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Wortbildung im Deutschen

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4 Schluss: Wie werden also PartikelverbenPartikelverb nominalisiert?

Es war zu sehen, dass systematisch betrachtet zumindest bei Bildungen wie [P/Adv+(Wurzel)nomen] nicht NominalisierungenNominalisierung von Ptk-Vn vorliegen, sondern Nominalkomposita. Hiermit stehe ich im Einklang mit Stiebels/Wunderlich (1994), deren Vorschlag ich noch um einige kleinere Aspekte erweitert habe.

Die Frage, die sich nun stellt, ist: Wenn die Option der KompositionKomposition [P/Adv+N] prinzipiell zur Verfügung steht, stellt dann die Existenz paralleler Nomina überhaupt ein Indiz für die lexikalische Bildung von Ptk-Vn dar? Es muss sich bei einem solchen Substantiv ja gar nicht um eine direkte NominalisierungNominalisierung handeln.

Natürlich ist ein Angeber wer, der angibt, und bei einer Eingebung wird einem etwas eingegeben. Ein ähnlicher Zusammenhang besteht aber bei Angabe und Eingabe (66b), und diese wurden ja oben in (58) als deverbale Direktbildungen ausgeschlossen. Dass es sich auch bei (66a) um Nominalkomposita handelt, ist also keineswegs abwegig.


(66)a.Angeber; Eingebung
b.Angabe; Eingabe

Folgende Beispiele zeigen zudem, dass auch deverbale AbleitungenAbleitung (siehe auch Derivation) vom SimplexSimplex mit AffixAffix als Nominalkomposita verwendet werden, denn diese haben kein paralleles Ptk-V. Sie sind offensichtlich unmittelbar als KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum gebildet und idiomatisiert worden.


(67)a.Überflieger; Untersetzer
b.*’überfliegen; *’untersetzen

Zuletzt will ich an dieser Stelle auf augenscheinliche Zusammenbildungen mit *Kommer zu sprechen kommen, das ja nur in dieser zusammengesetzten Form gebildet wird (68a). Diese sind m.E. am elegantesten als NominalisierungenNominalisierung von Zusammenrückungen/ Phrasenkomposita erklärbar (68b), die z.B. in Analogie zu bereits vorhandenen -er-Nominalisierungen wie (Zu)rückkehrer gebildet sind.


(68)a.Wiederkommer; zu-spät-Kommer
b.Wiederkommen; zu-spät-Kommen

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Existenz von zu Ptk-Vn parallelen Nomina nicht zwingend auf deren lexikalische Bildung schließen lässt. Da ich zudem hoffentlich schlüssig dafür argumentiert habe, dass syntaktisch völlig eigenständige V-Ptkn als resultative sekundäre Prädikate in Form lexikalischer Kategorien (Adv, Adj) zu analysieren sind und somit augenscheinliche NominalisierungenNominalisierung solcher „PartikelverbenPartikelverb“ eigentlich Zusammenrückungen mit dem InfinitivInfinitiv darstellen, kann m.E. die Analyse von Ptk-Vn als syntaktisch komplexe Köpfe und der V-Ptkn als Köpfe im Verbalkomplex aufrecht erhalten werden.

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B Historisches

WissensvermittlungWissensvermittlung durch Substantivkomposita im frühmittelalterlichen Kloster

Nicolaus Janos Raag

Abstract

In my dissertation project I propose a linguistic approach to nominal compounds from a cultural perspective. The role of nominal compounds in knowledge transfer in the early medieval monastic school is at the center of this research, which analyzes material from NotkerNotker III. von St. Gallen III’s didactic German language adaptions of Latin school texts. The purpose of this paper is to show how Notker makes use of nominal compounds when translating from Latin to German, especially where new words have to be found for ideas or concepts not previously expressed in German.

First I will give a short introduction to the material and an overview of general properties of nominal compounds as the object of research. The following section presents the theoretical background of cultural analysis. It also provides a semiotic definition of culture, according to which culture is seen as the shared models for perceiving, relating and interpreting among members of a social group and knowledge transfer is described as a form of cultural transfer. Finally, I analyze four examples of the role of nominal compounds in passages that impart theological ideas and interpretations, or in which translations of technical terms are needed in order to comprehend what these terms denote.

 

1 Einleitung

Mit dem Einsetzen der schriftlichen Überlieferung des DeutschenDeutsch im frühen Mittelalter beginnt auch die Entwicklung einer deutschen Schriftsprache. Zwar bleibt noch für lange Zeit die Dominanz des seit der Antike im westlichen Europa als Schriftsprache vorherrschenden Lateinisch ungebrochen und so ist auch die Entwicklung der deutschen Schriftsprache nur in ihrer Abhängigkeit von und in ihren Wechselbeziehungen mit dem Lateinischen zu sehen, doch beginnt hier schon die Entwicklung des Deutschen hin zu einer Schrift- und Literatursprache, die in allen Bereichen der schriftlichen Kommunikation Anwendung finden und schließlich das Lateinische ablösen kann.

Mit dieser Entwicklung ist eine Ausdifferenzierung der Sprache verbunden, die sich vor allem im Wortschatz zeigt, denn es müssen neue Bezeichnungen für Konzepte gefunden werden, die dem DeutschenDeutsch bislang ‚fremd‘ waren, da für sie im Rahmen der mündlichen Alltagskommunikation keine Bezeichnungsnotwendigkeit bestand. Hierbei kommen neben Wortentlehnungen und Lehnbedeutungen vor allem Lehnbildungen, also die Verfahren der WortbildungWortbildung (DerivationDerivation und KompositionKomposition) zum Tragen (cf. Meineke 2007: 232).

Diese Ausdifferenzierung des Wortschatzes wird auch notwendig, da die situationsenthobene schriftliche Kommunikation größere Exaktheit verlangt als die im Alltagskontext situationsgebundene mündliche Kommunikation (Solms 1999: 241). Dementsprechend nimmt auch der Anteil der Substantivkomposita, die als Determinativkomposita eine enger bestimmte, exaktere ReferenzReferenz ermöglichen, am Gesamt des Substantivwortschatzes vom Mittelalter bis zur Gegenwartssprache deutlich zu (Solms 1999: 234).

Angesichts dieser Überlegungen mag es verwundern, dass es nach wie vor kaum umfassendere Untersuchungen gibt, die sich der KompositionKomposition im AlthochdeutschenAlthochdeutsch widmen (cf. Meineke 2007: 233) und insbesondere solche Untersuchungen, die sich über die systemlinguistische Darstellung der Komposition als eines Wortbildungsverfahrens hinaus der Frage widmen, welche Rolle diese bei dem oben beschriebenen Prozess der Ausdifferenzierung der deutschen Sprache spielt.

So zeigt etwa Erben (1987), wie KompositaKompositum in den althochdeutschen Texten „Christus und die Samariterin“ und Otfrids „Evangelienbuch“ verwendet werden, um etwas Neues (insbesondere die christliche Botschaft) auszudrücken. Mit dem Einfluss des Lateinischen auf das Althochdeutsche und hier insbesondere auf den neuen, christlichen Wortschatz, beschäftigt sich auch Betz (1936) für den Abrogans und Betz (1949) für die althochdeutsche Benediktinerregel. In seiner zusammenfassenden Übersicht zu Forschungen zu „LehnwörterLehnwort[n] und Lehnprägungen im Vor- und Frühdeutschen“ stellt Betz (1974: 143) zwar fest, dass die neuen christlichen Begriffe im Abrogans und der Benediktinerregel ganz überwiegend durch Lehnbedeutungen wiedergegeben werden, gleichzeitig schätzt er den Anteil von Lehnbildungen am althochdeutschen Gesamtwortschatz aber auf immerhin 10 % (Betz 1974: 145).

In der Folge von Betz beschäftigen sich verschiedene Dissertationen mit dem Lehngut und insbesondere auch mit Lehnbildungen bei NotkerNotker III. von St. Gallen: Schwarz (1957), Mehring (1958) sowie Coleman (1963, Zusammenfassung: 1964). Für den religiösen Wortschatz der Psalter-Bearbeitung stellt Betz (1974: 151) aufbauend auf Schwarz (1957) wieder eine deutliche Dominanz der Lehnbedeutungen mit fast 80 % fest, aber auch die Lehnbildungen spielen wieder eine gewisse Rolle (10 % des religiösen Wortschatzes sind LehnübersetzungenLehnübersetzung, 7 % Lehnübertragungen).

Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn man Notkers Bearbeitung des Martianus Capella betrachtet, wobei bei diesem nicht-christlichen Text die Lehnprägungen in allen Sachgruppen betrachtet werden. Hier stellt Betz (1974: 152) ausgehend von Mehring (1958) eine Dominanz der Lehnbildungen fest: über die Hälfte der Lehnprägungen (also des Lehnguts ausgenommen der LehnwörterLehnwort) sind LehnübersetzungenLehnübersetzung, fast ein Drittel sind Lehnübertragungen, immerhin 12 % Lehnschöpfungen und nur 6,6 % Lehnbedeutungen.

Coleman (1963) untersucht die Lehnbildungen in Notkers Consolatio-Bearbeitung und gibt in der Zusammenfassung ihrer Dissertation (Coleman 1964) dann basierend auch auf den anderen o.g. Arbeiten einen Überblick über die Lehnbildungen bei NotkerNotker III. von St. Gallen. Sie stellt fest, dass von den Lehnbildungen Notkers noch ca. 40 % im Mittelhochdeutschen weiterleben, wobei dies im Einzelnen für 48 % der LehnübersetzungenLehnübersetzung, ein Drittel der Lehnübertragungen und 28 % der Lehnschöpfungen gilt. Es zeigt sich hier, dass ein großer Teil der von Notker neu gebildeten Lehnbildungen nicht im Wortschatz bleiben. Die größte „Überlebenschance“ haben noch Lehnübersetzungen, dies gilt auch generell für Lehnbildungen im AlthochdeutschenAlthochdeutsch (cf. Betz 1974: 152, passim).

Dies könnte laut Betz (1974: 152) daran liegen, dass die Autorität des Lateinischen bei der genaueren Nachbildung in der LehnübersetzungLehnübersetzung stärker fortwirkt als etwa in der Lehnübertragung oder gar Lehnschöpfung. Als weiteren Grund kann man noch annehmen, dass die Lehnbildungen Notkers zu einem großen Teil ad hoc gebildet wurden und gar nicht in den Wortschatz aufgenommen wurden. Die Wahrscheinlichkeit, dass dann später das gleiche Wort als Übersetzung desselben lateinischen Lemmas noch einmal gebildet wird, ist bei der Lehnübersetzung natürlich größer als bei den anderen Lehnbildungen. Auch Betz (1974) weist darauf hin, dass es sich bei der entstehenden deutschen Literatursprache noch um ein „Schreibstubenerzeugnis“ handelt, und dass „das Meiste von dieser allerersten und oft noch sehr gewaltsamen Formung durch das Latein, […] nur ein einmaliges sprachliches Experiment“ war (Betz 1974: 149) und „vielfach noch mehr aus augenblicklicher Übersetzungsnot für den Augenblick geschaffen“ wurde (Betz 1974: 150).

So sieht auch Glauch (1993) die Substantivkomposita in Notkers Texten als nichtlexikalisierte Gelegenheitsbildungen (Glauch 1993: 134). Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Untersuchungen zum Lehnwortschatz bei NotkerNotker III. von St. Gallen argumentiert Glauch (1993: 127), dass ein großer Teil der Substantivkomposita in Notkers Texten zwar in Abhängigkeit von der lateinischen Vorlage gebildet wurde, aber nur mit Einschränkung zum Lehnwortschatz gezählt werden könne. Sie sieht die Substantivkomposita bei Notker nicht als Lexeme an sondern vielmehr als „akzidentiell zur Worteinheit geronnene Phrasen“ (Glauch 1993: 132), die sich nicht von anderen, syntaktischen Ausdrucksmöglichkeiten unterscheiden und sie erkennt in der KompositionKomposition ein produktives Mittel zum Ausdruck von Attributen, dem bei Notker oft der Vorzug gegenüber einer syntaktischen Übersetzung gegeben wird (Glauch 1993: 133).

In Bezug auf die Frage, welche kommunikative Funktion die Substantivkomposita im Kontext der Klosterkultur und Klosterschule spielen können, ist hier noch vor allem die Dissertation von Delphine Pasques (2003b) zu nennen, die neben einer formalen (prosodischen und graphematischen) und semantischen Darstellung der Substantivkomposita in Notkers Psalter auch eine Darstellung unter pragmatischen Gesichtspunkten enthält, wo sie die KompositaKompositum unter dem Aspekt der argumentativen Strategien der mittelalterlichen Verfasser (NotkerNotker III. von St. Gallen und Notkerglossator) darstellt. Diesen Ansatz verfolgt Pasques (2003a) auch in einem Aufsatz, wo sie ausgehend von Karl Bühlers Organon-Modell die Substantivkomposita in Notkers Psalter in Bezug auf ihre kommunikative Funktion hin untersucht.

Bei Pasques (2003b, 2003a) findet sich also schon ein interessanter Ansatz für eine Betrachtung der Substantivkomposita aus kulturanalytischer Perspektive, wenn sie nämlich nach der kommunikativen Funktion und nicht nach morphologischen Eigenschaften fragt. An dieser Stelle soll auch mein hier vorgestelltes Dissertationsprojekt ansetzen, wenn der Frage nachgegangen wird, wie NotkerNotker III. von St. Gallen1Notker III. von St. Gallen bei seiner didaktischen Bearbeitung und Übersetzung2 von Schultexten bestimmte WortbildungsmusterWortbildungsmuster operationalisiert, um bestimmte Inhalte zu vermitteln. Es soll also gezeigt werden, wie der Lehrer und Übersetzer Notker das diesen Wortbildungsmustern innewohnende Sinngebungspotential kreativ nutzt, wo er Begriffe aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt, für die es bisher noch keine Bezeichnungen in dieser Sprache gab. Die SubstantivkompositionSubstantivkomposition soll hier also als eine mögliche sprachliche Strategie betrachtet werden, die dem frühmittelalterlichen Übersetzer zur Verfügung steht, wenn er sich vor die oben beschriebene Herausforderung gestellt sieht.3KompositionWortbildungMetapher

2 Materialgrundlage und Untersuchungsgegenstand
2.1 Das Korpus: Notkers althochdeutsches Übersetzungswerk

Als Materialgrundlage der vorgestellten Untersuchung dient wie erwähnt das althochdeutsche ‚Übersetzungswerk‘ Notkers, wobei das Korpus sämtliche seiner überlieferten Schriften umfasst, die deutsches Sprachmaterial enthalten. Als Textgrundlage dient die Edition von King/Tax (NotkerNotker III. von St. Gallen der Deutsche 1972–2009).

NotkerNotker III. von St. Gallen dürfte um 950 im Thurgau geboren sein und er starb am 28. Juni 1022 im Kloster St. Gallen. Dort war er Mönch und Schulvorsteher (caput scholae) und in späteren Jahren auch Leiter der Bibliothek. Als Lehrer übersetzte Notker eine Reihe von Schultexten aus dem Lateinischen ins Deutsche, um seinen Schülern das Verständnis dieser Texte zu erleichtern, denn wie er selbst in seinem Brief an Bischof Hugo II. von Sitten sagt, sei es viel leichter etwas in der eigenen Muttersprache, der „patria lingua“, zu verstehen als in einer Fremdsprache, einer „lingua non propria“:

Ad quos dum accessvm habere nostros uellem scolasticos aus<us s>vm facere rem pene inusitatam . ut latine scripta in nostram linguam conatus sim uertere […] (Nep 348,9f.)1Notker III. von St. Gallen

(Da ich wünschte, dass unsere Schüler zu diesen [den Sieben Freien Künsten] Zugang haben, wagte ich es, eine beinahe unerhörte Sache zu tun, dass ich es nämlich unternahm lateinische Schriften in unsere Sprache zu übersetzen […]. [Üs. NJR])

[…] quam [s]cito capiuntur per patriam linguam . quę aut uix aut non integre capienda forent in lingua non propria (Nep 349,24f.)

([…], weil man in der Muttersprache schneller versteht, was man in einer fremden Sprache entweder kaum oder nicht vollständig verstehen würde. [Üs. NJR])

Seit der Spätantike und Cassiodor bestand der schulische Lehrinhalt aus den Sieben Freien Künsten und im frühmittelalterlichen Europa waren Klöster und Klosterschulen die Zentren von Bildung und Gelehrsamkeit. Spätestens seit dem 9. Jahrhundert bildet sich ein Kanon von Schultexten heraus, die im Unterricht an den Klosterschulen verwendet wurden (cf. Glauche 1970). Die meisten von Notkers Übersetzungen sind solche kanonischen mittelalterlichen Schultexte aus allen Bereichen der Sieben Freien Künste und sie entstanden in engem Zusammenhang mit der Tätigkeit Notkers als Lehrer und also mit der WissensvermittlungWissensvermittlung in der frühmittelalterlichen Klosterschule in St. Gallen.

Über die Schultexte hinaus bearbeitete NotkerNotker III. von St. Gallen aber auch theologische Texte wie etwa den Psalter, die nicht zum Schulkanon gehören sondern eher in den Bereich frühmittelalterlicher Wissenschaft (also der Theologie). Aber auch bei diesem Text, den Henkel (1988: 75–76) als Erbauungsliteratur einordnet, lässt sich ein didaktischer Anspruch des Verfassers erkennen, der auch hier Erklärungen und Kommentare in seine Bearbeitung einarbeitet.

Notkers Übersetzungen sind nämlich keine bloßen Übersetzungen sondern vielmehr didaktische Bearbeitungen für den Schulunterricht, die auf das Verständnis des Originaltextes ausgerichtet sind. In seinen Texten kombiniert er den Text des lateinischen Originals (in syntaktisch vereinfachter Form) mit seiner Übersetzung und Kommentaren, die er aus antiken und frühmittelalterlichen Autoritäten schöpft, wobei die für NotkerNotker III. von St. Gallen typische sogenannte deutsch-lateinische Mischsprache entsteht (cf. Sonderegger 1970: 87–90; Henkel 1988: 77–86).