Wind über der Prärie

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„Es ist nur morgens und abends“, warf sein großer Bruder hastig ein, als er die Sorgenfalten auf der Stirn ihrer Mutter entdeckte. „Sie brauchen dringend ein paar helfende Hände! So viele Pferde und Mulis und Ochsen, die jeden Tag kommen und gehen. Außerdem können wir so gleich ein bisschen Geld für unser neues Zuhause sparen.“

„Ich muss zugeben, damit hat der Junge nicht unrecht!“ Friedrich sprach als erster nach einer langen Minute Stille. „Jeder von uns muss seinen Teil dazu leisten. Du solltest lieber dankbar dafür sein, dass wir unsere Mulis somit in besten Händen wissen, solange wir sie nicht benötigen.“

Luise starrte hinab in ihren Kochtopf. Sie wusste aus Erfahrung, dass es sinnlos wäre, mit ihrem Mann einen Streit vom Zaun zu brechen, wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hatte.

„Und was ist nun mit mir?“, wollte Hubert wissen. Das waren Neuigkeiten, mit denen er nie im Leben gerechnet hatte! Kaum, dass sein Vater kurz in die Stadt verschwand, kam er mit Möglichkeiten zurück, die ihr Leben einmal um hundertachtzig Grad drehten. Woher das wohl kommt, fragte er sich und betrachtete das silberne Kreuz um den Hals seines Vaters, das sich deutlich von seiner schwarzen Kutte abhob. Ob es an seinem festen Glauben und an Gott liegt?

„Du kannst bei der Eisenbahn arbeiten“, eröffnete Friedrich seinem ältesten Sohn. „Dort brauchen sie immer junge, kräftige Burschen, die zupacken können.“

„Bei...der...Eisenbahn“, wiederholte Hubert gedehnt. Die Vorstellung, von früh bis abends Kohlen zu schippen, konnte bei ihm nicht wirklich Begeisterungsstürme auslösen, doch er fügte sich. Was blieb ihm auch anderes übrig? „Gut. Wann soll ich anfangen?“

„Morgen früh wirst du dich im Bahnhofsgebäude melden“, erläuterte sein Vater geduldig und nickte zufrieden. Alles schien gut zu werden und sich positiv für sie zu entwickeln und das sogar schneller und einfacher, als er es sich je erträumt hätte.

„Morgen schon?“ Hubert unterdrückte einen Seufzer.

„Und was hast du dich für mich überlegt?“ Juliane stand beim Planwagen und starrte ihren Vater mit einem eigensinnigen Ausdruck im Gesicht an.

Friedrich hob die Augenbrauen. „Wir werden sehen“, antwortete er ausweichend. „Erst einmal wirst du deiner Mutter mit den Arbeiten hier im Lager helfen. Insbesondere beim Kochen gibt es genügend Aufgaben, von denen dir noch immer jedes Wissen fehlt und das ist eine wahre Schande für mich, für deine Mutter und insbesondere für dich selbst. In deinem Alter sollte ein Mädchen zumindest über die Grundkenntnisse verfügen und wie sie ihren Ehemann zu versorgen hat.“

Das Mädchen ächzte, schwieg jedoch, da sie nicht wild darauf war, eine entsprechende Bestrafung für freche Bemerkungen zu erfahren. Zuhause bleiben mit ihrer Mutter! Es gab ganz sicher einer Schule in dieser Stadt, die sie St. Louis nannten, vielleicht sogar eine für Mädchen und ihr war nicht gestattet, dort am Unterricht teilzunehmen! Sie fühlte den Blick ihrer Mutter auf sich ruhen, zog es jedoch vor, zornig auf ihre Fußspitzen zu starren. Sie war nicht gewillt, so einfach nachzugeben! Sie war ebenso ein individueller Mensch wie ihr Vater und ihre Brüder und sie wusste ganz genau, was sie wollte und was nicht!

Luise beobachtete den Gesichtsausdruck ihrer Tochter und erkannte augenblicklich, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen war bezüglich dieses Themas. Es würde noch mehr Zank geben zwischen ihrer einzigen Tochter und Friedrich, sie fühlte es in ihren Knochen. Dieses Land, dachte sie, mit all seinen Sorgen und dem harten Leben, wird dazu führen, dass ich wieder genauso dünn werde, wie vor den Kindern.

St. Louis

Der Regen hatte nachgelassen als Julie den Weg vom General Store die Straße hinab antrat, in Richtung der protestantischen Kirche der ihr riesig erscheinenden Stadt. Sie war froh, dass sie in diesem Pfarrhaus leben konnten, auch wenn es sehr klein und beengend dort war. Immerhin konnten sie einen Ofen beheizen und ihre nasse Kleidung darüber trocknen und der kalte Wind konnte ihnen nichts anhaben. Sie empfand großes Mitleid für all die Familien, die während dieser Regenperiode, bis der Treck weiterziehen konnte, in ihren Wagen und Zelten verbringen mussten, weil sie es sich nicht leisten konnten, sich in einer Pension einzumieten.

Julie marschierte den Weg alleine, ohne Nikolaus. Obwohl sie gemeinsam losgeschickt worden waren von ihrer Mutter, um Einkäufe zu erledigen, hatte ihr kleiner Bruder auf halber Strecke andere Ideen verfolgt. Längst hatte er Freunde gefunden, mit denen er herumtobte und seine wenige Freizeit beim Spielen genoss und ein ganzer Haufen davon war ihnen auf dem Weg zum General Store vor die Füße gelaufen. Julie verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr fröstelte. Gerade einmal fünf Tage hielten sie sich jetzt in St. Louis auf oder besser gesagt, ein Stück daneben, denn die Kirche stand auf einem Hügel, auf einer Wiese hinter den ersten Häusern. Ihr kam es jedoch viel länger vor. Nur wenige Menschen kamen ihr bei diesem Wetter entgegen, doch als sie um das Eck des nächsten Hauses auf die Hauptstraße bog, stieß sie fast mit einem kleinen Mann mit strohblonden Haaren zusammen.

„Ah, geh!“, rief dieser erfreut. „Ist das aber eine Überraschung!“

„Hardy!“ Sie lächelte. „Dass ich Sie hier treffe! Ich dachte ja eigentlich, Sie würden uns mal besuchen kommen!“

„Tja, das hatte ich auch wirklich vor“, versicherte der österreichische Arzt und hob bedauernd die Schultern. „Ich habe schon von eurem Glück erfahren, dass Ihr Vater vorübergehend als Pastor angestellt wurde. Ich wäre schon längst mal vorbeigekommen, aber ich habe so viel zu tun, dass ich gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht!“

„Gibt es denn so viele kranke Menschen hier?“, fragte Julie und konnte den Schreck darüber nicht ganz verbergen.

Doktor Retzner lächelte. „Das Problem ist, dass es in der ganzen Gegend nur einen einzigen Arzt gibt und der ist hier in St. Louis. Im Umkreis von dreißig Meilen gibt es keinen anderen!“

„Oh!“, machte Julie ungläubig. Sie konnte kein Verständnis für diese Tatsache aufbringen, da sie gar nicht wusste, was ein Umkreis von dreißig Meilen an Fläche und Bevölkerung bedeutete.

„Ja, leider, so sieht es aus!“ Der Österreicher runzelte die Stirn. „Es gab wohl noch einen anderen Arzt, aber er starb an...wie nennen sie es hier doch gleich? Schwindsucht, glaube ich.“

„Was soll das sein?“

„Was ich herausgefunden habe, ist das der gebräuchliche Ausdruck für pulmonale Tuberkulose.“

„Oh!“, sagte Julie noch einmal mit großen Augen. Sie begriff auch das nicht, weil ihr die lateinischen Wörter fremd waren und gleichzeitig ärgerte sie diese Tatsache. Am liebsten hätte sie mit dem Fuß wütend auf den Boden gestampft, weil sie sich vorkam, wie eine dumme, törichte Gans. Natürlich, ja, sie war nur ein Mädchen und Mädchen brauchten keinen Verstand, sie mussten nur kochen können. Jetzt konnte sie den Drang nicht länger unterdrücken – ihr Fuß erzeugte auf den Holzbohlen des Gehsteigs vor den Häusern ein dumpfes Poltern.

„Und Doktor Stankovski ist auch nicht mehr der Jüngste“, fuhr der Österreicher unbeirrt fort. Er schien ihren inneren Aufruhr nicht zu bemerken. „Er leidet an Rheuma und meistens muss ich zu den Patienten auf die Farmen hinaus und zu den außerhalb gelegenen Siedlungen alleine reiten. Ach ja...“

„Wo wohnen Sie denn?“, wollte Julie wissen. „Ich habe seit dem Abend, als wir hier angekommen sind, nichts mehr von Ihnen gehört.“

„Ich weiß und es tut mir auch wirklich ungeheuer leid.“ Er fasste sie rechts und links an den Oberarmen und lächelte liebevoll. „Ich wohne bei Doktor Stankovski und seiner Frau im Haus, aber der Gute lebt schon in der zweiten Generation hier und ich verstehe so gut wie kein Wort von dem, was er sagt! Er könnte genauso gut russisch mit mir sprechen! Wir verständigen uns immer bloß durch Handzeichen und das ist nicht gerade besonders sinnvoll.“ Bedauernd hob er die Schultern. „Mein Englisch ist nicht unbedingt besser geworden. Ich hatte noch nie Talent für Sprachen.“

„Vielleicht...vielleicht kann ich es Ihnen beibringen“, schlug Julie eifrig vor. „Das ist nicht so schwer! Zu Anfang hab’ ich mir auch nicht leicht getan, aber man gewöhnt sich ganz schnell daran! Englisch ist viel einfacher als Deutsch!“

„Julie-Mädchen, wann soll ich mich um Grammatik und Vokabeln kümmern?“ Er ließ sie los und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. „Ich bin eigentlich schon wieder spät dran.“

„Hardy, kann ich Ihnen nicht irgendwie helfen, solange wir hier sind?“ Julie schaute ihn flehend an. Zum einen fühlte sie sich verpflichtet, ihm ihre Unterstützung anzubieten, denn er war immerhin mit ihrem Vater geschäftlich verbunden. Schließlich gehörte ihm eins ihrer Maultiere und die Hälfte des Planwagens. Zum anderen mochte sie den österreichischen Arzt und ihr entging nicht, wie müde und erschöpft er aussah.

Seine grünen Augen starrten sie regungslos an, als hätte ihn soeben in dieser Sekunde eine Idee durchzuckt. „Ja“, sagte er dann leise. „Ja, Julie-Mädchen, es gibt sogar jede Menge für Sie zu tun!“

„Ja?“ Ihr Herz machte einen Satz. Seit ihrer Ankunft tat sie nichts anderes, als in dem kleinen Pfarrhaus zu sitzen und ihrer Mutter zur Hand zu gehen. Es ging ihr mächtig auf die Nerven, denn sie musste sich ständig von ihr vorwerfen lassen, nicht zur Hausfrau zu taugen! Und sie hasste diese eintönige Hausarbeit! Sie wollte sich genauso nützlichen machen, wie Hubert und Nikolaus! „Kann ich das wirklich?“

„Allerdings!“ Aufgeregt fasste Doktor Retzner sie am Handgelenk und zog sie in einen Hauseingang, damit sie nicht noch mehr durchnässten, weil der Regen erneut begonnen hatte, wie aus Eimern auf sie herabzuprasseln. „Passen Sie auf!“ Beschwörend hob er die Hand. „Sie sprechen inzwischen beinahe genauso gut Englisch wie jeder Amerikaner und Sie sind jung und geschickt! Ich könnte Sie mit zu den Hausbesuchen nehmen, damit Sie mir übersetzen! Und nach einer Weile könnte ich Sie auch alleine zu Patienten schicken, wo es nur einfache Verbände zu wechseln gibt oder ähnliches! Dann wären ich und Doktor Stankovski entlastet und könnten uns für die komplizierteren Patienten mehr Zeit nehmen! Würde Ihnen das gefallen?“

 

„Oh, natürlich!“, hauchte Julie freudestrahlend. Er traute ihr zu, solch wichtige Aufgaben zu übernehmen, Patienten zu verarzten und ihnen zu helfen und... Ein Schleier legte sich auf ihre jungen, weichen Gesichtszüge. „Mein Vater wird das nie erlauben!“

„Ah, geh!“ Eine abweisende Handbewegung war die Antwort, die keine Widerrede duldete. „Das lassen Sie mal meine Sorge sein! Ich komme heute Abend bei Euch vorbei und schildere ihm die Situation. Er kann überhaupt nicht ablehnen! Außerdem ist es bestimmt sinnvoll, wenn Sie sich ein bisschen mit Medizin auskennen, bevor wir weiter auf den großen Treck gehen!“

„Sie kennen meinen Vater nicht!“ Unsicher wich Julie seinem Blick aus. „Außerdem kann er ausgesprochen ungehalten werden! Er hält nichts davon, wenn Frauen einer Arbeit nachgehen.“

„Papperlapapp!“, rief Doktor Retzner entschlossen. „Ach ja, können Sie eigentlich reiten, Julie?“

„Reiten? Sie meinen, auf einem Pferd?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, warum?“

Er lächelte über ihre unschuldige, ahnungslose Art, mit der sie ihn betrachtete. „Na, weil Sie sonst doch nicht hinaus kommen, zu den Patienten, die auf dem Farmen rundherum leben! Oder lassen Sie sich Flügel wachsen?“

„Ach...so“, machte Julie und ihre Freude trübte sich immer mehr.

„Ah, was soll’s“, entschied Doktor Retzner mit seinem österreichischen Akzent und lächelte zuversichtlich. „Das bringe ich Ihnen bei! Sie werden sehen, bald reiten Sie besser als jeder Mann!“

Julie kicherte, die Vorstellung gefiel ihr. „Das würde mein Vater Ihnen nie verzeihen!“

Doktor Retzner lächelte und fasste sie kurz mit Daumen und Zeigefinger am Kinn. „Er muss mit der Zeit und den Umständen gehen, Julie-Mädchen. Es wird ihm nichts anderes übrigbleiben als einzusehen, dass die europäischen Werte einer Frau hier, im Wilden Westen, nicht aufrechterhalten werden können. Ganz einfach.“

„Hoffentlich“, entgegnete sie seufzend und trat einen Schritt beiseite. „Ich muss nach Hause, meine Mutter wartet. Auf Wiedersehen.“

„Bis heute Abend!“, rief Doktor Retzner ihr nach und seine Augen verfolgten sie, während ihre langen Röcke und Unterröcke über die Holzbohlen des Gehsteiges glitten.

Hubert blickte der letzten Lok nach, die heute den Bahnhof verließ. Er hörte, wie sich die Türe des Büros hinter ihm schloss, wo er heute den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen war, neue Regale für die Dokumente einzubauen. Seit er seine Arbeit bei der Eisenbahn begonnen hatte, war er dem Zimmerertrupp zugeteilt worden, was ihn ein wenig erleichterte. Das war zwar nicht unbedingt sein Fachgebiet, aber immerhin eine Aufgabe, der er sich mit etwas Menschenverstand und logischem Denken gewachsen sah.

Die Dunkelheit brach bereits über St. Louis herein. Er war hungrig und erschöpft und trotz des klammen, feuchten Wetters spürte er, wie seine Wangen glühten. Seine Finger schmerzten, er hatte sich mehrfach Nägel in die Haut gestochen und mit dem Hammer seine Glieder malträtiert. Er konnte wahrlich nicht behaupten, der geschickteste Handwerker zu sein, soviel er sich auch bemühte.

„Hier, Junge!“ Der Zahlmeister reichte ihm ein paar Dollarscheine. „Das ist für die Überstunden und die hervorragende Arbeit! Mach’ was Schönes damit!“

„Oh, danke!“ Hubert konnte es noch nicht recht glauben. Gut, er hatte in den zurückliegenden Tagen mehr als nur gerackert, aber dass er dafür einen extra Lohn erhalten würde... Er zählte die Dollarscheine, einmal, zweimal und überlegte. Das war sein eigenes Geld, mit dem er tun und lassen konnte, was er wollte, dass er nicht nach Hause bringen musste, zu seinem Vater, wie seinen regulären Lohn. Hubert überlegte eine ganze Weile. Musik drang an seine Ohren und er wusste, dass sie aus dem Saloon kam. Der Saloon. Er lächelte. Schon seit sie hier angekommen waren, wollte er dort hinein, wie die Cowboys und die anderen jungen Männer. Niemand würde ihn vorerst zu Hause vermissen, denn sein Dienst endete immer unterschiedlich und nie zu einer bestimmten Zeit, je nachdem, was an Arbeit anfiel. Sein Herz schlug schneller. Nun gut, sein Vater hatte ihm streng verboten, in den Saloon zu gehen, in diesen „Sündenpfuhl“, wie er ihn bezeichnete, doch Hubert konnte beim besten Willen keine Sünde daran entdecken, einfach hineinzuspazieren und ein Bier zu trinken. Das war nichts anderes, als wenn er in Deutschland eine Gastwirtschaft betreten hätte. Außerdem war er kein kleiner Junge mehr und allmählich konnte er wahrhaftig für sich selbst entscheiden, was er wollte.

Entschlossen marschierte Hubert die dunkle Hauptstraße hinab. Sein Hunger und die Erschöpfung waren vergessen. Viel zu aufgeregt und neugierig beschäftigte ihn jetzt das Unbekannte. Es hatte wieder wie aus Eimern zu gießen begonnen und er stieß die verschlossene Tür eilig auf. Verrauchte, stickige Luft schlug ihm entgegen. Der Saloon war voll mit Männern, die sich dicht um Tische und die Bar drängten. Eine Kapelle, die auf einem erhöhten Podest saß, spielte Melodien mit einem flotten Rhythmus, die er nicht kannte, doch sie gefielen ihm. Eine Sekunde stand Hubert unschlüssig da und beobachtete, was vor sich ging. Die meisten Männer saßen an Tischen, tranken und spielten mit Karten. Andere hatten junge, stark geschminkte Mädchen auf dem Schoß. Sie lachten und gröhlten und übertönten dabei die Musik. Hubert gab sich einen Ruck und trat an die brusthohe Theke. Der Rest, der keinen Platz fand, stand in Gruppen daneben, sie lachten und unterhielten sich in breitem, genuschelten Englisch, das er bisweilen immer noch schwer nur verstand.

„Ein Bier“, sagte er und fand, dass er sich bereits sehr amerikanisch anhörte.

Wortlos schob der Barkeeper ihm ein großes Glas entgegen und Hubert reichte ihm im Gegenzug einen seiner Scheine, woraufhin er ein paar Münzen zurückerhielt.

„Hallo!“, sagte eine tiefe, rauchige Frauenstimme neben ihm unerwartet und berührte ihn sanft am Arm. Hubert fuhr herum. Er schluckte. Neben ihm stand eine kleine, üppige Blondine, mindestens zehn Jahre älter als er und lächelte zu ihm hinauf. „Dich kenn’ ich ja noch gar nicht! Neu hier?“

„Ja...nur vorübergehend“, brachte Hubert überrumpelt hervor. Seine Augen glitten hastig ihren Körper hinab, der in einem engen Corsagenkleid steckte, das jedoch ihre Knie gerade noch bedeckte. Darunter trug sie Netzstrümpfe und Schnürstiefeletten mit hohem Absatz. Noch nie zuvor hatte er eine Frau gesehen, die sich in der Öffentlichkeit derart freizügig kleidete und er spürte, wie sein Puls schneller zu schlagen begann. Ihr Anblick löste unbekannte Gefühlswallungen in ihm aus, irgendetwas in ihm verlangte geradezu unwiderstehlich danach, sie zu berühren und sein Verstand sagte ihm gleichzeitig, dass er sich derartige Frechheiten nicht erlauben durfte. Sie arbeitete vermutlich hier und obwohl sie es sicherlich gewohnt war, von Männern betatscht zu werden, wollte er nicht riskieren, gleich bei seinem ersten Besuch in einem Saloon unangenehm aufzufallen. „Ich...ich gehöre zu einem der Siedlertrecks vor der Stadt.“

„Ah!“, machte die Blondine und ihr Lächeln wurde breiter. „Ich hab’ schon gehört, dass wieder ein paar angekommen sind. Ist ja nichts Neues, passiert ständig. Die einen kommen, die anderen gehen... Trotzdem immer schön, wenn fremde Gesichter sich hier rein verirren – vor allem, wenn sie so sympathisch sind, wie das deine!“

Geschmeichelt wiegte Hubert den Kopf. „Na ja, ich gebe mir Mühe, nicht zu abschreckend zu wirken.“

„Das tust du nicht“, versicherte die Lady, während sie ihn eingehend betrachtete, was Hubert nicht entging. „Ich heiße übrigens Suzie.“

„Freut mich. Mein Name ist Hubert Kleinfeld.“

„Deutscher, was?“, erkannte sie sofort. Sie streckte den Arm aus und berührte seinen Oberarm, wo sie unter seinem Hemd starke Muskeln fand. Das schien ihr zu gefallen. „Hmm, nicht übel!“

Er gab sich gleichgültig. „Das kommt vom vielen Bretter durch die Gegend wuchten. Die Eisenbahn scheint nur damit beschäftigt zu sein, irgendwo irgendetwas anbauen zu müssen.“

„Sag mal, Hugh...“ Sie sprach seinen Namen ganz automatisch und ohne nachzudenken in seiner englischen Form aus, doch es gefiel ihm. Überhaupt, nicht nur, wie sie seinen Namen sprach, auch sie selbst wirkte ungeheuer anziehend auf ihn, je länger er sich mit ihr unterhielt. „Es macht dir doch nichts, dass ich Hugh sage, oder? Das ist viel einfacher für mich, ich kann nämlich nur Englisch und Ungarisch.“

„Nein“, erwiderte er und lächelte zu ihr hinab. „Im Gegenteil! Es gefällt mir!“

„Schön!“ Sie beugte sich zu ihm hinüber und gewährte ihm einen tiefen Einblick in ihr üppiges Dekolleté. „Hast du nicht Lust, ein bisschen mit mir nach oben zu kommen?“

Hubert schluckte. Sein Herzschlag setzte einen Moment aus. Er begriff. Mit einem Mal erkannte er, was sie war und dass es keine Rolle spielte, wenn er sie anfasste. Sein Vater hatte es ihm erklärt, ihn in seiner sachlichen, nüchternen Art eines Morgens darüber unterrichtet, wie Kinder zustandekamen und dass dieses „Geschehen“ außerhalb der Ehegemeinschaft absolut verboten und sündhaft sei. Vermutlich hätte Friedrich nie ein Wort darüber gegenüber seinem Sohn verloren, wenn...ja, wenn er nicht an einem Morgen aufgewacht wäre und festgestellt hätte, dass etwas anders war, ganz anders, dass sein Körper etwas mit ihm gemacht hatte, das er nicht begriff und von dem er nicht wusste, warum es geschah. Friedrich hatte ihn darüber aufgeklärt, dass er nun „ein richtiger Mann“ sei, der die Pflicht hätte, „sich zusammenzureißen und der Fleischeslust niemals die Überhand gewinnen zu lassen“. Lange hatte Hubert darüber nachgedacht, was sein Vater damit wohl meinte, mit dem Wort Fleischeslust. Dann hatte er ihn gefragt und Friedrich hatte ihm streng und sehr entschieden erklärt, dass jegliche Tätigkeit dieser Art außerhalb einer ehelichen Beziehung nicht vor Gott und der Kirche vertretbar sei, ja, dass es sich geradezu um eine Sünde handele, die bestraft werden müsste. Allerdings hatte Hubert diese Erläuterung auch nicht viel geholfen. Erst dank einem seiner Kumpel in Deutschland, der da wesentlich erfahrener schon war, hatte er alles darüber erfahren, was sich zwischen Mann und Frau so abspielte und dass es Damen gab, die damit ihren Lebensunterhalt verdienten.

Hubert atmete tief durch. Er war jetzt achtzehn und durchaus fähig, eigene Entscheidungen zu treffen. Sein Vater würde ihn vermutlich erschlagen, wenn er wüsste, was er hier trieb, dass er im Saloon stand, ein Bier trank und sich mit einer Frau namens Suzie unterhielt, die für Geld ihren Körper an Männer verkaufte, die sich nach weiblicher Begleitung sehnten.

Hubert fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Der Reiz, die Vorstellung und vor allen Dingen das brennende Verlangen, endlich zu wissen, wie es sich anfühlte, sich dieser Lust hinzugeben, die er bislang nur aus seiner Fantasie kannte, drängten ihn dazu, sein Geld in ihren Ausschnitt zu stecken, doch da war auch seine strenge, christliche Erziehung, die ihn anschrie, ihn zurückhalten wollte. Er kämpfte mit sich. Noch nie hatte ein Mädchen ihm gegenüber Interesse gezeigt und er war auch noch nie wirklich in Versuchung geraten, sich einer von ihnen unsittlich zu nähern, aber jetzt, da diese Suzie vor ihm stand und er wusste, dass er sie haben konnte, für ein bisschen Geld, ohne weitere Verpflichtungen...

„Ja“, hörte er sich leise sagen. „Ich komme gern mit...sehr gern!“

Der Duft von frischer Gulaschsuppe lag in der Luft. Der kleine Herd verbreitete eine erstaunliche Wärme und das Feuer darin knisterte laut und heimelig. Friedrich saß aufrecht am Tisch, die Bibel vor sich aufgeschlagen und las leise darin. Die Predigt für den kommenden Sonntag musste vorbereitet werden.

„Deck den Tisch, Juliane“, sagte Luise in ihrem eigenen, strengen Tonfall und ihre Tochter, die eben noch über ihren Englischunterlagen gesessen hatte, sprang hastig auf. Sie räumte das Vokabelbuch beiseite, auf die Kommode im Eck und holte die Zinnteller und das Besteck aus dem Schrank. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in jeder freien Minute an ihren Sprachkenntnissen zu arbeiten.

 

„Die Tassen auch!“ Kopfschüttelnd betrachtete ihre Mutter ihr tun. „Kannst du noch nicht einmal einen Tisch decken?“

„Doch!“, versicherte Julie hastig. „Natürlich!“

Es lag nur daran, weil sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war. Bei jedem kleinen Geräusch zuckte sie zusammen, weil sie glaubte, Hardy Retzner würde vor der Tür stehen. Es war keine gute Idee, dass er hierher kam. Je länger sie darüber grübeln konnte, desto überzeugter war sie davon. Ihre Eltern würden ihr nie erlauben, ihm zu assistieren und am Ende zerstritten sie sich womöglich noch alle und dabei wollten sie doch gemeinsam weiterziehen, sobald sich ein größerer Treck nach Westen aufmachte! Nur die schlechten Wetterprognosen und die anhaltenden Regenfälle verhinderten derzeit, dass irgendjemand es wagte, die lange, beschwerliche Reise fortzusetzen.

Luise seufzte. „Nikolaus müsste jeden Moment kommen und bei Hubert weiß man ja nie! Wir werden nicht auf ihn warten, sondern ihm das Essen auf den Herd stellen, dann kann er sich selbst nehmen, wenn er nach Hause kommt.“

„Die beiden Jungen sind unglaublich fleißig“, bemerkte Friedrich voller Stolz und schlug die Bibel zu. „Mit Huberts Lohn und dem, was ich bekomme, können wir uns in Oregon einen schönen Neuanfang leisten!“

„Trotzdem finde ich es nicht richtig, dass Nikolaus immer bis spät in die Nacht die Pferdeställe ausmisten muss“, warf Luise besorgt ein und trug den Topf hinüber an den Tisch. Sie setzte sich an ihren Platz, neben ihren Mann, als die Tür aufgerissen wurde.

„Ich bin da! Hat etwas länger gedauert!“, schrie Nikolaus. Ein Schlag ließ das Haus erzittern, als er die Tür hinter sich ins Schloss knallte.

„Mein Sohn!“ Friedrich warf ihm einen bösen Blick zu. „Was soll dieser unnötige Krach?“

„Entschuldige“, murmelte der Junge schuldbewusst und rutschte lautlos auf seinen Stuhl neben seiner Schwester, um die Hände zu falten und das gemeinsame Tischgebet zu sprechen.

Nach dem Essen begann Luise, das Geschirr zu spülen, wobei ihre Tochter ihr half, obwohl sie lieber ihre Englischkenntnisse erweitert hätte. Nikolaus verabschiedete sich ins Bett, er war sehr müde von der schweren, körperlichen Arbeit und Friedrich holte wieder seine Bibel hervor. Julie atmete auf. Es war schon so spät, da würde Doktor Retzner bestimmt nicht mehr kommen!

„Oh, es regnet schon wieder“, sagte Luise, als sie die Schüssel mit schmutzigen Wasser nach draußen, vor die Tür kippte. Das Pfarrhaus stand abgeschieden und geschützt unter Bäumen, doch die Lichter von St. Louis waren in der Dunkelheit wie unwirkliche Punkte zu erkennen.

„Und gleich wie aus Kübeln! Wenn das so weitergeht, haben wir bald Hochwasser!“ Luise blieb in der Tür stehen und schaute weiter hinaus in die Dunkelheit. Es zog kalt herein.

Julie lächelte kurz. Sehr gut, das kam ihr gerade recht. Doch der nächste Satz ihrer Mutter ließ sie zusammenzucken: „Ja, Hardy, sowas! Ja, kommen Sie doch herein! Welche eine Überraschung! Wir dachten schon, wir sehen Sie vor der Abreise gar nicht wieder!“

„Ah, geh!“, erwiderte der Österreicher und schüttelte sich die Regentropfen von der Jacke und dem Hut, ehe er eintrat. „Wer weiß, wie lange wir noch hier warten müssen, bis es endlich weiter Richtung Westen geht!“

„Kommen Sie, kommen Sie!“, bat nun auch Friedrich. Er schob die Heilige Schrift beiseite. Sein tiefer Bariton verriet, wie ehrlich er sich über den unerwarteten Besuch freute. „Setzen Sie sich! Luise, schenk’ unserem Gast Tee ein!“

„Bitte keine Umstände!“ Lächelnd nahm Doktor Retzner am Tisch Platz. Sein Blick traf Julie, die ihn ängstlich betrachtete. Ihre Hände umkrampften das Vokabelbuch, als wollten sie es zerreißen, doch er zwinkerte zuversichtlich und ihre Hoffnung auf einen friedlichen Verlauf des Abends schwand. Er würde wahrhaftig davon anfangen! Wie konnte sie es nur verhindern? Während sie noch verzweifelt nach einem Ausweg suchte, war es bereits zu spät.

„Ganz grundlos bin ich ja nicht da“, begann der österreichische Arzt jetzt und bedankte sich bei Luise, die ihm einen Zinnbecher reichte.

„Nein?“, fragte Friedrich erwartungsvoll und blickte dabei seine Tochter an, die jedoch schnell den Blick auf die Tischplatte richtete. Er glaubte, zu begreifen und unterdrückte ein Schmunzeln.

„Nein“, erwiderte Doktor Retzner und schluckte. „Wissen Sie, ich habe Arbeit und das nicht zu knapp, aber gewisse Verständigungsprobleme mit der hier ansässigen Bevölkerung.“

Begriffsstutzig starrte Friedrich ihn an. „Wie bitte?“

„Leider, ja.“ Hardy fuhr sich durch das strohblonde Haar. „Es ist zwar eine Schande für einen Arzt, aber ich bin der englischen Sprache alles andere als mächtig.“

„Oh!“, machte Friedrich verständnisvoll. „Das gleiche Problem hatte ich auch, aber seitdem ich für die Kirche tätig bin, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Bibel auf Englisch zu lesen und jeden Tag ein paar neue Wörter dazuzulernen!“

„Natürlich“, versicherte Doktor Retzner eilig. „Nur habe ich diese Zeit leider nicht, weil es mehr Patienten gibt als zwei Ärzte bewältigen können. Mein Kollege Stankovski ist nicht mehr der Jüngste und sein Rheuma, nun ja, das erleichtert es ihm auch nicht gerade!“

„Ich habe davon gehört“, warf Luise ein und schaute von ihrer Strickarbeit auf, in die sie mittlerweile vertieft war. Sie hatte sich ihren Stuhl nahe an den Ofen gezogen, denn ihr war kalt, wie so häufig. Auch hatte sie durch die Strapazen an Gewicht verloren, was ihr deutlich anzusehen war. Sie lächelte bescheiden. „Der Doktor sah auch sehr blass aus, als er mir vorgestellt wurde.“

Hardy Retzner räusperte sich. „Aus diesem Grund bin ich hier.“

Friedrich verstand nicht, doch er nickte freundlich. „Wie können wir Ihnen helfen, Hardy? Wir tun es gern, keine Frage, aber ich sehe keinen Weg, wie...“

„Oh doch!“, warf Doktor Retzner schnell ein. Sein Blick wanderte zu Julie, deren große, bernsteinfarbene Augen ihm flehend zu verstehen gaben, nicht weiterzusprechen, doch es war nicht mehr aufzuhalten.

„Ich brauche eine fähige Krankenschwester, die mir zur Hand gehen kann und die gleichermaßen gut Englisch und Deutsch spricht, um mir zu übersetzen! Und sie muss natürlich auch ein gewisses Geschick mitbringen und den Mut, sich dieser Aufgabe zu stellen!“

Friedrich verstand augenblicklich. Er betrachtete seine einzige Tochter lange, die ihren Blick stur und regungslos wieder auf die Tischplatte gerichtet hielt.

„Juliane?“, fragte ihre Mutter jetzt und ließ keinen Zweifel daran, wie sehr sie dieser Idee abgeneigt war. „Sie wirft ja sogar beim Tisch decken mit den Tellern um sich, das ungeschickte Ding! Wie soll Sie Ihnen da eine große Hilfe sein?“

„Meine Frau hat recht“, stimmte Friedrich ihr sofort zu. Er schüttelte den Kopf und seufzte. „Juliane ist wirklich nicht das Geschick in Person und von Medizin versteht sie überhaupt nichts! Ich glaube nicht, dass Sie mit ihr sehr glücklich bedient wären!“

„Oh, lieber Pastor Kleinfeld!“ Doktor Retzner hob die Hände. „Es tut mir leid, aber ich kann Ihre Meinung ganz und gar nicht teilen! Ihre Tochter ist ausgesprochen lernfähig und soweit ich sie bisher kennengelernt habe, besitzt sie durchaus die nötigen Voraussetzungen, die eine gute Krankenschwester mitbringen muss. Was natürlich für mich ganz entscheidend zu meiner Wahl beigetragen hat, ist, dass sie beide Sprachen mittlerweile beinahe fließend beherrscht!“

„Da ist allerdings was dran“, entgegnete Friedrich nach kurzem Zögern und ein wenig Stolz schwang in seiner Stimme mit. „Englisch spricht sie besser als wir alle zusammen!“