Die Brücke zur Sonne

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Auf den Koppeln...

Auf den Koppeln des Waldeinschnitts genossen kleine Pferdeherden ihre Freiheit und knabberten das junge, dank das beginnende Frühjahrs, sprießende Präriegras. Gemächlich drehten sich die Flügel des Windrades in der kühlen, böigen Spätnachmittagsbrise und schienen den nicht allzulang zurückliegenden Winter noch mit sich zu tragen. Der Geländewagen stand nicht, wie sonst, neben dem Ranchhaus und eine entspannte Ruhe lag über der tropfenförmigen Schneise. Nur im runden Pferch, zwanzig Schritte neben der Scheune, standen drei Männer. Ein hübscher, zierlicher Braunscheckwallach tänzelte unruhig um Dan herum, während Trey versuchte, das Tier am Halfter festzuhalten. Ärgerlich tippte der Vormann dem jungen Cowboy auf die Schultern.

„Wäre es eine zu anstrengende Aufgabe für dich, ihn für fünf Sekunden zu beruhigen? Dann könnte ich das Seil heute noch dort befestigen, wo es hingehört!“

Mit hochrotem Kopf bemühte Trey sich um kurzes, ruhiges Stillstehen des jungen, unausgebildeten Pferdes.

„Aus dem wird höchstens mal ein Männerpferd!“, keuchte er und hängte sich mit seinem ganzen Körpergewicht an den Führstrick.

Blitzschnell hakte Dan das lange Seil an der Metallöse ein und in beinahe demselben Augenblick den Führstrick aus. Sofort suchte der Braunschecke das Weite und begann ganz von selbst, ohne Aufforderung, im Galopp seine Runden am Zaun des Pferchs entlang zu drehen.

Mit einem geistesgegenwärtigen Sprung rettete Trey sich vor dem erregten Pferd auf den hohen Lattenzaun und machte es sich auf der obersten Stange gemütlich. Ein wenig außer Atem schob er sich den hellbraunen, verstaubten Hut aus der Stirn.

„Man könnte nicht meinen, dass der hier der erste für heute ist.“

Chris McKinley, der außerhalb des Zauns lehnte und alles genau verfolgt hatte, grinste belustigt: „Na, es wird ja für heute auch der letzte sein, wenn ich so auf die Uhr schaue“, entgegnete er zuversichtlich und versetzte Trey einen spielerischen Schlag gegen die Schulter. „Dann kannst du dich von deiner anstrengenden Aufgabe erstmal wieder erholen!“

Die Ironie in seiner Stimme ärgerte Trey. „Hey! Keine derartigen Witze gegenüber seinen besten Freunden, ja? Außerdem will ich etwas dazulernen, bezüglich dem Zureiten junger Pferde. Dan kennt noch die alten Traditionen, die will ich auch beherrschen.“

„Hört, hört! Welch weise Worte aus deinem Mund!“ Chris lachte auf und legte sein Kinn auf die Unterarme, die er auf der oberste Zaunlatte gestützt hatte. „Da musst du dir von unserem Boss aber noch eine Menge zeigen lassen!“

„Wieso nur ich?“ Entrüstet boxte ihm Trey den Ellenbogen zwischen die Rippen. „Du bist auch nicht perfekt! Wenn ich mir deinen Gaul manchmal ankucke…“ Er vollendete den Satz mit einem leisen Pfiff.

„Ich weiß. Er ist noch lange nicht so gut, wie er als Arbeitspferd sein sollte“, gab Chris zu und seufzte. „So, jetzt hoffe ich, dass meine Reitschülerin bald kommt!“

„Welche Reitschülerin?“ Fragend zog Trey die Brauen hoch.

„Mich erwartet heute Abend noch Arbeit!“

„Mich nicht mehr!“ Voller Vorfreude rieb Trey sich die Hände und zwinkerte seinem Kollegen übermütig zu. „Mich armen, einsamen Cowboy empfängt später nämlich noch die entzückende, kleine Tochter unseres allseits hochgeschätzten Hotelbesitzers zum Essen!“

„Dann lass dich bloß nicht von ihrem Alten erwischen!“ Chris beobachtete unaufhörlich den Vormann im Pferch, der mit fast unsichtbaren Zeichen und Handbewegungen und einem beneidenswerten Fingerspitzengefühl das junge, aufgeregte Pferd dazu bewegte, sich immer mehr auf ihn zu konzentrieren und das Tempo zu verlangsamen.

„Du weißt, was mit Lucys letztem potentiellen Verehrer passiert ist, der dem werten Herrn Vater nicht gepasst hat?“, fügte Chris seelenruhig hinzu.

„Hör auf“, befahl Trey. „Das ist mir gleich! Außerdem gehöre ich nicht zur Sorte der potentiellen Verehrer!“

Der schwarzhaarige Cowboy grinste. „Entschuldigung! Ich habe ja völlig vergessen: Du gönnst dir nur mal eine Abwechslung zu deinem eigenen, einsamen Bett!“

„Hast du schlechte Laune, weil der alte Mann dich heute Morgen in sein Büro zitiert hat?“

Als „den alten Mann“ bezeichneten die Männer, mehr freundschaftlich und respektvoll, ihren Arbeitgeber.

„Hmm.“ Chris’ Gesicht verzog sich geheimnisvoll. „Er hat jemand für eine besonders heikle Aufgabe gesucht.“

Neugierig drehte Trey sich auf der Zaunlatte herum. „Aha! Und dafür sucht er sich ausgerechnet dich aus? Da wäre ich doch genau der Richtige gewesen!“

Der Jeep ihres Vaters rollte die Straße entlang. Er hatte sich gerne dazu breitschlagen lassen, seine ältere Tochter zur Ranch hinüberzufahren. Sie trug ihre neuen Bluejeans, ein kariertes Hemd, genau wie Amy es besaß und nagelneue Cowboystiefel. All das hatte Matthew ihr zur ersten Reitstunde geschenkt.

Aufgeregt rutschte Jean auf ihrem Sitz hin und her. Ihre erste Reitstunde, endlich! Schon als kleines Kind hatte sie davon geträumt, einmal auf dem Rücken eines Pferdes sitzen zu dürfen, aber das wäre für ihre Mutter niemals in Frage gekommen. Hier draußen, in diesem Land, da war es etwas anderes. Hier schienen alle reiten zu können, weil es einfach notwendig war und von Anbeginn so gehandhabt wurde und sie wollte jetzt auch endlich ihre Wünsche erfüllen. Es kam ihr vor, als sei es längst überfällig.

Drei Tage hatte sie gebraucht, um sich mit ihrer Vorstellung gegen Rachel durchzusetzen. Ihre Mutter hatte geschrien und getobt, aber alles vergebens. Jean spürte tief in ihrem Inneren, dass sie kein kleines Kind mehr war und bereit dazu, sich selbst in der Welt ihren Weg zu suchen. Sie wollte nicht länger ihren Lebenspfad von ihrer Mutter vordiktieren lassen. Sie war anders als Rachel und auch anders als Patty. Beide besaßen diesen Drang nach Modebewusstsein und Schönheit, nach Bewunderung und Macht, aber bei beiden lag das auf der Hand, denn sie waren beide makellos und anziehend und wurden von allen Menschen bewundert. Sie, Jean, jedoch besaß nicht diese außergewöhnlich ebenmäßigen Gesichtszüge. Sie sah ihrem Vater ähnlicher und war sich durchaus bewusst, dass sie gegenüber ihrer Schwester in Bezug auf das Äußere keine Chance hatte. Patty war zwei Jahre jünger und besaß bereits den weiblicheren Körper von ihnen beiden. Sie war wohlgeformt, mit großen Brüsten, während Jean hochgewachsen und dünn blieb, ein Streichholz, wie ihre Mitschülerinnen sie bisweilen hänselten. Oft beneidete sie ihre kleine Schwester, wenn sie wieder einmal hübsch zurechtgemacht auf eine Party verschwand, stets begleitet von einem gutaussehenden Jungen und selten kam derselbe zweimal, um sie abzuholen. Dagegen hatte Jean noch nie jemand zu einer Party ausgeführt. Sie verblasste neben Patty und in ihrer Gegenwart kam sie sich stets nur zweitklassig vor. Gerade deshalb war es ihr so wichtig, für sich selbst etwas zu finden, was nur ihr etwas bedeutete. Sie wollte das mit der Reiterei mit niemandem teilen aus ihrer Familie. Es war wie eine Art Schatz, der ihr das Selbstbewusstsein schenkte, das ihr bisher gemangelt hatte.

„Ich bin sehr stolz auf dich“, sagte Matthew plötzlich und riss sie unvermutet aus ihren Grübeleien. Er warf ihr einen langen Blick zu.

Erstaunt hob Jean die Brauen. „Stolz? Auf mich?“

Sein linker Mundwinkel zuckte. „Ja, du hast dich gegenüber deiner Mutter behauptet und du machst jetzt das, wozu du alleine Lust hast.“

„Ja“, gab Jean zu. „Ich bin auch ein bisschen stolz auf mich.“

„Du musst das tun, was dir selber gefällt“, fuhr ihr Vater fort und verlieh jedem seiner Worte Nachdruck. „Lass dich nicht von deiner Mutter beirren. Du führst irgendwann dein eigenes Leben und dann wird sie nicht mehr da sein, aber du musst für dich selbst geradestehen können.“

Jean lauschte seinen nachdenklich gesprochenen Worten. Sie fragte sich häufig, ob er glücklich war mit dem Leben, das er führte oder ob er sich einfach damit arrangiert und abgefunden hatte.

„Ich danke dir, Paps.“

„Keine Ursache.“ Matthew nickte ihr zu. „Gib dein Bestes und finde heraus, ob es dir taugt. Du allein musst glücklich werden mit deinen Entscheidungen und sonst niemand!“

Als sie in den Innenhof fuhren, kam Amy aus dem Ranchhaus gelaufen. Sie winkte und lachte auf ihre herzliche, einnehmende Art.

„Guten Tag, Doktor van Haren!“, rief sie fröhlich und wartete, bis Jean ausgestiegen war. Ihr Blick glitt an der neuen Kleidung der englischen Arzttochter herunter. „Gut siehst du aus! Fast, wie eine von uns!“

„Hallo Amy!“, erwiderte Matt lächelnd. „Pass mir gut auf mein Mädchen auf!“

„Keine Sorge!“, versicherte die Rancherstochter und packte Jean am Arm. „Mein Vater hat den besten unserer Männer ausgewählt!“

„Na, das will ich hoffen!“ Matthew lachte, noch ein wenig zweifelnd, und blieb in der offenen Wagentür stehen, während seine Tochter bereits mit Amy in Richtung den Umzäunungen verschwand, wo noch immer die drei Männer beisammenstanden und miteinander schwatzten.

„Ruf mich an, wenn ich dich wieder holen soll!“, rief er ihr nach und schüttelte den Kopf. Sie hatte ihn schon nicht mehr gehört.

Bei der Einpferchung angekommen, deutete Amy auf einen der Männer. „Jean, du kennst Chris ja schon. Daddy und ich haben entschieden, dass er der Beste ist, dir das Reiten beizubringen. Er macht das andauernd mit irgendwelchen Touristen.“

„Na ja, übertreib mal nicht!“ Grinsend winkte der schwarzhaarige junge Mann ab. „Jetzt fangen wir erstmal an!“

Inzwischen hatte Dan seine Arbeit mit dem jungen Braunschecken beendet, der sich wesentlich ruhiger und gelassener wie zu Anfang neben ihm her zum Tor führen ließ. Trey schwang seine Beine über den Zaun und sprang auf der Außenseite des Pferchs in den Sand.

 

„Ich gehe mich umziehen. Bin mal wieder spät dran. Viel Spaß!“

Jetzt kam der grauhaarige Vormann mit dem Wallach am Halfter zu ihnen. Er deutete auf das zierliche, elegante Pferd und nickte Jean eifrig zu: „Das wäre ein Bursche für dich, Mädchen! Aus dem wird einmal ein richtig tolles Reitpferd! Trey ist zwar der Ansicht, den könnte nur ein Mann bändigen, aber ich sage dir: Liberty wird ein richtiger Kracher!“

„So weit sind wir noch lange nicht!“, wimmelte Chris ihn ab, als er bemerkte, wie Jeans Gesicht einen unsicheren Ausdruck bekam. „Jetzt muss sie erstmal sattelfest werden.“ Mit einer Kopfbewegung forderte er das Mädchen auf, ihm zu folgen. „Dort hinten steht dein heutiges Reitpferd.“

Jean und Amy folgten ihm hinüber zur Scheune, an deren Frontseite, am Anbindebalken eine dunkelbraune, kleine Stute mit hängendem Kopf und halbgeschlossenen Augenlidern stand. Sie hatte nur ein Stallhalfter übergestreift und ihr kurzes, weiches Fell glänzte im Sonnenlicht kastanienrot.

„Das ist Lady“, stellte Chris dem jungen Mädchen das Pferd vor und tätschelte ihm die Kruppe. „Sie ist ausgesprochen ruhig und geduldig, das ideale Anfängerpferd. Fangen wir also mit der Theorie an.“

Jeans Herz raste. Der Augenblick rückte näher. Sie erfüllte sich einen Traum. „Ich habe mir extra ein Buch gekauft über Pferde und reiten und es auch schon gelesen!“

Einen Augenblick starrte Chris sie amüsiert an. Für ihn war der Umgang mit Pferden normal und hier kam dieses junge Mädchen, voller Begeisterung und Vorfreude auf das, was er täglich machte. Es erschien ihm irgendwie surreal.

„Umso besser! Da spare ich mir jede Menge Atem!“ Er löste den Führstrick vom Balken und hielt ihn Jean auffordernd entgegen. „Hier, nimm du sie gleich!“

Eifrig griff das junge Mädchen zu. Sie ließ den rauen Strick durch ihre Finger gleiten, während sie mit ihrer anderen sanft die weichen Nüstern der Stute berührte. Der warme Atem des Tieres suchte in ihrer Hand nach einer Leckerei und als sie keine fand, wanderte sie forschend mit ihren Lippen Jeans Arm hinauf.

„Hey!“, lachte Amy. „Lass ihr nicht gleich alles durchgehen! Sonst tanzt sie dir auf der Nase herum.“

Das Tor zum Pferch stand offen. Jean brachte die Stute hinein und nachdem Chris ihr befohlen hatte, sie erst einmal herumzuführen, damit sie sich aneinander gewöhnen konnten, marschierte sie zuversichtlich und nicht ohne einem Gefühl von Stolz in der Umzäumung umher.

„Glaubst du, sie lernt es?“, fragte Amy leise, nachdem sie das Tor hinter dem Cowboy geschlossen hatte. „Ich würde so gerne jemanden haben, mit dem ich ausreiten gehen kann!“

Ein leises Lachen drang aus Chris’ Kehle. „Diesen Monat nicht mehr! Sie muss erst ein bisschen sicher werden, damit sie dir nicht bei deinen wilden Galoppaden verloren geht! Im Sommer vielleicht, je nachdem wie sie sich anstellt.“

„Du machst das schon!“ Amy nickte mit zuversichtlicher Miene und ihre runden Backen leuchteten. „Darum hat Daddy dich ja ausgesucht!“

„So“, sagte Chris McKinley laut in Richtung der Engländerin. „Jetzt lass uns mal loslegen.“ Mit großen Schritten durchquerte er den Platz und nahm dem jungen Mädchen den Strick wieder aus der Hand. „Wir fangen ganz klein an. Einverstanden?“

„Alles, was Sie sagen, Herr Reitlehrer!“ Jean lächelte und wippte aufgeregt auf ihren Zehenspitzen. „Darf ich rauf?“

Chris lachte. „Von mir aus!“

Er bot ihr seine Hand, damit sie ihr linkes Knie hineinlegen konnte. Mit Schwung hob er sie hoch, in Richtung Pferderücken. Als hätte sie noch nie etwas anderes getan, hob Jean das rechte Bein über die Kruppe der Stute. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, saß sie auf dem blanken, warmen Rücken des Pferdes.

Chris nahm den Führstrick von Ladys Hals. Er trat ein paar Schritte zurück. „Am besten hältst du dich erstmal an der Mähne fest und dann geht’s los!“

Auf ein Zeichen mit seiner Hand hin, setzte die Stute sich in Bewegung. Ruhig ging sie im Schritt um Chris im Kreis herum. Der harte Pferderücken fühlte sich fremd und ein wenig unbequem an und durch die Bewegung des Tieres wurde Jean vor und zurück geschaukelt. Sie sah den Boden unter sich vorbeiziehen und schluckte erschrocken. Nie hätte sie erwartet, auf einem Pferd der sicheren Erde so weit entfernt zu sein! Das Büschel Mähnenhaar gab ihr nur wenig Halt. Es war schwieriger als es aussah, sich dort oben im Gleichgewicht zu halten.

Chris bemerkte es. „Entspann dich!“, rief er. „Du brauchst keine Angst zu haben. Lady tut keiner Fliege was zuleide!“

„Ich will nur nicht herunterfallen!“

„Wirst du nicht! Vertrau mir!“

Runde um Runde zog Lady ihre Bahnen in der Umzäunung. Ganz allmählich verlor Jean ihre Unsicherheit. Von hier oben hatte sie einen weiten Blick über die Ranch und alles wirkte mit einem Mal ganz anders als zuvor, viel weiter und größer. Ihr gefiel das Geschaukel des Pferderückens noch besser, als sie es sich in ihren Träumen je ausgemalt hatte. Irgendwie glaubte sie, hier ihrer ersehnten Freiheit ein Stück näher zu sein – der Freiheit, für sich selbst zu entscheiden und auch in London ihren Interessen nachgehen zu dürfen, zu denen sie sich bislang nicht getraut hatte zu stehen.

Es schien nur kurze Zeit, viel zu kurz, bis Chris erklärte: „Okay, für heute ist es genug!“ Er hielt die Stute in der Mitte des Corrals an und schaute prüfend zu Jean hinauf.

„Schade…“ Ihre Finger streichelten über das weiche Fell des Pferdes.

„Du wirst ab sofort ja öfter Gelegenheit haben!“ Er grinste. „Zum Absteigen das rechte Bein nach hinten über den Rücken schwingen!“

Jean überlegte, wie sie dies anstellen sollte und kam schließlich seiner Aufforderung nach. Der Schwung, mit dem ihr rechtes Bein über die Kruppe des Pferdes schwang und sie zu Boden riss, war stärker als erwartet und bei der Landung verlor sie das Gleichgewicht. Hätte Chris sie nicht noch geistesgegenwärtig mit einem Arm an der Taille gepackt, sie wäre im Sand der Arkin Ranch gelandet.

Unangenehm berührt, dass es nicht so funktioniert hatte wie gewünscht, murmelte sie verlegen: „Danke.“

Sie spürte seinen Blick und fühlte seinen Atem, der an ihrem Haar entlang strich. Noch nie war sie einem Mann, abgesehen von ihrem Vater, so nahe gekommen. Sie wollte von ihm zurücktreten, doch er hatte sie bereits losgelassen.

Jean wagte es, den Blick zu heben. Chris betrachtete sie noch immer aus seinen hellbraunen Augen, die an den Sand der Prärie erinnerten, wobei ein kaum merkliches Lächeln um seine vollen, geschwungenen Lippen spielte.

„Ich glaube, aus dir könnte eine ganz hervorragende Reiterin werden.“

Er nahm Ladys Führstrick und ging mit ihr zum Tor, das Amy für ihn öffnete. Regungslos starrte Jean ihm nach. Seine Worte und seine Gegenwart brachten sie auf eigenartige Weise völlig aus der Fassung. Nie zuvor hatte sie solche Emotionen erlebt. Sie würde zu Fuß hinüber zur Hütte gehen, anstatt ihren Vater anzurufen. Sie musste ein wenig alleine sein. Das Gefühl auf diesem Pferd, alles, was ihr heute widerfahren war, verwirrte sie und sie wusste in ihrem tiefsten Inneren, dass etwas mit ihr geschehen war – etwas, das sich niemals wieder würde auslöschen lassen.

* * *

Die Schule startete Anfang des neuen Monats für die beiden Schwestern und Jean konnte sich freuen, mit Amy in einer Klasse zu sein. Patty hingegen kannte noch niemanden, als sie die Schule von Summersdale das erste Mal betrat. Diese Tatsache konnte das selbstbewusste, junge Mädchen jedoch nicht stören. Sie sah es mehr als Wettstreit an, sofort der neue Klassenliebling zu werden, mit dem alle anderen Mädchen befreundet sein wollten und der die Jungs auch aus den höheren Klassen im Schulhof hinterher pfiffen. Sie wusste ihre Schönheit gezielt einzusetzen. Mit grazilen Bewegungen lief sie täglich den Flur der Schule entlang, gefolgt von ihren neugewonnenen Freundinnen oder denen, die sich zumindest dafür hielten und nur nicht verstanden hatten, dass sie für Patty lediglich ein Mittel zum Zweck waren, um ihren Status als unübertroffene Königin der Schule zu unterstreichen.

Patty hatte noch nie Probleme gehabt, sofort Anschluss zu finden oder gleich die Führung zu übernehmen. Sie hatte nicht nur äußerlich sehr viel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, auch im Wesen waren ihre Parallelen nicht abzustreiten. Das unerschütterliche Selbstbewusstsein und die ausgeprägte Arroganz waren wohl die beiden herausstechendsten Eigenschaften, doch ihre faszinierende Schönheit machte es möglich, dass weder Patty, noch Rachel jemand diese übelzunehmen schien. Ihre äußerliche Makellosigkeit blendete ihre Mitmenschen und zog sie gleichzeitig in ihren Bann. Jedes Mädchen wollte so schön und begehrenswert sein wie Patricia van Haren und genauso von den Jungs angehimmelt werden. Natürlich gab es auch Neiderinnen, doch die konnten Pattys Selbstverliebtheit nicht im Mindesten beeinträchtigen. Sie hatte sich vorgenommen, in dem einen Jahr in den Staaten das beliebteste Mädchen der Schule zu werden und das würde ihr auch gelingen.

Das Gegenteil zu ihrer jüngeren Schwester war hingegen Jean. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass Amy in ihre Klasse ging und sie sich erst einmal an die Rancherstochter halten konnte. Diese machte sie mit allen Mitschülern bekannt und so brauchte Jean nicht selbst auf die Klassenkameraden zuzugehen, was ihr ohnehin mehr als schwergefallen wäre.

Meistens verbrachte sie auch die Zeit nach der Schule mit Amy und fuhr mit ihr auf die Arkin Ranch, wo sie gemeinsam Hausaufgaben machten und danach zum Reiten gingen oder sich um die Pferde kümmerten. So entstand zwischen Jean und Patty eine noch größere Kluft, als sie ohnehin bereits vorhanden war. Beide sahen sich nur noch selten und wechselten auch nur noch wenige Worte miteinander. Es blieb beim oberflächlichen Austausch der wichtigsten Informationen ihrer beider Leben, ohne, dass die eine sich mehr um die Angelegenheiten der anderen kümmerte als notwendig.

* * *

Im offenen, aus großen, rauen Steinen erbauten Kamin knisterte das herunterbrennende Feuer und hüllte den Raum in rauchige Wärme. Draußen hatte die Dunkelheit die Sonne vertrieben und die Cowboys waren längst entweder nach Hause, zu ihren Familien gegangen oder in der Unterkunft verschwunden. Durch das Fenster seines Arbeitszimmers, neben dem mächtigen, antiquarischen Bücherregal konnte der Ranchbesitzer sehen, dass Licht im Bunkhouse brannte – wie beinahe jeden Abend spielten die Männer noch Karten. Amy hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und Abigail, ihre Haushälterin, hatte längst Feierabend und war nach Silvertown, zu ihrem Mann in ihr kleines Häuschen zurückgefahren.

Konzentriert saß Ben hinter seinem riesigen Mahagonischreibtisch über einer Reihe Rechnungen, die sich im Laufe der vergangenen Woche angesammelt hatten. Bisher war er nicht dazu gekommen, sie abzuarbeiten. Auch heute Abend war er im Grunde viel zu müde, um sich ihnen noch lange zu widmen. Den Nachmittag hatte er bei der Stadtratsversammlung in Silvertown verbracht, wo die letzten großen Beschlüsse zum Start der Touristensaison gefällt worden waren. Wie immer waren Stunden darüber vergangen und jeder der Stadträte hatte seine Ansichten und Kommentare mindestens zweimal wiederholt, bevor endlich eine Entscheidung getroffen worden war. Bisweilen fiel ihm diese Aufgabe auf die Nerven. Wieso konnte dies alles nicht unkomplizierter und ohne große Debatten geregelt werden?

Erschrocken zuckte Ben aus seinen Überlegungen hoch – es klopfte leise scheppernd an der Haustür.

„Ach, richtig!“ Ahnend ging er zur Türe und trat erfreut einen Schritt beiseite. „Guten Abend, Matt! Komm rein!“

Die beiden Männer schüttelten sich kurz die Hand.

„Zu lange kann ich leider nicht bleiben, sonst schöpft meine Frau am Ende noch Verdacht“, bedauerte der Arzt und verzog entschuldigend das Gesicht. „Sie weiß ja, wann Feierabend ist und zur Zeit ist sie nicht gerade bester Laune. Der Architekt arbeitet ihr nicht schnell genug. Eine Diskussion ertrage ich heute beim besten Willen nicht mehr! Es war ein verdammt harter Tag!“

„Das wollen wir natürlich nicht riskieren!“ Ben ging ihm voraus ins Arbeitszimmer. „Cognac?“

„Oh – ein Gläschen nach einem anstrengenden Arbeitstag dürfte auch einem Chirurgen nicht schaden.“ Dankend nahm Matt nach einer auffordernden Handbewegung des Ranchbesitzers in einem der beiden schwarzen, tiefen Ledersessel vor dem Kamin Platz.

 

„Die scheinen dich in der Klinik ja dringender zu brauchen, als erwartet!“ Ben reichte Matthew das volle Glas. „Bist du zufrieden?“

„Es ist natürlich ein gewaltiger Unterschied zu dem, was ich aus London gewöhnt bin. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich unserem Leiter mal ein wenig unter die Arme greifen, aber es ist sehr viel zeitraubender, in einem kleinen, nicht so anonymen Krankenhaus arbeiten zu können. Man verbringt viel mehr Zeit mit den einzelnen Patienten.“ Er stockte. „Und die einzelnen Fälle berühren einen wesentlich tiefer, als ich das je zuvor erlebt habe.“

Verständnisvoll nickend ließ Ben sich ihm gegenüber, im anderen Sessel, nieder. „Der Mensch ist anpassungsfähig – jedenfalls wenn er will.“

Matt zog die Brauen hoch. „Wenn er will, ja.“ Nachdenklich starrte er in sein Glas. „Rachel hat damit keinerlei Mühe, jedenfalls inzwischen nicht mehr. Sie hat sich gestern einen neuen Cadillac gekauft, in marineblau mit passenden Ledersitzen! Und sie möchte die Damen von Summersdale für die neueste Mode begeistern und einen Verein gründen!“

Bei dieser Vorstellung musste Ben schmunzeln. „Beides äußerst interessante Aspekte. Bis zum Wintereinbruch kommt sie mit diesem Auto ohne Probleme zu eurer Hütte hinaus. Bei Schnee wird sie allerdings wohl oder übel ihre Beine benutzen müssen!“

Matthew verdrehte Augen. „Falsch! Dann werde ich meine Kondition trainieren dürfen und sie wird meinen Jeep in Beschlag nehmen!“

„Ich bin ja gespannt, ob sie unsere Damen hier mit Mode begeistern wird können. Die meisten haben keinen Gebrauch dafür“, meinte Ben, wie nebenbei, und nahm einen kräftigen Schluck des Cognacs.

„Hmm.“ Matt legte den Kopf schief und überlegte kurz. „Sie steckt schon mitten in ihren Planungen für diesen Club, mit dem sie durch ganz Amerika reisen will. Manchmal bekomme ich sie tagelang nicht zu Gesicht. Rachel findet schnell Leute, in deren Gegenwart sie sich gut aufgehoben fühlt.“ Er stockte. „Und bei Patty ist es nicht viel anders.“

„Tja“, machte Ben und schürzte die Lippen. „Sie hat eindeutig die Gene ihrer Mutter.“

„Sie ist das Abbild ihrer Mutter in jungen Jahren“, verbesserte Matt rasch. „Zum Glück ist Jean bodenständiger und bei Amy in besten Händen!“

„Ich dachte“, gestand Ben und kam sich dabei fast lächerlich vor, „ich könnte deiner jüngeren Tochter auch die Natur und unser Land näherbringen und sie vielleicht sogar ein wenig dafür begeistern, genau wie Jean. Sie hat sehr viel Talent fürs Reiten, weißt du das?“

„Ach – der Ausflug, als Rachel und ich einen dreistündigen Gewaltmarsch hinter Stevie Bentley her, quer durch ganz Silvertown absolvieren durften!“ Matt lachte leise auf und probierte das teure Getränk, das ihm schon nach dem ersten Schluck im Hals brannte. „Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob Patty je erfahren hat, was das Wort Erziehung überhaupt bedeutet.“

„Damals schien sie sich jedenfalls nur dunkel daran zu erinnern“, meinte Ben ungeniert und verzog das Gesicht zu einem versöhnlichen Lächeln.

„Details solltest du mir meinen Nerven zuliebe besser ersparen!“

„Na, wenigstens hast du mit Jean ein wenig mehr Glück“, warf Ben schmunzelnd ein. „Sie passt ja irgendwie so gar nicht zum Rest deiner Familie…“

„Wahrhaftig nicht!“ Matthew seufzte tief und hörbar. „Sie hat zu viel von mir mitbekommen. Das ist in unserer Gesellschaft nicht gut. Sie hat sich dort noch nie zurechtgefunden und ich fürchte, sie wird es auch niemals ernsthaft tun.“

„Hmm...“ Bens Gedanken arbeiteten angestrengt. „Dann hat sie zumindest jetzt die Möglichkeit, ihren eigenen Weg zu finden. Oder glaubst du, Patty wird sich später viel von deiner Frau unterscheiden?“

Nur ungern ging Matt auf dieses Thema ein. Es bereitete ihm häufig genug Kopfzerbrechen und er hatte sich angewöhnt, es beiseitezuschieben und bestmöglich zu verdrängen.

„Manchmal frage ich mich, wo ich da hineingeraten bin.“ Seine Stirn legte sich in tiefe Sorgenfalten. „Zu Anfang unserer Ehe war alles vollkommen anders. Damals stand Rachel hinter dem, was ich entschieden habe und sie hat mich dabei unterstützt. Sie war da, wenn ich sie brauchte und hatte nicht bloß ihre eigenen Interessen im Kopf. Wäre nur dieses verfluchte Erbe nicht gewesen!“

Fragend legte Ben den Kopf schief. Seine linke Augenbraue bog sich in gewohnter Manier nach oben, wenn er stark über etwas nachdachte.

Matthew seufzte, als er den Blick des anderen Mannes bemerkte und fuhr erläuternd fort: „Rachels Vater besaß eine nicht unbedeutende Textilfabrik. Sie war seit ihrer Jugend seine Privatsekretärin, weil die Mutter früh verstorben ist und hat alle wichtigen Dinge für ihn geregelt.“

„Sie hat studiert?“

„Nein. Sie hätte beginnen sollen, Betriebswirtschaft zu studieren, ja. Allerdings kam es nie dazu, weil, nun ja, leider kam ich dazwischen! Ich – der einfache, nichtssagende Medizinstudent, neun Jahre älter und sie – die reiche, vergötterte und von allen angehimmelte Tochter eines angesehenen, harten Mannes, der nie über den frühen Tod seiner Frau hinweggekommen ist. Rachel war für ihn der einzige Ersatz. In ihr lebte seine Frau weiter und sein ganzes Leben hat sich nur um seine Tochter gedreht. Er hat ihr alles zu Füßen gelegt, was sie sich nur erträumte. Er entschied für sie und sie ist von klein an gewohnt, alles, was sie will, zu bekommen, ohne etwas dafür tun zu müssen. Als er vor zehn Jahren starb, fiel das gesamte Vermögen an Rachel: Die Firma, die Immobilien, die Aktien und Wertpapiere, das Barvermögen, die Antiquitäten… Wir haben heimlich geheiratet, ohne ihren Vater und nur mit zwei guten Freunden als Trauzeugen. Ihren eigenen Willen besaß sie schon immer!“ Er seufzte tief. „Oh, ich entsprach keineswegs den Vorstellungen von Mr. van Haren senior! Ein Geschäftsmann hätte ins Haus gehört, einer, der etwas von seinem dubiosen Wertpapierhandel versteht und vor allen Dingen von Textilien! Kein Wunder, dass er mich in seinem Testament keines Wortes bedacht hat. Allerdings zeigte auch Rachel keinerlei Interesse daran, die Hinterlassenschaften ihres Vaters fortzuführen. Wozu auch? Das meiste davon hat sie gewinnbringend verkauft: Die Firma ging an das höchstbietende Konkurrenzunternehmen, bis auf die Villa verschacherte ihr Anwalt sämtliche Immobilien zu Wucherpreisen und ein Teil der antiquarischen Einlagerungen ging an Museen oder private Sammler. So waren wir zwar hinterher an Sachgegenständen ärmer, aber auf dem Bankkonto um noch mehr Stellen vor dem Komma reicher und das konnte Rachel durchaus befriedigen.“

„Du hast dich also für deine Frau entschieden, obwohl du wusstest, was dich erwartet“, sagte Ben.

„Keine Ahnung, ob…nein, falsch.“ Matt schüttelte den Kopf. „Eigentlich war mir durchaus bewusst, worauf ich mich einlasse.“ Er lächelte und ein merkwürdiger Ausdruck legte sich auf seine schmalen Gesichtszüge. „Zum ersten Mal getroffen haben wir uns auf der Feier zu Ehren ihres Vaters, der der Universität einen neuen Chemiesaal gesponsert hat. Sie stand dort oben, auf der Bühne, in einem berauschenden Kleid aus weißer Organza, mit roten Stickereien besetzt. Sie war so wunderschön! Der Himmel weiß, woher ich den Mut genommen habe, sie hinterher anzusprechen. Es war wie ein Zwang, ich konnte nicht anders, ich musste sie um ein Treffen bitten. Du hast keine Vorstellung, wie schön sie war…“

Er sah sie vor sich, wie sie damals die Stufen herabschwebte, auf ihn zukam, charmant lächelte. Von dieser Sekunde an hatte er sie geliebt, liebte sie mehr, als er es selbst begreifen konnte, würde niemals wieder von ihr los kommen. Und Rachel? Was empfand sie für ihn? Liebte sie ihn auf dieselbe Weise? Nein, das war seine Illusion, der er sich immer dann hingab, wenn ihr gemeinsames Leben wieder einmal in völlig unterschiedlichen Richtungen verlief.