Wörterbuch der Soziologie

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Literatur

Anderson, Craig A.; Huesmann, L. Rowell, 2003: Human aggression: A social-cognitive view; in: Hogg, Michael A.; Cooper, Joel (Eds.): Handbook of Social Psychology, London. – Baron, Robert A.; Richardson, Deborah R., 1994: Human aggression, 2nd ed., New York. – Berkowitz, Leonard, 1993: Aggression. Its causes, consequences, and control, New York. – Bierhoff, Hans-Werner; Wagner, Ulrich, 1998: Aggression – Definition, Theorie und Themen; in: Dies. (Hg.): Aggression und Gewalt: Phänomene, Ursachen und Interventionen, Stuttgart, 2–25. – Bründel, Heidrun; Hurrelmann, Klaus, 1994: Gewalt macht Schule, München. – Heitmeyer, Wilhelm; Hagan, John, 2002: Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Opladen. – Selg, Herbert et al., 1997: Psychologie der Aggressivität, 2. Aufl., Göttingen.

Vincenz Leuschner/Herbert Scheithauer

Aktionsforschung

Aktionsforschung (engl. action research), auch Handlungsforschung genannt, ist eine Art Begleitforschung zu eigenem Praxishandeln oder, in einer Selbstdarstellung, »eine Forschungsstrategie, durch die ein Forscher oder ein Forschungsteam in einem sozialen Beziehungsgefüge in Kooperation mit den betroffenen Personen aufgrund einer ersten Analyse Veränderungsprozesse in Gang setzt, beschreibt, kontrolliert und auf ihre Effektivität zur Lösung eines Problems beurteilt. Produkt des Forschungsprozesses ist eine konkrete Veränderung in einem sozialen Beziehungsgefüge, die eine möglichst optimale Lösung des Problems für die Betroffenen bedeutet« (Pieper in Haag et al., 100/101). Produkt ist also nicht – wie nach der klassischen Wissenschaftstheorie – eine Erhärtung oder Widerlegung einer Hypothese, sondern Gestaltung der Wirklichkeit und eine daraus abgeleitete Beurteilung der Wirksamkeit verschiedener Wandelstrategien.

Der von Kurt Lewin im Rahmen von sozialpsychologischen und -pädagogischen Konflikttherapien entwickelte Begriff wurde in die Soziologie übernommen und sollte insbesondere in den 60er und 70er Jahren des 20. Jh.s ein Versuch zur Verbindung von Wissenschaft und Praxis sein. Der klassischen Wissenschaftstheorie wurde vorgeworfen, ihre Prinzipien von Objektivität und Neutralität führten zur Zementierung der gegenwärtigen Zustände. Demgegenüber müssten Wissenschaftler emanzipatorisch und politisch im Sinne von Beseitigung von Ungerechtigkeit und Naturwidrigkeit wirken; Wissenschaft und soziales Engagement müssten also verbunden werden.

Wichtige Versuchsgebiete waren u. a. frühkindliche Sozialisation, Gastarbeiterintegration, Stadtteilsanierung, Straffälligensozialisation, Organisationswandel und viele Bereiche der Entwicklungshilfe.

Entscheidendes Kriterium war nicht nur die Beteiligung der Wissenschaftler sowohl als Forscher als[15] auch als Praxisveränderer, sondern auch die Einbeziehung der von der Veränderung Betroffenen in alle Phasen von der Planung bis zur Ergebnisfeststellung und -beurteilung. Forschungs- und Praxiszeiten lösten einander in prinzipiell unbegrenzter Zahl ab, gingen aber oft, besonders bei Alternativversuchen, nebeneinanderher und ineinander über.

Damit war nur eine rudimentäre Evaluation möglich, aber keine hypothesenprüfende Forschung. Auch das Gebot der Wertfreiheit war nicht einzuhalten. Angesichts dieser Schwierigkeit ist sie immer mehr in Vergessenheit geraten.

Literatur

Haag, Fritz et al. (Hg.), 1972: Aktionsforschung, München. – Friedrichs, Jürgen, 1990: Methoden empirischer Sozialforschung, 14. Aufl., Wiesbaden, 370–375. – Burns, Danny, 2007: Systematic Action Research, Bristol.

Günter Endruweit

Akzeptanz und Sozialverträglichkeit

Akzeptanz (engl. acceptance) ist die Eigenschaft einer Innovation, bei ihrer Einführung positive Reaktionen der davon Betroffenen zu erreichen. Sozialverträglichkeit (engl. social compatibility) ist die Eigenschaft einer Innovation, sich funktional in eine bestehende Sozialstruktur einpflanzen zu lassen (evolutionärer Wandel) oder eine gegebene Sozialstruktur so verändern zu können, dass sie funktional in die neue Sozialstruktur passt (revolutionärer Wandel). Dabei ist »Innovation« nicht nur auf technische Änderungen (Lucke/Hasse, 17), aber auch nicht nur auf Meinungen, Entscheidungen u. Ä. bezogen zu sehen, sondern als jede Neuheit gegenüber dem Bestehenden. Der methodologische Grundunterschied liegt im subjektiven Ansatz bei der Akzeptanz und im objektiven Ansatz bei der Sozialverträglichkeit (Endruweit, 204–210). In der Forschung ist Akzeptanz, durch Befragung oder Beobachtung ermittelt, ein einfacher, aber hinreichender Indikator dafür, dass eine Innovation nicht nur legal, sondern auch legitim ist. Die empirischen Ergebnisse zeigen große Unterschiede nach Objektbereich und persönlichen Daten der Befragten; selbst die Gesamttendenz in einem so oft beforschten Bereich wie der Technikakzeptanz ist nicht unstreitig (Renn/Zwick, 21). Akzeptanz und Sozialverträglichkeit sind vor allem bei Großprojekten technischer (z. B. Bau von Windkraftanlagen) und politischer (z. B. Reform der Schulorganisation) Art von großer Bedeutung. Das Fehlen von Akzeptanz oder das (auch nur vermeintliche oder angebliche) Fehlen von Sozialverträglichkeit sind häufig Anlass für soziale Bewegungen des Protestes oder Widerstandes.

Literatur

Endruweit, Günter, 1997: Sozialverträglichkeits- und Akzeptanzforschung als methodologisches Problem; in: ders.: Beiträge zur Soziologie, Bd. I, Kiel, 202–218. – Lucke, Doris; Hasse, Michael (Hg.), 1998: Annahme verweigert. Beiträge zur soziologischen Akzeptanzforschung, Opladen. – Renn, Ortwin; Zwick, Michael M., 1997: Risiko- und Technikakzeptanz, Berlin.

Günter Endruweit

Alltagswissen

Unter Alltagswissen (engl. knowledge of everyday life) wird seit Alfred Schütz der Wissensbestand verstanden, der der Lebenswelt des Alltags zuzurechnen ist. Der Alltag ist das Subuniversum der Lebenswelt, in dem wir handelnd und verändernd in die Welt eingreifen können. Anders als im Fall aller anderen subjektiven Erfahrungswirklichkeiten, die sich in unserem Bewusstsein konstituieren – sei es Traum, theoretische Einstellung oder religiöse Erfahrung -, teilen wir den Alltag mit anderen. Wir treten mit ihnen in Interaktion und bringen die Alltagswelt gemeinsam hervor. Die Alltagswelt ist insofern unser grundlegender Erfahrungsraum, als er uns als fraglos gegeben erscheint, alle anderen Welten in ihn hineinreichen und wir aus dem Alltag heraus in diese anderen Welten eintreten. Alltagswissen und Alltagshandeln sind untrennbar miteinander verbunden, da sich der Wissenserwerb im Handeln vollzieht und Handeln ohne Wissen nicht möglich ist. Der Alltagsmensch tritt der Welt in aller Regel in einer bestimmten Einstellung gegenüber: Als Handelnder, der in die Welt eingreift, um so die sich aufdrängenden Probleme seiner Existenz einer Lösung zuzuführen. Die auf diese Weise gekennzeichnete Welt des Alltags wird mithin beherrscht von einem ›pragmatischen Motiv‹. Als kategorialer Begriff [16]meint Alltagswissen damit den Bestand an Lösungen für eben diese Probleme, die mit seiner Hilfe ›problemlos‹ bewältigt werden können und sich deshalb im Alltag nicht als Probleme darstellen. Alltagswissen steht damit symbolischem Wissen gegenüber, das die Erfahrung transzendenter, nicht unmittelbar erfahrbarer Wirklichkeiten ermöglicht. Andererseits dient symbolisches Wissen der Legitimation von Alltagswelten und gibt ihnen ihr je spezifisches symbolisch-pragmatisches Gepräge – den sozialen Feldern der Politik und der Ökonomie genauso wie der Familie oder der Nachbarschaft.

Da Wissen einerseits ein gesellschaftliches Produkt ist, andererseits aber auch subjektiv erworben und verwendet wird, kann zwischen subjektivem und gesellschaftlichem Wissensvorrat unterschieden werden. Der subjektive Wissensvorrat besteht zum großen Teil aus Routinewissen, das uns selbstverständlich erscheint und wiederum in Fertigkeiten, Gebrauchswissen und Rezeptwissen unterteilt werden kann, zum anderen aus explizitem Wissen, das in unterschiedlichem Maße vertraut, bestimmt und glaubwürdig ist. Der gesellschaftliche Wissensvorrat besteht aus Allgemeinwissen, das für jeden relevant ist und aus Sonderwissen, das nur von bestimmten Rollenträgern in bestimmten Situationen zum Einsatz gebracht wird.

In empirisch-historischer Hinsicht verweist der Alltagsbegriff auf eine Vielzahl nebeneinander existierender sozialer Welten, an denen wir teilhaben und auf eine Fülle alltäglicher Situationen mit ihren je spezifischen alltäglichen Wissensbeständen und Handlungsmustern. Die Widersprüche zwischen den jeweiligen Wissensbeständen sind solange irrelevant, wie die Handlungsfelder voneinander separiert bleiben. Brüchig und fragwürdig wird Alltagswissen, wo es sich nicht bewährt. Die Verbreitung von Expertenwissen, die Verwissenschaftlichung der Alltagssprache und die gesellschaftliche Dauerkommunikation verweisen darauf, dass mit Technologisierung, der Zunahme von Risikolagen und gesellschaftlicher Pluralisierung der Bestand an selbstverständlichem Alltagswissen geringer wird.

Literatur

Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas, 1969: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. – Schütz, Alfred; Luckmann, Thomas, 2003: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz (1975/1984). – Soeffner, Hans-Georg, 2004: Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, 2. Aufl., Konstanz.

Dariuš Zifonun

Alterssoziologie

Begriff

Die Alterssoziologie (engl. sociology of aging), oftmals auch als Alternssoziologie, Soziologie des Alterns oder als Gero- bzw. Gerontosoziologie bezeichnet, ist eine spezielle Soziologie, die mit den Instrumenten der allgemeinen Soziologie (Begriffe, Theorien, Methoden) ihren spezifischen Untersuchungsgegenstand – das Alter und Altern von Individuen und sozialen Gruppen – untersucht. Damit befasst sich die Alterssoziologie sowohl mit der Strukturkategorie Alter (als Status von Individuen oder sozialen Gruppen) als auch mit der Prozesskategorie Altern (als strukturell beeinflusste individuelle oder kollektive Prozesse, Verläufe, Sequenzen, Übergänge oder Veränderungen in Lebenslauf und Gesellschaft). Ihr Forschungsgegenstand sind die Einflüsse des Alters bzw. Alterns auf Gesellschaft und Kultur wie auch umgekehrt die Einflüsse von Gesellschaft und Kultur auf das Alter bzw. auf den Alterungsprozess. Dabei geht es sowohl um die Analyse der Gesellschaft als Bedingung von Opportunitätsstrukturen, Handlungsdispositionen, Lebenslagen, Handlungspotentialen usw. als auch um die Veränderungen der Gesellschaft und ihrer sozialen Institutionen als Resultat z. B. veränderter Lebenslagen und Handlungsbedingungen.

 

Die Alterssoziologie ist gleichermaßen als spezielle Soziologie oder als Bindestrich-Soziologie in der allgemeinen Soziologie sowie als Teildisziplin in der inter- bzw. multidisziplinären Sozialen Gerontologie bzw. Sozialgerontologie verankert. Gerontologie ist keine Disziplin oder Fachwissenschaft im engeren Sinne, weil sie sich kaum auf gemeinsame Orientierungen, Paradigmen, theoretische Programme, erkenntnistheoretische und methodologische Grundlagen bezieht. Sie ist vielmehr als Versuch der gegenstandsbezogenen interdisziplinären Kooperation verschiedener Geistes-, Human- und Sozialwissenschaften zu verstehen, die sich mit der Deskription, Analyse und Modifikation von physiologischen,[17] psychischen, sozialen und kulturellen Aspekten von Alter und Altern beschäftigen. Dabei können im Idealfall einzelwissenschaftliche Engführungen vermieden und transdisziplinäre Perspektiven entwickelt werden.

Alter und Altern

Das Alter im allgemeinen Sinne bezeichnet gemeinhin a) einen Zeitraum oder ein Zeitalter, z. B. die seit der Geburt bzw. Entstehung eines Lebewesens, einer Institution oder eines Gegenstandes verstrichene Zeitdauer (z. B. Lebenszeit), i. d. R. abgelesen an einem Kalender als Maßstab. Alter bezeichnet b) auch Lebensabschnitte oder Altersphasen als temporäre und transitive Abschnitte im individuellen Lebensverlauf (z. B. das hohe Alter), die c) von den Altersgruppen oder Altersschichten als klar abgrenzbare, sozial anerkannte und in unterschiedlichem Ausmaß intern organisierte soziale Gruppen zu unterscheiden sind.

Alter und Altern sind keine natürlichen, quasi präkulturellen Erscheinungen, sondern auf unterschiedlichen Ebenen sozial konstruierte Kategorien (Reifikationen), die dann als faktisch vorhandene äußerliche Phänomene (Objektivationen) aufgefasst werden. In der Alterssoziologie wird das Alter als Status und soziales Strukturierungsprinzip bzw. gesellschaftliches Ordnungsmuster verstanden, durch welches zugleich Zugang und Ausschluss von sozialen Teilnahmechancen geregelt und soziale Beziehungen hergestellt oder unterbunden werden (Prahl, Schroeter 1996: 277). Das Altern drückt den dynamischen Aspekt des individuellen und kollektiven Altwerdens aus und bezieht sich auf das Durchschreiten von sozial bewerteten und an soziale Rollen gebundenen Altersstufen oder Lebensphasen. Es bezieht sich auf eine Sequenz von Ereignissen im individuellen Lebensverlauf, wobei einige dieser Ereignisse direkt mit dem chronologischen Alter verbunden sein können (z. B. wurden Altersgrenzen bzw. -spielräume für Schuleintritt oder Pensionierung festgelegt), während andere Ereignisse (z. B. Eheschließung, -scheidung) weniger durch formalrechtliche Vorgaben, sondern eher aus der sozialen Struktur und damit korrespondierenden Normen oder durch sozio-kulturelle Zugehörigkeiten geregelt sind. Auch psychische und physiologische Veränderungsprozesse (z. B. korporale Vulnerabilitäten wie Krankheit oder Pflegebedürftigkeit), die mit dem kalendarischen Alter korreliert sind, werden als Indikatoren von Alter und Altern verwendet.

Alter und Altern sind also keine eindeutig definierten Begriffe, sondern je nach (disziplinärer) Perspektive unterschiedlich akzentuierte und semantisch verschieden gefasste, idealtypische soziale Konstruktionen. Das biologische Alter oder physiologische Alter bezeichnet z. B. den körperlichen Zustand des Menschen aufgrund biologischer Vorgänge von Wachstum, Reife, Abbau und Verfall. Diese »biologischen Grundbefindlichkeiten« (Schelsky [1959] 1965: 199) sind jedoch keine sozialen Realitäten sui generis, sondern stets einem sozialen Wandel unterworfen, wobei sich das je biologisch Vorgegebene und das gesellschaftlich Konstruierte im Erkenntnisprozess nicht vollständig voneinander trennen lassen. Als Maßstab wird zumeist das kalendarische oder chronologische Alter – die seit der Geburt vergangene (oder im Falle des prospektiven Alters die noch verbleibende) – Kalenderzeit verwendet, welche diese Prozesse zwar nicht misst – Uhren und Kalender sind an Erdrotation und Planetenkonstellationen ausgerichtet -, aber zumindest eine gewisse (wenn auch mit zunehmendem Alter abnehmende) statistische Korrelation aufweist. Mit der Verwendung des Kalenders als Messinstrument sind aber auch weitere (möglicherweise problematische) Annahmen wie gleichmäßig voranschreitende und irreversible Entwicklung verbunden. Eine Alternative ist das funktionale Alter – eine soziale Kategorisierung, die auf Einschränkungen bzw. Kompetenzen im Vergleich zu Durchschnittswerten abhebt. Mehrfach wurde auch versucht, die Altersphase im Lebenslauf im Sinne des funktionalen Alters in weitere Abschnitte zu untergliedern, also z. B. ein viertes oder fünftes Alter abzugrenzen. Während die Dreiteilung des Lebenslaufs aber durch relativ konkrete Altersgrenzen gesellschaftlich geregelt ist – die Schulpflicht auf der einen, und zumindest für die Mehrheit der Bevölkerung das Rentenzugangsalter auf der anderen Seite -, wäre der Rekurs auf ein kalendarisches Alter hier ausgesprochen unpräzise und potentiell diskriminierend: Auch diese Prozesse sind mit der Kalenderzeit mehr oder weniger stark (und im Zeitverlauf abnehmend) statistisch korreliert, aber nicht selbst von Erdrotation oder Planetenkonstellationen abhängig. Letztlich handelt es sich auch hier um Varianten eines sozialen Alters, also gesellschaftlich zugeschriebene Größen.

[18]Offensichtlicher ist dies beim administrativen Alter (gelegentlich auch als bürokratisches oder formales Alter bezeichnet) als Kategorisierung von Altersgruppen für Statistik, Verwaltung usw., bzw. dem rechtlichen Alter als Kennzeichnung für kulturell festgelegte Pflichten und Rechte (z. B. Geschäftsfähigkeit, Volljährigkeit). Hier ist die Bezugnahme auf das kalendarische Alter konstitutiv, was möglicherweise wiederum zur Selbstverständlichkeit beigetragen haben könnte, mit der der Kalender als Messinstrument für Prozesse menschlichen Alterns heute herangezogen wird. Konzepte psychologischen Alters schließlich beziehen sich u. a. auf kognitive Leistungsfähigkeit und Intelligenz (Denkfähigkeit, Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Gedächtnis, Wortflüssigkeit, Wissen) sowie Alltagskompetenz, Weisheit und Erfahrung (Einsicht, Klugheit, Fakten-, Kontext-, Relativitäts-, Strategiewissen) und drücken die psychische bzw. kognitive Verfassung eines Menschen aus.

Durch die breite Verwendung des kalendarischen Alters ist es möglich, dass kalendarisch gleichaltrige Personen oder Gruppen auf den verschiedenen genannten Konstruktionen oder in unterschiedlichen sozialen Kontexten unterschiedliche Werte aufweisen können. Kalendarisch gleichaltrige Personen können z. B. durchaus biologisch mehr oder weniger »gealtert« sein – besonders drastisch macht dies das Hutchinson-Gilford-Syndrom (Progerie) deutlich. Sie können auch unterschiedlich »weise«, und in verschiedenen sozialen Kontexten sogar gleichzeitig unterschiedlich »alt« sein – man denke etwa an einen Fußballspieler, der in diesem Zusammenhang mit z. B. 30 Jahren schon zu den »Alten« zählt, während er in anderen sozialen Kontexten durchaus noch zu den »Jungen« zählen dürfte. Analoges gilt z. B. für Fußballmannschaften, Betriebe, Branchen oder Nationen. Eines der zentralen wissenschaftlichen Arbeitsgebiete der Alterssoziologie ist die empirische Beschreibung und theoretische Erklärung solcher Regelmäßigkeiten (wie auch der jeweiligen Abweichungen).

Entwicklung

Die Geschichte der soziologischen Alternsforschung geht zurück bis ins 19. Jh., als die ersten Sterbestatistiken erstellt wurden, doch erst im 20. Jh. wurden vermehrt empirische Studien über das Alter durchgeführt. Ein Markstein war das von Cowdry vorgelegte Werk über »Problems of Aging« (1939). In dieser Zeit wurden zunächst vor allem in den USA, später dann auch in anderen Ländern, verschiedene Netzwerke der Alternsforschung ins Leben gerufen. So entstanden die Deutsche Gesellschaft für Altersforschung (1938), die American Society of Geriatrics (ASG, 1942), die Gerontological Society (heute Gerontological Society of America, GSA, 1945) sowie im deutschsprachigen Raum die Schweizerische (SGG, 1953), Österreichische (ÖGG, 1955) und Deutsche Gesellschaft für Gerontologie (heute Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie, DGGG, 1967). Innerhalb der soziologischen Fachverbände ist die Alterssoziologie u. a. in der International Sociological Association (ISA), in der European Sociological Association (ESA) sowie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) institutionell etabliert.

Das Thema Alter wurde in der Soziologie bzw. der Thematisierung von Gesellschaft wohl schon immer, wenn auch eher am Rande thematisiert. Das Alter spielte etwa eine wichtige Rolle im Falle der Gerontokratie oder in Altersklassengesellschaften. Die Alterssoziologie als eigenständige Bindestrich-Soziologie entwickelte sich in Deutschland aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Insbesondere seit Ende der 1950er Jahre wurde das Thema verstärkt prominent aufgegriffen (u. a. von R. König und H. Schelsky), sehr bald schon folgten eigene Abhandlungen (z. B. F.X. Kaufmann und R. Tartler 1961) und Übersichten zur Alterssoziologie insgesamt (H. P. Tews 1971). Auch größere empirische Untersuchungen folgten schnell – zunächst speziell zu einzelnen Bereichen wie z. B. der Aktivität im Alter (K. W. Boetticher 1975), ebenso breiter angelegte Darstellungen zu jeweils in der soziologischen Diskussion aktuellen Teilbereichen. Im Vergleich etwa zu den Themenbereichen Jugend und Familie wurde aber erst relativ spät mit dem Alters-Survey 1996 eine bundesweit repräsentativ angelegte Sozialberichterstattung zu Altersfragen begonnen (Kohli/ Künemund 2000).

Soziologische Theorien des Alters

Die Alterssoziologie ist zwar in weiten Teilen empirisch ausgerichtet, dennoch stand sie von Anbeginn immer auch unter einem theoretischen Fokus. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden zunächst in den USA unter den damals herrschenden Paradigmen [19]von Funktionalismus und Rollentheorie verschiedene Studien zur sozialen Anpassung (social adjustment) im Alter durchgeführt (Pollak 1948; Cavan et al. 1949). Die Frage nach der Bewältigung des Übergangs in den Ruhestand erfolgte vor dem Hintergrund rollentheoretischer Ansätze, wobei der Ruhestand als eine »eigentümlich funktionslose Situation« (Parsons [1942] 1968: 82) wahrgenommen wurde. Dabei wurde der Rollenverlust im Alter als eine fortlaufende Schwächung der individuellen Position in der Gesellschaft gesehen (Rosow 1974: 117 ff.).

Das ebenfalls bereits früh in diesem Kontext formulierte Aktivitätskonzept (z. B. Havighurst/Albrecht 1953) geht davon aus, dass Menschen im Alter zufrieden sind, wenn sie sich als gebraucht und nützlich empfinden und folglich danach streben, die sozial bedingten Ausgliederungsprozesse aus sozial relevanten Funktionszusammenhängen und die damit verbundenen Rollen- und Statusverluste durch erweiterte Handlungsräume in anderen Rollen zu kompensieren.

Die auf der strukturfunktionalen Theoriebildung fußende Disengagementtheorie (Cumming/ Henry 1961) sieht das Altern dagegen als einen, durch verminderte Interaktionen bedingten, unvermeidbaren sozialen Rückzug (Disengagement) älterer Menschen aus ihrem Sozialsystem, in dem eine gesellschaftlich notwendige, aber gleichsam entlastende und befreiende Entwicklung gesehen wird. Gesellschaftlich notwendig sei dieser Rückzug, damit die nachwachsenden Generationen die beruflichen, politischen und gesellschaftlichen Positionen besetzen könnten. Individuell entlastend sei er, weil die Beschränkung auf die eigene Privatsphäre gesellschaftliche Enttäuschungen, Ablehnungen und Missachtungen vermeiden könne. Damit würde ein Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Interessen und den individuellen Rückzugsmotiven gewahrt.

 

Die ebenfalls strukturfunktional gerahmte Modernisierungstheorie (u. a. Cowgill/Holmes 1972) geht von einer relativen Verminderung des sozialen Status der Alten in der modernen im Vergleich zur traditionalen Gesellschaft aus. Als kritische Entgegnung auf die strukturfunktionalen Modelle wurde in den 1960er Jahren die Subkulturtheorie auch auf das Alter angewandt (Rose 1962). Demnach könnten ältere Menschen auf der Grundlage gemeinsamer Vorteile, Probleme oder lang andauernder Freundschaften eine positive Affinität zueinander entwickeln, zum anderen könnten sie aber auch aus der Interaktion mit anderen Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen sein. Die zunehmende Interaktion der Älteren untereinander bei gleichzeitiger Kontakteinschränkung zu anderen Generationen führe zu einem Altersgruppenbewusstsein und zu einer Altersgruppenidentität der Älteren. Das zeige sich z. B. an der Bereitschaft zum alterssegregierten Wohnen in den »Retirement Communities« sowie an der zunehmenden Partizipation an Altersorganisationen (z. B. »Golden Age Club«, »Senior Citizens Club«).

Auch der Etikettierungsansatz (Labeling approach) ist in die Alterssoziologie überführt worden (Hohmeier 1978). Dabei wird argumentiert, dass die auf das Alter und Altsein bezogenen Definitionsprozesse als Stigmatisierungen gefasst werden können, weil sie a) zumeist monokausal in biologischen Veränderungen gesucht werden, b) auf Grund der Unvereinbarkeit mit den zentralen gesellschaftlichen Werten fast immer negativ ausfallen und weil sie c) für die subjektive und objektive Situation älterer Menschen zumeist negative Konsequenzen haben, wenn den Betroffenen über das attestierte Stigma (z. B. altersbezogene körperliche Einschränkungen) hinaus weitere negative Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben werden. Alter wird damit zu einem »master status« (Hohmeier 1978: 13), der die gesamte Identität eines Menschen festlegt.

Das Hauptaugenmerk des Kontinuitätsansatzes (Atchley 1983) liegt dagegen auf der Entwicklung und Erhaltung der sozialen Anpassungsfähigkeit im späten Erwachsenenalter. Demnach versuchen Menschen mittleren und höheren Alters, innere psychische Muster und Dispositionen (z. B. Temperament, Gefühle, Präferenzen, Einstellungen, Wertvorstellungen, Überzeugungen) und äußere Strukturen (z. B. soziale Beziehungen und Handlungen, soziale Umwelten) zu bewahren.

Aus der Perspektive der Tauschtheorie (Dowd 1975) werden mit fortschreitendem Alter die Machtressourcen der Akteure vermindert und ältere Menschen dadurch zunehmend unfähig, in ausgeglichene Austauschbeziehungen zu anderen Generationen zu treten. Der soziale Rückzug aus gesellschaftlich anerkannten Positionen ist das Tauschgut der Älteren. Als Gegenleistung erhalten sie materielle und soziale Sicherheit im Alter (u. a. Rentenund Pensionszahlung, Gesundheitsversorgung).

[20]In dem Modell der Altersschichtung (Altersstratifikation) (Riley et al. 1972) wird das Alter in Analogie zur sozialen Klasse als eine Kategorie sozialer Ordnung gedacht. Doch während die Klassenschichtung im Wesentlichen nach ökonomischen und sozialen Kriterien vorgenommen wird, sei die Altersstratifikation bis zu einem gewissen Grade biologisch bedingt. Demnach sei jede Gesellschaft nach Schichten unterteilt, die sich aus der Aufeinanderfolge von Kohorten zusammensetzen (Kohortenfluss). Diese nach Zeit geordneten und grundsätzlich nicht umkehrbaren Altersschichten bilden eine geordnete Reihe entlang der Dimension von jünger nach älter und unterscheiden sich durch die den Menschen in den verschiedenen Entwicklungsstufen von der Gesellschaft zugeschriebenen sozialen Rollen, Rechte und Privilegien.

In den 80er Jahren entstand mit der Lebens(ver)laufsperspektive ein neues Paradigma der Alternsforschung (Elder 1995). Der schon von Eisenstadt und Parsons formulierte Gedanke, dass der Mensch in seinen verschiedenen Sozialisationsphasen unterschiedlich strukturierte und zunehmend differenzierte Rollenbeziehungen durchläuft, fand seinen Niederschlag zunächst im strukturfunktionalen Altersnormensystem (Neugarten/Datan 1973), später dann auch in dem Modell der Statusbiographie (Levy 1977). Dort wird der Lebenslauf als eine sozial geregelte Bewegung in der Sozialstruktur und als »eine mehr oder weniger stark institutionalisierte Sequenz von Status-Rollen-Konfigurationen umrissen und damit zum Vergesellschaftungsprogramm erklärt. Mit Fokus auf quantitative Methoden wird diese Perspektive in der Lebenslaufforschung fortgeführt, die ihr Augenmerk stärker auf die soziale Ungleichheit im Lebensverlauf richtet und die Altersstrukturen weniger als normierte Tatbestände, sondern vielmehr als »empirisch nachgeordnete Folgen« (Mayer 1996: 48) ansieht. Die lange Tradition der (qualitativen) Biographieforschung wurde in die Alterssoziologie integriert. In dem Modell der Institutionalisierung des Lebenslaufs (Kohli 1985) werden beide Aspekte verbunden und die historisch beobachtbaren Veränderungen in den Lebensläufen in einen Zusammenhang mit dem Übergang zur Arbeitsgesellschaft gestellt. Als Pendant zur Individualisierung sei die Orientierung an Biographie und Lebenslauf an die Stelle stabiler Zugehörigkeiten getreten, wobei der Lebenslauf zu einem wichtigen sozialen Ordnungsprinzip wurde – eine soziale Institution, die gleichermaßen für die Organisation der Gesellschaft wie auch für die biographischen Perspektiven der Individuen zentral wurde.

Parallel zu diesen Entwicklungen bildete der politisch-ökonomische Ansatz des Alters (u. a. Minkler/Estes 1991) einen theoretischen Rahmen, um Altern in einen unmittelbaren gesellschaftlichen Bezug zu ökonomischen Strukturen und gesellschaftlichen Zwängen zu setzen. Er zielt vor allem auf eine Analyse der strukturellen Bestimmungsfaktoren von sozialer Ungleichheit im Alter. Das Altern wird im Wesentlichen in Beziehung zu Arbeit und Produktion gesetzt und unter den Aspekten der Dequalifizierung und des erzwungenen Ausschlusses aus dem Arbeitsprozess debattiert. Ein wichtiges Thema ist in diesem Kontext der Wohlfahrtsstaat (z. B. Myles 1984), der zwar auf die Linderung sozialer Ungleichheiten zielt, aber mit den Verteilungsprinzipien der sozialen Unterstützung, Versicherung und Steuerpolitik bestehende Klassen-, Alters- und Geschlechterstratifikationen verstärken und die Älteren in eine »strukturierte Abhängigkeit« drängen kann (Townsend 1981).

Unter dem Label der Kritischen Gerontologie (z. B. Cole et al. 1993) hat sich ein Forschungsansatz entwickelt, der – z. T. in starker Affinität zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und zum Diskurs- und Disziplinierungsansatz von Foucault stehend (Green 1993; Katz 1996) – sich gegen die Vorstellung wendet, das Alter objektiv messen und durch den Erwerb eines solchen Wissens auch kontrollieren zu können. Die Kritische Gerontologie fordert ein im Zentrum der Alternstheorien und Lebenslaufentwicklung stehendes »emanzipatorisches Ideal« ein, das Altern als ein Fortschreiten in Richtung Freiheit (Autonomie, Weisheit, Transzendenz) jenseits von Beherrschung begreift (Moody 1988).

Die Identitätstheorien von Mead und Goffman bilden die theoretische Grundlage der Mask-of-Ageing-Hypothese (Featherstone/Hepworth 1991). Demnach kommt es mit zunehmendem Alter zu einer Diskrepanz zwischen der äußerlichen Erscheinung und dem inneren Selbst. Die sichtbare körperliche Hülle erscheint als nichts anderes als eine Maske, die das wirkliche Selbst nur verdeckt. Das individuelle Selbst wird quasi zum Gefangenen des alternden Körpers, der die wahre Identität nicht länger physisch zum Ausdruck bringen kann. Analog dazu geht das Ageless-Self-Konzept (Kaufman 1986) davon aus, dass mit zunehmendem Alter eine[21] wachsende Diskrepanz zwischen dem subjektiven Altersempfinden und dem chronologischen Alter einhergeht. Diese Konzepte wurden im Modell der Altersmaskerade reformuliert – als eine Strategie, um sich vor einer altersfeindlichen Umwelt zu schützen (Biggs 1993).