Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann"

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II Zwischen brieflicher Narration und heterodiegetischem Erzähler

Eine der auffälligsten formalen Besonderheiten des Sandmanns besteht in seiner Kombination unterschiedlicher Erzählformen. Der Text beginnt – ohne jede Vorrede – mit der Präsentation dreier Briefe, die die Vorgeschichte sowie die Exposition der nachfolgenden Handlung darlegen. Hoffmann bedient sich mit diesem Beginn der seit Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Héloїse und Goethes Werther europaweit ebenso beliebten wie produktiven Brieferzählung bzw. des Briefromans, der die Handlung aus der Sicht einer oder mehrerer Briefschreiber entfaltet. Der ästhetische Vorzug und Grund der Beliebtheit dieser Erzählform besteht in der erlebten Nähe zu den Figuren, weil sich im Brief nicht nur die sprachlich-reflektierte Subjektivität, sondern auch die emotive Individualität des Schreibers direkt umsetzen lässt. Mit dem Beginn einer Briefreihe befindet sich der Leser mitten im Bewusstsein, medium in personam der Protagonisten einer Erzählung (vgl. Miller 1968, 135–214), und so auch bei Hoffmann: Der erste Brief der Erzählung stammt von Nathanael, der zentralen Figur des Sandmanns, der nicht nur den Grund seines Schreibens mit dem Eintreten eines »Entsetzliche[n] […] in mein Leben« (9/[3]) angibt, sondern auch die hierfür konstitutive Vorgeschichte aufgewühlt schildert.

Dabei enthält dieser Brief nicht nur die entscheidenden Informationen über Vergangenheit und Gegenwart des Schreibers; er liefert zugleich ein Charakterbild Nathanaels durch die Rhetorik seiner Sprachfügungen und den Stil seines brieflichen Schreibens. So präsentiert sich dem Leser ein durch den gewaltsamen Tod des Vaters und dessen für den Briefschreiber nicht vollends durchsichtige Vor- und Verursachungsgeschichte schwer traumatisierter junger Mann, der davon überzeugt ist, dass »ein dunkles Verhängnis wirklich einen trüben Wolkenschleier über mein Leben gehängt hat« (14/[10]).

Den Grund für diese Überzeugung entfaltet der Briefschreiber selbst durch den Bericht seiner Kindheitsgeschichte, die zum einen geprägt wurde durch liebevolle harmonische Familiarität, die aber zum anderen durchbrochen wurde durch des Vaters Leidenschaft für Alchemie. Deren heimliche Ausübungen unter der Ägide eines »Meisters« machten viele Familienabende zu bedrückenden Ereignissen. Nicht nur erweist sich dieser Alchemist, dem sich der Vater bedingungslos unterwirft, lange Zeit als unerkannte Figur, die durch unbedachte Erzählungen der Mutter und der Amme vom Kind mit einem »Sandmann« identifiziert wird, der Kindern die Augen stiehlt, um seine Jungen zu ernähren. Auch erweist sich der tatsächliche Alchemist nicht als Sandmann, sondern als herrschsüchtiger Kinderquäler. Als Nathanael, seinen Ängsten und seiner Neugier nachgehend, die alchemistischen Versuche der beiden Männer heimlich beobachtet, wird er entdeckt und vom Coppelius, so der Name des Alchemisten, derart misshandelt, dass er in ein wochenlanges Fieber verfällt. Nathanael beendet seinen Bericht mit der Schilderung des durch einen misslungenen alchemistischen Versuch bewirkten Todes des Vaters, der die Familie endgültig zerstört, während »Meister« Coppelius sich seiner nachweislichen Schuld durch Flucht entzieht.

All dies kommt dem Studenten Nathanael wieder ins Bewusstsein, weil er glaubt, jenem Coppelius in der Gestalt des Wetterglashändlers Coppola in seiner Universitätsstadt erneut begegnet zu sein: Dies erklärt seinen aufgewühlten Zustand und motiviert das Schreiben des Briefes, in dem er diesen Zustand wiederzugeben versucht.

Nathanael erweist sich in diesem Brief als ein sprachlich eloquenter Jüngling, der an die Existenz Böses bewirkender, metaphysischer Kräfte glaubt, denen er sich rettungslos ausgeliefert sieht. Gleichwohl – und das macht einen entscheidenden Grund für den hochemotionalen Zustand des Briefschreibers aus – sieht er die Gelegenheit gekommen, »des Vaters Tod zu rächen« (15/[12]).

Auch der zweite Brief leistet diese zweifache Darstellungsdimension: Er stammt von Clara, der Verlobten, die auf den Brief Nathanaels zu antworten sucht. Diese Antwort ist ihr aber nur deshalb möglich, weil der Brief ihres geliebten Nathanael – obwohl für ihren Bruder verfasst – vom Schreiber irrtümlicherweise an sie adressiert wurde. Clara nutzt die Gelegenheit, um in einem ebenfalls persönlichen und emotionalen Brief ihren Verlobten davon zu überzeugen, dass jene metaphysischen Mächte, an die er glaubt und von denen er sich beherrscht sieht, lediglich innerpsychische Wirkmächte seien. Nathanaels Glauben an die Objektivität des Wunderbaren, also metaphysischer Mächte, die den Gesetzen der Natur und der Vernunft widersprechen, weil sie sie übersteigen, setzt Clara das Wissen um die Subjektivität jener Erscheinungen entgegen, deren innerpsychische Realität sie keineswegs bestreitet:

»Gerade heraus will ich es dir nur gestehen, dass, wie ich meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon du sprichst, nur in deinem Innern vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte.« (16/[13])

Doch Clara geht in ihrem Brief noch weiter: Sie erklärt ihrem Verlobten nicht nur die allzu wahrscheinlichen Gründe für das Auftreten seiner Glaubensüberzeugungen: die unglückliche Kombination von »Ammenmärchen« über den Sandmann, »dem alten Coppelius« und dem »unheimliche[n] Treiben mit deinem Vater« sowie dessen »trügerische[m] Drange nach hoher Weisheit«, durch den »viel Geld unnütz verschleudert« wurde (16/[13 f.]). Clara liefert mithin so etwas wie eine spätestens seit David Hume (1711–1776) in Europa diskutierte Psychopathologie des religiösen Glaubens.

Darüber hinaus macht sie ihrem Adressaten unmissverständlich klar, dass jeder selbst es ist, der unglückliche Einflüsse zu einer dunklen Macht stilisiert und dass der Einzelne daher frei ist, sich ihr zu unterwerfen oder sich von ihr zu lösen:

»Ich bitte dich, schlage dir den hässlichen Advokaten Coppelius und den Wetterglasmann Giuseppe Coppola ganz aus dem Sinn. Sei überzeugt, dass diese fremden Gestalten nichts über dich vermögen; nur der Glaube an ihre feindliche Gewalt kann sie dir in der Tat feindlich machen.« (17/[15])

Selbst mögliche Einwände ihres an das »Unheimliche« als Ordnungsmacht des Lebens glaubenden Verlobten vermag sie vorwegzunehmen. Dem Vorwurf, sie habe ein »kaltes« – also vernünftiges – »Gemüt«, entgegnet sie entschieden: Auch heitere, unbefangene Charaktere wie sie hätten durchaus eine »Ahnung […] von einer dunklen Macht, die feindlich uns in unserm eignen Selbst zu verderben« (16/[14]) drohe. Clara weist damit also mit Nachdruck den romantischen Vorwurf an die Begrenztheiten aufklärerischer Rationalität zurück.

Der weitere Verlauf der Erzählung wird deutlich machen, dass Clara mit vielen Momenten ihrer sachlich genauen und sprachlich klaren Analyse richtig liegt, dass sie also verstanden hat, dass, warum und woran Nathanael leidet. Diese pathographische Perspektive auf Nathanaels Psyche wird durch den weiteren Verlauf der Handlung bestätigt. Gleichwohl überschätzt Clara aber die Leistungsfähigkeit ihrer epistolaren »Aufklärung«, die in der schlichten Aufforderung zur heiteren Vernünftigkeit ihre praktische Seite hat. Zu Recht hält ein Interpret fest, dass ihre zutreffende »Diagnose […] noch keine Therapie« (Saße 2004, 99) sei. Clara ist also nicht, wie ihr Nathanael in seinem zweiten Brief und einige Zeitgenossen vorwerfen, zu vernünftig, mithin »kalt, gefühllos, prosaisch« (21/[21]). Vielmehr mangelt es ihr an einem angemessenen Verständnis zum therapeutischen Umgang mit der Krankheit ihres Verlobten, sie ist also nicht vernünftig genug, was für sie beinahe tödliche Folgen haben wird.

Nach diesem Entree in die Erzählung mit Hilfe dreier Briefe der beiden Protagonisten, die dem Leser sowohl den Charakter Nathanaels als auch denjenigen Claras anschaulich vorführen und dabei die entscheidenden Ereignisvoraussetzungen aus der Sicht der beiden Figuren entfalten, setzt ein außerhalb der Erzählung stehender, heterodiegetischer Erzähler die weitere Narration fort. Allerdings wird dieser erzähltechnisch ungewöhnliche Sachverhalt vom Erzähler selbst kommentiert, und zwar dadurch, dass er die Gründe für den Einsatz der Erzählung mit den Briefen der Protagonisten selbst angibt. In einer launigen, von ironischen Distanzierungssignalen geprägten Weise, die an die reflektierenden Erzähler Henry Fieldings (1707–1754) und Christoph Martin Wielands (1733–1813) erinnert, wird über die Schwierigkeit des Erzählens von Sachverhalten berichtet, die die Psyche eines Erzählers in besonderer Weise angehen und beherrschen. Zwar sei er von niemandem gebeten worden, doch empfinde er ein tiefes Verlangen, »von Nathanaels verhängnisvollem Leben zu dir [d. i. dem Leser] zu sprechen« (19/[18]). Weil er aber aufgrund seiner starken emotionalen Beteiligung keinen passenden Anfang gefunden habe, habe er beschlossen, »gar nicht anzufangen« (20/[19]) und mit den schon präsentierten Briefen seiner Figuren einzusetzen.

Erkennbar spielt der Erzähler hier ein doppeltes Spiel:5 Sein Bekenntnis zu einer begrenzten Leistungsfähigkeit in der Erzählung aufwühlender Sachverhalte lässt allererst die sprachliche Meisterschaft Nathanaels deutlich erkennen; das intersubjektive Desinteresse – niemand hat gefragt – an der nachfolgenden Geschichte erhöht die Neugierde des Lesers auf eine Begebenheit, die dem Erzähler so nahegeht, dass er sie kaum zu berichten vermag und zum – angeblich authentischen – Brief als Hilfsinstrument greift. Hoffmann spielt also – wie das Gros der Briefromane im 18. Jahrhundert – mit einer Authentizitätsfiktion (vgl. Anton 1995).

Darüber hinaus legitimiert er den epistolarischen Beginn und dessen abruptes Ende im Übergang zu einer Erzählweise, die zuvor die Briefform ausschloss (vgl. Picard 1971, S. 19 f.). Nur an dieser Scharnierstelle zwischen Brieferzählung und dem Auftritt des heterodiegetischen Erzählers tritt dieser sich selbst kommentierend auf, um den Bruch mit den Konventionen des Erzählens mit »Nathanaels verhängnisvollem Leben« (19/[18]) zu verknüpfen. Das Unverfügbare des Unheimlichen bedient sich der Verbindung des Unvermittelbaren: Briefform und starker Erzähler. Unter formalen Gesichtspunkten kann man die Erzählung folglich in drei Teile gliedern: 1. die drei Briefe; 2. die sich selbst kommentierende Erzählerreflexion und 3. den weiteren Bericht der Geschichte Nathanaels durch den Erzähler.

 

III Glauben und Wissen – das »Unheimliche« im Konflikt der Erkenntnisformen

Das ebenso problematische wie komplexe Verhältnis zwischen Glauben und Wissen, das in der immer wieder versuchten und doch unmöglichen Liebe zwischen Nathanael und Clara ausgetragen wird, prägt viele philosophische, einzelwissenschaftliche und literarische Debatten um 1800. So zeigt der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) in einer seiner frühesten Schriften,6 dass sich beide Erkenntnisformen gerade durch den Prozess der Aufklärung gegenseitig ebenso ausschließen wie bedingen, ohne diese erzwungene Abhängigkeit zu reflektieren (Hegel 1986).

Um dieses komplexe Verhältnis von Glauben und Wissen als einem entscheidenden Verständnishorizont der Erzählung präzise und anschaulich herauszuarbeiten, bedient sich der Erzähler in der Folge nach seinem Selbstkommentar verschiedener Techniken: Nach einer kurzen Ergänzung zur Vorgeschichte, die Nathanaels Leben in der Familie Claras und Lothars darstellt, gibt er eine ausführliche Charakteristik Claras, die den Handlungsverlauf zunächst nicht vorantreibt. Dabei erweist sich die weibliche Protagonistin zwar nicht als schöne, wohl aber als moralisch integre Person, was schon an ihrer Physiognomik abzulesen sei. Darüber hinaus sei sie mit »lebenskräftige[r] Fantasie« ausgestattet, vor allem aber durch einen »hellen scharf sichtenden Verstand« (21/[20]) ausgezeichnet, was ihr (nach zeitgenössischen Vorstellungen als Frau) den Vorwurf der Gefühllosigkeit einträgt. Insgesamt aber wird die Figur der Clara nicht nur durch ihren Brief, sondern auch vom Erzähler ausnehmend positiv gezeichnet.7

Nathanael dagegen erlebt durch das Treffen mit dem Wetterglashändler eine Bestätigung und Verschärfung seines Hanges zu den ir- bzw. transrationalen Vermögen des Menschen und dem mit ihrer Hinnahme bzw. sogar Nobilitierung einhergehenden religiösen Selbst- und Weltverhältnis. Im Zentrum dieser Einstellung steht die Überzeugung von der grundlegenden Unfreiheit des Menschen:

»Recht hatte aber Nathanael doch, als er seinem Freunde Lothar schrieb, dass des widerwärtigen Wetterglashändlers Coppola Gestalt recht feindlich in sein Leben getreten sei. […] Er versank in düstre Träumereien, und trieb es bald so seltsam, wie man es niemals von ihm gewohnt gewesen. Alles, das ganze Leben war ihm Traum und Ahnung geworden; immer sprach er davon, wie jeder Mensch, sich frei wähnend, nur dunklen Mächten zum grausamen Spiel diene, vergeblich lehne man sich dagegen auf, demütig müsse man sich dem fügen, was das Schicksal verhängt habe.« (21/[21])

Die erkenntnistheoretische Nobilitierung von Träumen und Ahnungen als Nacht- und Tagträume gehört zu den Grundzügen einer rationalitätskritischen Romantik, und zwar nicht allein in der Dichtung, sondern auch in den Wissenschaften. Die von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) ausgehende romantische Naturforschung beschäftigte sich ausführlich mit diesen Vermögen des Menschen, weil sie wie Johann Heinrich Schubert (1800–1885) davon überzeugt war, dass der Mensch im Zustand des Traumes mit dem Jenseits kommuniziere und so einen höheren Bewusstseinszustand erreiche. Daher zählte es zu den Aufgaben des romantischen Wissenschaftlers, solche Träume zu deuten (vgl. u. a. Schubert 1968).

Nathanael ist vor diesem Hintergrund gleichzeitig Wissenschaftler und sein eigener Proband, der Clara gleichsam als Publikum nutzt und ihr seine Träume und Ahnungen berichtet und sie gleichzeitig auch noch deutet. Darüber hinaus geht es Nathanael aber auch darum, Clara von seinem religiösen Weltverhältnis zu überzeugen, d. h., »Claras kaltes Gemüt dadurch« zu entzünden. Diese Überzeugungsabsicht gilt aber auch für Clara: Zwar vermeidet sie es weitgehend, sich gegenüber der »mystische[n] Schwärmerei« ihres Verlobten »auf Widerlegung einzulassen« (22/[21 f.]), weil sie darum weiß, dass Glauben und Wissen in den von beiden ausgetragenen Formen sich durch den ›zwanglosen Zwang des besseren Arguments‹ nicht vermitteln lassen. Gleichwohl sucht sie dem Treiben ihres geliebten Nathanael Einhalt zu gebieten, wenn er erneut über die Objektivität des dämonischen Prinzips reflektiert, das ihn in der Misshandlung des Coppelius erfasst habe. Sie wiederholt allerdings schlicht ihre Psychologisierung aus dem oben zitierten Brief, was nur erneut an Nathanael abprallen kann; der Glaube – in welcher Form auch immer – lässt sich und seine Überzeugungen nicht psychologisieren, er kann und darf dies auch nicht, zerstörte er damit doch jeglichen Anspruch auf die Wahrheit und den damit verbundenen Anspruch auf Normativität.

Neben dieser eher kontraproduktiven Reproduktion ihres Standardarguments, das Nathanael nur stets wütender macht, unterlaufen ihr andere Ungeschicklichkeiten in der Begegnung mit der religiösen Melancholie ihres Verlobten: So macht sie sich über einzelne Überzeugungen lustig, indem sie metaphysische Prinzipien zu Alltagsproblemen herabsetzt; außerdem bringt sie deutlich zum Ausdruck, dass sie Nathanaels Dichtungen, mit denen er seinen Überzeugungen ein Ausdrucksmedium bieten will, langweilig findet: Dabei wird jedoch deutlich, dass »[n]ichts […] für Clara tötender« war »als das Langweilige« (22/[22 f.]). Letztlich befiehlt sie ihrem Geliebten, eine größere Dichtung, in der dieser seine Ängste und Ahnungen über den gewaltsamen Tod der beiden in die für ihn prägendsten Bilder fasste, als »tolle[s] – unsinnige[s] – wahnsinnige[s] Märchen« (24/[25]), mithin als Produkt einer kranken Seele, ins Feuer zu werfen.

Diese ebenso verständliche wie unangemessene Reaktion Claras führt zu einem erneuten Streit, in dessen Verlauf Nathanael seine Verlobte als »lebloses, verdammtes Automat« (24/[25]) beschimpft und deshalb von Lothar zum Duell gefordert wird, das Clara nur mit knapper Not und der Androhung eines Selbstmordes abzuwenden vermag. Der Prozess der zunehmenden Verschärfung der religiösen Überzeugungen und damit der Pathogenese8 Nathanaels sowie der damit notwendig einhergehenden Eskalation der Kontroversen mit seiner vernünftigen und psychisch gesunden Geliebten hat damit einen ersten Höhepunkt erreicht, dessen tödliche Gefahren nur äußerlich abgewehrt werden konnten. Dies gelang u. a. deshalb, weil Nathanael durch die Bereitschaft Lothars und Claras, die Situation zu deeskalieren, besänftigt werden kann; besänftigt, jedoch nicht geheilt, wie der weitere Verlauf der Handlung zeigen wird. Der Konflikt zwischen Glauben und Wissen, die sich gegenseitig hervorbringen, ausschließen und als solche jedoch ebenso anziehen, kann und wird nur tödlich enden.

IV Pathologische Liebe und die moderne Wissenschaft

Auch im letzten Teil der Erzählung, die mit Macht auf den Tod des Protagonisten zusteuert, dient das komplex sich durchdringende Verhältnis von Glauben und Wissen der Handlung als Motor. Dabei scheint Nathanael bei seiner Rückkehr an seinen Studienort »G.« zunächst tatsächlich geheilt. Zwar war während seiner Abwesenheit das Wohnhaus, in dem er ein Studentenzimmer hatte, abgebrannt; seine Freunde hatten jedoch Bücher und weitere Habseligkeiten gerettet, so dass er das Studium unmittelbar fortsetzen kann, und zwar in einem Zimmer, das nahe der Wohnung seines Professors für Physik, d. h. der Naturwissenschaften, Spalanzani liegt.

Dass Nathanael geheilt scheint, eröffnet ausgerechnet eine erneute Begegnung mit dem Wetterglashändler Coppola, der ihm dieses Mal allerdings Brillen und Ferngläser anbietet. Allein dadurch, dass der der deutschen Sprache nur mäßig mächtige Glashändler die Brillen als Augen bezeichnet, »sköne Oke« (25/[27]), vermag er Nathanael zunächst tief zu verunsichern. Der in der Vielzahl ausgepackter Brillen eine unendliche Anzahl bunter Augen erblickende Nathanael scheint sein waches Bewusstsein zu verlieren, mithin eine fixe Idee zu verfolgen,9 und fleht schreiend um ein Ende des Augenspukes. Als Coppola die Brillen daraufhin einpackt und ihm Ferngläser anbietet, beruhigt sich Nathanael: »Sowie die Brillen fort waren, wurde Nathanael ganz ruhig und an Clara denkend sah er wohl ein, dass der entsetzliche Spuk nur aus seinem Innern hervorgegangen […]« (26/[28]). Auch nachdem Coppola ihm ein Fernglas verkauft und sich unter höhnischem Gelächter verabschiedet hat, das Nathanael als Spott über einen zu hohen Preis interpretiert, kommt er auf Clara zurück: »›Clara‹, sprach er zu sich selbst, ›hat wohl Recht, dass sie mich für einen abgeschmackten Geisterseher hält‹« (27/[29]). Und so scheint er mit Hilfe der Gedanken an Clara auch deren Überzeugungen übernommen zu haben.

Nathanaels Heilung bleibt jedoch eine scheinbare: Nicht nur ist jeder Versuch einer rationalen Erklärung seiner Ängste stets an die Person seiner Geliebten gebunden, an die zu denken ihm einzig Beruhigung vor den eigenen Ängsten verschafft. Auch bleibt diese Haltung zerbrechlich, weil sie durch äußere Einflüsse schnell unterminiert werden kann.

Es ist aber eben dieses mehr zufällig und um Coppola loszuwerden gekaufte »Taschenperspektiv«, also ein kleines Fernglas, das die zerstörerische Resthandlung in eigentümlicher Weise befördern wird. Mit Hilfe dieses Instruments zur Blickerweiterung ist es ihm nämlich möglich, die im Nachbarhaus wohnende Tochter Spalanzanis zu beobachten. Schnell erkennt Nathanael mit seinem erkenntniserweiternden Augenglas, dass Olimpia, so der Name jenes Mädchens, von ausgewählter Schönheit ist, die den Beobachter magisch anzieht.

Die Instrumente einer naturforschenden Aufklärung können, so zeigen diese Passagen der Erzählung, unter bestimmten Bedingungen, nämlich bestimmten psychopathologischen Voraussetzungen derer, die sich ihrer bedienen, zum Mittel einer Verdunklung und Krankheitsverschärfung werden. Dass solche Prozesse in kürzester Zeit vonstattengehen können, weil sie auf weltanschaulich oder pathologisch empfängliche Seelen treffen, dokumentiert der Text anschaulich: Schon wenige Zeilen nach der letzten rettenden Erinnerung an Claras Vorwürfe der Geisterseherei, in denen die tagelangen Beobachtungsversuche Nathanaels geschildert werden, heißt es:

»Olimpias Gestalt schwebte vor ihm her in den Lüften und trat aus dem Gebüsch, und guckte ihn an mit großen strahlenden Augen, aus dem hellen Bach. Claras Bild war ganz aus seinem Innern gewichen, er dachte nichts, als Olimpia […].« (27/[30])

Mit der Verdrängung Claras aus seinem Herzen und seinem Bewusstsein ist das Schicksal des liebestollen Nathanael allerdings besiegelt. Wendet sich der überzeugte Glaube von der vernünftigen Welthaltung vollständig ab, dann gebiert er Ungeheuer, die er nicht mehr zu beherrschen vermag. Dass aber diese Aufklärung durch Spott, Überheblichkeit und autoritäre Ablehnung alles Übersinnlichen jene Voraussetzung für eine hemmungslose Hingabe an die metaphysischen Sehnsüchte des Menschen allererst schuf, ohne dies zu beachten, wird ihr von Hoffmann in Rechnung gestellt.10 Nathanaels Liebe zu Olimpia, Produkt scheinbar reiner Beobachtung, in Wahrheit jedoch narzisstischer Selbstbespiegelungen (vgl. Neymeyr 1997), ist ebenso Ausdruck wie Beförderung seiner Krankheit zum Tode (vgl. Schmidt 1981).

Diese nimmt im Zuge der fortschreitenden Verfestigung der Liebesbeziehung stets konkretere Formen an: Zunächst kommt es zu einer ersten, allerdings gleich stürmischen Begegnung im Rahmen eines großen Festes, eines »Konzert[s] und Ball[s]« (27/[30]), das Spalanzani für die Universitätsgesellschaft ausrichtet und auf dem er seine Tochter, die er bis dato nur im Hause hielt, der Öffentlichkeit zu präsentieren gedenkt. Tatsächlich kommt es zu diesem Auftritt und einer Begegnung zwischen dem Studenten und der Professorentochter, allerdings erst, nachdem Nathanael – als Student in die hinteren Reihen verbannt – den ›Gegenstand‹ seiner Begierde durch das Fernglas betrachtet:

»Ganz unvermerkt nahm er deshalb Coppolas Glas hervor und schaute hin nach der schönen Olimpia. Ach! – da wurde er gewahr, wie sie voll Sehnsucht nach ihm herübersah, wie jeder Ton erst deutlich aufging in dem Liebesblick, der zündend sein Inneres durchdrang.« (28/[31])

 

Erst die schon gleichsam internalisierte Ersatzhandlung des Fernglasblickes auf dem Fest garantiert dem liebestollen Nathanael, dass seine Gefühle erwidert werden. Die verfremdende Perspektive der nahen Ferne ist nicht allein deshalb erforderlich, um die Umgebung auszublenden, sondern auch, um den narzisstischen Projektionsprozess glücken zu lassen. Ohne Coppolas ›Perspektiv‹ hätte sich Nathanael niemals verliebt bzw. dieser Liebe nachgeben können.

Gleichwohl ermöglicht ihm diese Perspektive, einen Schritt auf das geliebte Wesen zu zu machen. Nach Beendigung des Konzerts und Beginn des Balls kann der Protagonist die Professorentochter zum Tanz auffordern und erlebt – ohne dies zu verstehen – nach dem optischen einen zugreifenden, haptischen Projektionsprozess, indem er nicht mehr die Augen mit Liebe, sondern die tote Hand mit Wärme überzieht:

»Eiskalt war Olimpias Hand, er fühlte sich durchbebt von grausigem Todesfrost, er starrte Olimpia ins Auge, das strahlte ihm voll Liebe und Sehnsucht entgegen und in dem Augenblick war es auch, als fingen an in der kalten Hand Pulse zu schlagen und des Lebensblutes Ströme zu glühen.« (28/[31])

Nie zuvor hatte Nathanael solche »Liebeslust« empfunden, und zwar gerade deshalb, weil Olimpia kaum Worte verliert und so zu der widerstandslosen Projektionsfläche wird, die die bedingungslose romantische Liebe erwartet und erfordert. So wie Olimpia schweigen muss, kann Nathanael der Verbalisierung seiner Liebe uneingeschränkt nachgehen; ist Olimipa des Sprechens kaum mächtig, so Nathanael in einer Weise, die jedes Verständnis von sich weist: »Er saß neben Olimpia, ihre Hand in der seinigen und sprach hoch entflammt und begeistert von seiner Liebe in Worten, die keiner verstand, weder er, noch Olimpia.« (29/[32]) Auf dem Weg in den »Wahnsinn«, mithin in die schwere psychische Erkrankung, mit der die romantische Liebe hier identifiziert wird, wird das Sprechen des zunehmend Erkrankenden unverständlicher.

Gleichwohl und trotz des vernehmbaren Spotts anderer Ballteilnehmer über Nathanaels Leidenschaft für eine nahezu sprach- und scheinbar empfindungslose junge Frau nimmt das Verhältnis zwischen Nathanael und Olimpia in der Folge die konkretere Form regelmäßiger, ja täglicher Treffen an, auf denen der junge Mann seiner Geliebten stundenlang aus seinen Papieren vorliest. Die so Angebetete kann dem mit nie enden wollender Geduld zuhören.

Wichtig ist in diesem Stadium der Erzählung, dass die Öffentlichkeit einschließlich seiner Studienfreunde Nathanaels Leidenschaft für die Professorentochter ob deren »Stumpfsinn« (30/[33]) zwar für eigentümlich oder gar deviant (also für nur besonders schwer abweichend vom üblichen Standard), keineswegs aber für pathologisch (also für seelisch krank) hält, weil tatsächlich niemand in dieser Figur eine Puppe bzw. einen Automaten erkennt. Als scheinbar echter Mensch, als Frau aus Fleisch und Blut, erscheint sie nicht nur dem liebestollen Nathanael, sondern auch »der Gesellschaft«, die sich erst später für diesen Betrug an Spalanzani zu rächen weiß. Nur deshalb, weil die beiden Automaten-Ingenieure gute Arbeit geleistet hatten, kann die Katastrophe in Gang gesetzt werden. Natürlich leistet sich Hoffmann mit dieser Konstellation auch eine Kritik am zeitgenössischen (allerdings bröckelnden) Frauenideal, das in der intellektuellen Passivität und körperlichen Makellosigkeit seine wesentlichen Elemente hatte: Nicht allein Nathanael sitzt seinen Vorurteilen und seinen Bedürfnissen auf. Auf dieser Ebene ist der psychisch Erkrankende nur die Allegorie einer in ihre Konventionen verstrickten Gesellschaft (vgl. auch Hilpert 2013).

Zugleich besteht eine entscheidende Voraussetzung für diese Art des Missbrauchs von Vorurteilen zu experimentellen Zwecken in der herausragenden technischen Leistung Spalanzanis und Coppolas, die dem Automaten Olimpia zu einem überzeugenden Anschein von Leben verhelfen. Hatte Nathanael Clara als »lebloses […] Automat« (24/[25]) beschimpft, weil sie seinem Glauben an das radikale Böse als metaphysische Macht kein Verständnis entgegenbringen konnte und wollte, so schenkt er der Lebendigkeit des tatsächlichen Automaten Olimpia deshalb Glauben, weil dieser seine Bedürfnisse nach Projektion bedingungslos erfüllt.

Dieser vom Experimentator Spalanzani beförderte Prozess der Verbindung zwischen Nathanael und der singenden und spielenden Puppe Olimpia geht so weit, dass der junge Student zu einer Verlobung entschlossen ist. Im Moment der geplanten Ringübergabe aber, die den Erfolg des Menschenexperimentes besiegelte, streiten sich die beiden Urheber der täuschend echten Menschenpuppe um ihre Leistungsanteile. Ausgetragen wird dieser Streit zwischen Spalanzani und Coppola an dem Automaten selbst, dessen Besitz und die daran sich anschließenden Einnahmen von beiden beansprucht werden. In ihrem enthemmten Ehrgeiz und Besitzanspruch, als Sinnbild der egoistischen Fundierung aller aufklärerischen Forschung, zerstören sie den Automaten. Und erst durch diese Zerrüttung wird Olimpia für den hinzukommenden Nathanael als Automat, als leblose Puppe erkennbar. Doch nicht diese Erkenntnis selbst wird zur Ursache für die manifeste Störung des Protagonisten. Erst Spalanzanis Aufforderung, den mit der Puppe flüchtenden Coppola zu verfolgen, weil der sein Lebenswerk zerstört und entwendet habe, und die Bekräftigung dieses Befehls durch das Bewerfen Nathanaels mit den am Boden liegenden künstlichen Augen, zerrütten die Psyche des hintergangenen Liebhabers: »Da packte ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen und fuhr in sein Inneres hinein Sinn und Gedanken zerreißend« (32/[38]). Erstmals äußert sich dieser psychische Verfall auch in Gewalt gegen andere: Nathanael versucht, Spalanzani zu erwürgen.