten sie mit einem verständnisvollen Lächeln.

„N...nein“, stotterte sie zerstreut und räusperte sich. „Wir sind immer zu Nachbarn geschickt worden, bis...bis sie gesagt haben, der Klapperstorch wäre da gewesen.“

„Der Klapperstorch!“ Doktor Retzner lachte leise auf.

Julie atmete tief durch. Sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie auf dieses neue Wissen reagieren sollte. Nun wurde ihr auch endlich klar, weshalb ihre Mutter zuerst immer einen solch dicken Bauch bekommen hatte. Die Kinder wurden nicht einfach vor der Türe abgelegt. Sie kamen auf ganz andere, ganz natürliche Weise zu Welt – wie alles ganz natürlich war, was mit dem menschlichen Körper zusammenhing. Sie schüttelte kurz den Kopf. Ihre Unsicherheit schwand allmählich und dafür erwachte das wissenschaftliche Interesse an diesem Thema in ihr. Weshalb war das so und nicht anders? Warum hatte die Natur es genau auf diese Weise eingerichtet?

„Eigentlich ist das sehr ungerecht“, sagte sie schließlich, nach einer langen Pause, und schaute Doktor Retzner fest in die Augen. „Wir Frauen müssen die ganze Arbeit leisten.“

Einen Augenblick verschlug es ihm die Sprache über so viel Nüchternheit und Sachverstand, dann lächelte er. Was konnte er darauf schon erwidern? Sie sprach die Wahrheit, mit ihrem unschuldigen, vielleicht ein wenig naiven und kindlichen Vorstellungen von Liebe und Glück.

„Ja, das stimmt.“

„Und diese Blutungen, alle paar Wochen, die haben auch damit zu tun, nicht wahr?“, fragte sie jetzt, ohne Hemmungen. Sie wollte mehr über das erfahren, was sich in ihrem Körper abspielte. Sie wollte wissen, was dort vor sich ging und weshalb.

„Richtig“, bestätigte Doktor Retzner in stiller Bewunderung. Jedes andere Mädchen wäre vielleicht beschämt nach Hause gelaufen, nach allem, über was er jetzt gesprochen hatte, aber sie nicht, nein, nicht Julie Kleinfeld. Sie war anders, offener und mit einem gesunden Menschenverstand ausgestattet und an allem interessiert, was sich ihr an neuen Erkenntnissen bot.

„Wenn eine Frau diese Blutungen einmal nicht mehr bekommt, eine verheiratete Frau, meine ich“, fügte er schnell hinzu, „kann sie mit großer Sicherheit davon ausgehen, guter Hoffnung zu sein.“

„Aha!“, machte Julie und betrachtete die beiden Zeichnungen. Sie konnte sich zwar beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein Säugling durch diese winzige Öffnung aus einer Frau hinauskommen sollte, doch es schien ganz offensichtlich recht gut zu funktionieren. Sie überlegte.

„Haben Sie das alles begriffen?“, wollte Doktor Retzner wissen.

Julie legte den Kopf schief. „Nun ja“, begann sie zögernd. „Fast alles.“

Er lächelte ihr ermutigend zu. „Sie können mich alles fragen, Julie-Mädchen! Was haben Sie nicht verstanden?“

„Um ganz offen und ehrlich zu sein...“ Sie zog unangenehm berührt die Schultern hoch. Es kostete sie einige Überwindung, ihre Frage auszusprechen. Mit jedem Tag der vergeht, dachte sie, versündige ich mich mehr und irgendwann werde ich meinen Eltern nicht mehr in die Augen sehen können. Laut jedoch sagte sie: „Sie haben mir zwar erklärt, wie das Kind in der Gebärmutter heranwächst...“ Sie brach ab.

„Aber?“, hakte Doktor Retzner vorsichtig nach. Er wollte sie nicht drängen und gleichzeitig verlangte sein nüchterner Verstand von ihm, ihr schonungslos alles zu erzählen, auch, wenn er damit vermutlich den Zorn ihrer Eltern auf sich zog, sollten sie es herausfinden. In seiner Überzeugung allerdings besaß auch ein Mädchen das Recht, über die natürlichsten Vorgänge der Menschheit zu erfahren – ganz gleich, in welcher Position die Kirche dazu stand.

Julie schluckte. Es kostete sie einige Überwindung, es auszusprechen. „Aber...nun ja, was ich nicht verstehe ist, wie es dort überhaupt hineinkommt!“

Er erstarrte. Er hatte diesen Punkt absichtlich ausgelassen, in der Hoffnung, sie würde sich die logische Folgerung selbst zusammenreimen. Offenbar tat sie das nicht, konnte es vermutlich auch gar nicht. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Es half nichts, er musste sie darüber aufklären. Er konnte ihr das nicht vorenthalten, wollte er sie nicht bei einer der Frauen in eine peinliche Situation bringen. Natürlich würden die Patientinnen mit ihr anders reden und ihr Dinge anvertrauen, die sie ihm gegenüber vermutlich nicht erwähnten und dann musste sie wissen, worum es sich handelte. Ihm blieb keine Wahl und so nahm er den Bleistift wieder zur Hand und nach einer kurzen Sekunde der Überwindung setzte er ihn auf den entsprechenden Teil der Zeichnung.

„Damit“, stieß er hastig vor, „damit gelangt das Kind in eine Frau und deshalb kann nur durch beide zusammen, durch Mann und Frau, neues Leben gezeugt werden.“

Er fühlte, wie Julie neben ihm den Atem anhielt. Er wusste, dass ihr in diesem Moment sehr vieles klar werden musste und einige Erkenntnisse auf sie einstürzten, mit denen sie vermutlich nicht sofort zurechtkommen würde. Es tat ihm leid, dass er es ihr nicht irgendwie schonender beibringen konnte. Wieviele junge Mädchen hatten nicht den Schimmer einer Ahnung, was sie in ihrer Hochzeitsnacht erwartete! Wieviele böse Überraschungen gab es für sie und genau das wollte er ihr ersparen. Er wollte nicht, dass sie überfallen wurde von einem Vorgang, von dem sie nicht einmal ahnte, dass es ihn gab, erst recht nicht, wenn er ihr Bräutigam sein würde. Die Vorstellung ließ ihn lächeln. Er betrachtete das junge Mädchen, das noch immer da stand, ganz in ihren Überlegungen versunken und auf das Buch hinabstarrte. Am liebsten hätte er sie augenblicklich in den Arm genommen. Wie entzückend sie aussieht, schoss es ihm durch den Kopf, wie ungeheuer süß und einzigartig!

 

„Tun Sie mir einen Gefallen?“, fragte er dann, als sie auch nach einer langen Pause keinen Ton von sich gab.

„Ja, natürlich“, brachte das junge Mädchen leise hervor. Sie fühlte, wie ihr Gesicht heiß und rot wurde.

„Erzählen Sie bitte Ihren Eltern niemals etwas von dem, was ich Ihnen eben erklärt habe! Sie würden es mir vermutlich nie verzeihen!“

Unerwartet trat ein verschmitztes Lächeln auf Julies Gesicht. „Nein“, erwiderte sie leise und warf selbstbewusst den Kopf zurück, um ihn anzusehen. „Das glaube ich allerdings auch nicht!“

Am darauffolgenden Sonntag, nach Friedrichs Predigt, standen noch einige Städter vor der Kirche, wie so häufig nach dem Gottesdienst und unterhielten sich, doch nicht allzu lange, denn es regnete schon wieder und ein kalter Wind pfiff zwischen den Häusern hindurch und über das Land.

„Ein solches Wetter habe ich in Deutschland noch nie erlebt“, gab Julie zu, die langsam mit Doktor Retzner den morastigen Pfad hinab spazierte, der auf die Hauptstraße führte. „Es wird überhaupt nicht besser! Dabei sollten wir längst Frühling haben!“

„Das ist ein anderes Klima hier“, erläuterte der junge Arzt und lächelte. „Ich lese die Zeitung so oft, wie ich dazukomme und darin stand auch einmal etwas über die verschiedenen Wettergebiete dieses riesigen Landes.“

„Wirklich?“ Interessiert schaute Julie ihn an. „Was heißt das?“

„Das heißt“, erklärte er bereitwillig, „dass es in Amerika alles gibt: Grüne Wiesen, weite Wälder, hohe Gebirge und Wüsten, einfach alles! Ist das nicht unglaublich? Und das auf einem einzigen Kontinent!“

Julie versuchte, sich das vorzustellen – eine Wüste neben einer grünen Wiese, doch es wollte ihr nicht recht gelingen. Schließlich nickte sie nur. „Was Sie nicht alles wissen!“

Hinter ihnen kamen Luise und Friedrich mit ihren beiden Söhnen marschiert. Niemand wollte sich zu lange in der regnerischen Kälte aufhalten und sie beeilten sich, ihren Spaziergang heute kurz zu halten, um schnell nach Hause, ins Warme und Trockene zu gelangen. Es war schon seit Jahren zu einer Angewohnheit geworden, jeden Sonntag nach dem Gottesdienst immer noch eine kurze Runde zu Fuß zu gehen. Auch in Deutschland hatten sie das immer getan und dabei öfter zu einem Tratsch bei einem Gemeindemitglied angehalten und die neuesten Ereignisse ausgetauscht. Hier beschränkte sich der Sparziergang auf die Bewegung an der frischen Luft.

„Die beiden sehen sehr vertraut aus“, fand Luise, während sie ihre Tochter und den österreichischen Arzt kritisch beobachtete.

Friedrich schmunzelte. „Keine Sorge! Ich glaube, dass ihre Beziehung rein auf der Basis ihrer Arbeit beruht!“

„Hoffentlich!“, kommentierte seine Frau und runzelte bedenklich die Stirn. „Mit seiner Bildung wird er ja hoffentlich vernünftig genug sein und die Finger von ihr lassen!“

„Aber Luise!“, raunte Friedrich kopfschüttelnd und warf einen Blick über seine Schulter zurück, doch weder Hugh noch Nikolaus schienen etwas von ihrem Gespräch gehört zu haben, denn sie schuppsten sich gegenseitig umher. „Hardy ist ein anständiger Kerl! Er würde Juliane niemals unsittlich nahetreten!“

Seine Frau lächelte leicht, wenig überzeugt. „Vermutlich hast du recht, dennoch werde ich ein Auge auf die beiden werfen und sollte mir irgendetwas auffallen, werde ich einschreiten. Sie ist schließlich unsere einzige Tochter!“

Am Abend, noch bevor das Abendessen fertig war, musste Nikolaus wieder durch die Stadt laufen, bis zu der großen Scheune, wo die Pferde, Maultiere und Ochsen untergebracht waren. Dort half er wie jeden Tag beim Misten, wie abgesprochen.

„Ich beeile mich!“, versprach der Junge und zog sich seine Schildmütze über das braune, widerspenstige Haar.

„Warte!“ Sein großer Bruder erhob sich vom Tisch und legte die zwei Wochen alte Zeitung beiseite, die er von irgendjemandem geschenkt bekommen hatte. „Ich helfe dir, dann geht es schneller!“

„Au ja!“, rief Nikolaus und hüpfte auf der Stelle. „Das wird lustig!“

„Ihr sollt arbeiten, nicht euch amüsieren“, grummelte Friedrich, der neben dem Ofen stand, seine Frau beim Kochen beobachtete und sich gleichzeitig die Hände wärmte. „Vergesst das nicht und beeilt euch! Heute ist Sonntag!“

„Natürlich, Vater!“, kam die prompte Antwort gleichzeitig aus zwei Mündern und in der nächsten Sekunde schlug die Türe ins Schloss.

Draußen fiel wieder Regen in großen, schweren Tropfen vom schwarzen Nachthimmel herab. Der kalte Wind stieß sie während ihres Falls in sämtliche Richtungen, von rechts nach links, gegen die Hauswände und hinein in die Baumkronen, die sich sacht im Takt wiegten. Ihre noch beinahe blattlosen, kahlen Äste wirkten trübsinnig und hoffnungslos. Hugh starrte zu ihnen hinauf, soweit er sie in der Dunkelheit erkennen konnte. Er musste einige male hart und tief husten.

„Wirst du krank?“, wollte Nikolaus besorgt wissen und blickte zu seinem großen, dürren Brüder hinauf. Es schien ihm fast, als sei er noch schmaler geworden, seitdem er bei der Eisenbahn arbeitete.

„Nein, nein!“, winkte Hugh eilig ab und bemühte sich, ein weiteres Husten zu unterdrücken. „Lass uns ein wenig hinne machen, damit wir zum Abendessen wieder zurück sind!“

„Ach“, machte Nikolaus gleichgültig. „Julie ist auch nie da, wenn es Essen gibt!“

Sein großer Bruder schmunzelte. „Du nennst sie also auch schon Julie?“

Der schmächtige Junge nickte. „Natürlich! Sie hat mich selber darum gebeten und ich finde es auch schöner, genau, wie ich Nick besser finde.“

„Die Kinder in der Schule nennen dich so?“

„Ja und ich weiß, dass dich bei der Eisenbahn alle nur Hugh rufen! Das gefällt mir auch viel besser!“

„Weil es amerikanisch klingt?“

„Natürlich! Wir sind doch jetzt Amerikaner oder etwa nicht?“

„Noch nicht, aber bald, bestimmt.“

Sie umrundeten das Lager und erreichten die große, alte Scheune. Licht fiel durch die Schlitze des Tores und sie traten ein. Eine warme, streng nach Mist stinkende Luft schlug ihnen entgegen.

„Puh!“, machte Hugh und war auf einmal sehr dankbar für seine wechselnden Arbeitsplätze bei der Eisenbahn, ob nun in durch Pfeifen- und Zigarrenqualm eingeräucherten Büros, kalten, unbeheizten Eisenbahnwaggons oder zugigen Bahnsteigen. Alles war besser als dieser Gestank!

Es gab einiges für sie zu tun. Außer Nikolaus half nur einer der Ungarn aus ihrem Treck beim Misten, der zudem die Oberaufsicht über den Stall und die Tiere übertragen bekommen hatte. Die anderen Männer kannten sie nicht. Der Ungar brachte die Tiere jeden Tag nach draußen, auf eine Art Koppel, verschaffte ihnen Bewegung, striegelte sie und kümmerte sich um die Hufe und die Eisen. Miklós war ein Pferdemann gewesen in seiner alten Heimat und liebte die Tiere. Er redete in gebrochenem Englisch ohne Unterlass, während er neben den beiden Kleinfeld-Brüdern einen Verschlag nach dem anderen mistete.