Za darmo

Wortbildung im Deutschen

Tekst
0
Recenzje
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa
D Dialektologisches

Von Blätterchen und Bäumchen: Die Entwicklung der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv und Diminutiv Plurale im DeutschenDeutsch und LuxemburgischenLuxemburgisch1

Maike Edelhoff

Abstract

This paper focuses on the appearance and (almost complete) disappearance of the complex plural diminutive suffix -erchen in Standard German and its status in related varieties, namely the Middle German Moselle Franconian dialect area and the Luxembourgish language. Research in this area of diminution has been rather scarce and mainly descriptive without focus on reasons for the (dis)appearance of this morphological phenomenon. This article aims to amend this oversight on the basis of examples in several (historical) corpora. The argumentation follows the historical development of the suffix in German corpora until today and contrasts it with the respective status quo in the other varieties.

The plural diminutive suffix is first documented for nouns belonging to the class of er-plurals in the Early Modern High German era and happens to thrive parallel to the er-plural marker, reaching its climax in the 18th and 19th centuries before disappearing almost completely. While the Moselle Franconian dialects show the same development, the Luxembourgish language has functionalised the complex suffix and made it mandatory. These contrary developments are explicable with regard to the phonological, prosodic and morphological patterns of the varieties as well as their influence on each other. From an areal perspective it becomes clear that the case of plural diminutives constitutes a clear linguistic boundary which coincides with the political borders between the Luxembourgish language on the one side and both, the Moselle Franconian dialects and Standard German on the other side.

1 Einleitung und Zielsetzung

Geht es in Grammatiken und Wortbildungslehren zum DeutschenDeutsch um die Diminutivbildung, wird immer wieder die Ausnahmeform Kinderchen bemüht. Sie steht im Gegensatz zu den regelmäßigen Nullpluralen (z.B. das Bäumchendie Bäumchen) und wird aufgrund ihrer außergewöhnlichen Suffixreihenfolge mit Flexions- vor Derivationssuffix thematisiert (vgl. u.a. Fleischer/Barz 2012: 234; Naumann 1986: 8). Typologisch betrachtet rückt sie damit in die Nähe der portugiesischen, bretonischen und walisischen „Doppelplurale“ (u.a. Stump 1993) und erweist sich augenscheinlich als Verletzung von Greenbergs (1966: 93) Universalie 28: „If both the derivation and inflection follow the root, or they both precede the root, the derivation is always between the root and the inflection.“.

Bisher wurden die Gründe für die Existenz dieser Ausnahmeform, ihre Entstehung, ihre Geschichte und ihr Rückgang wenig, und wenn nur am Rande, thematisiert. Areallinguistisch ist die Form aus einigen wenigen Dialekträumen bekannt z.B. in Hessen, sogar mit doppelter Pluralmarkierung -ercher (vgl. Deutscher Sprachatlas, Karten „Apfelbäumchen“ und „Schäfchen“). Doch auch die luxemburgische Sprache hat die Plurale mit eingeschobenem -er- etabliert; in den benachbarten moselfränkischen Dialekten auf deutscher Grenzseite findet sich die Form dagegen deutlich seltener.

Dieser Beitrag widmet sich deshalb den Fragen, wie sich das komplexe Suffix entwickelte, aus welchem Grund sich die overte Pluralmarkierung für DiminutiveDiminutiv im DeutschenDeutsch1Deutsch nicht durchgesetzt hat und warum das komplexe PluralPlural-Diminutiv-Suffix (im Folgenden PL-DIM-Suffix), mit Ausnahme einiger Reliktformen, wieder verschwand. Das Luxemburgische soll als Kontrastsprache dienen, da es eng mit dem Deutschen verwandt ist und das Suffix, im Gegensatz zum Deutschen, funktionalisiert und obligatorisiert hat (vgl. Bruch 1949; Gilles 2013). Der Blick in die moselfränkischen Dialekte2 auf deutscher Grenzseite dient als Zwischenglied, da sie dem LuxemburgischenLuxemburgisch sprachlich nahestehen, aber von der deutschen Standardsprache überdacht sind und das komplexe Suffix ebenso wenig wie das Deutsche etabliert haben.

In einem ersten Schritt (Kapitel 2) stehen die Entstehung, die Ausbreitung und der Rückgang bzw. Verbleib, die Funktionalisierung und Obligatorisierung der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv in den Varietäten im Mittelpunkt. In Kapitel 3 möchte ich über die Kontrastierung Schlüsse für den (Miss-)Erfolg des Suffixes in der jeweiligen Varietät ziehen und auf Auswirkungen eingehen. Kapitel 4 bietet Vorschläge einer synchronen Interpretation der Plural-Diminutive. Im Fazit (Kapitel 5) werde ich abschließend auf offene Fragen und Forschungsdesiderate eingehen.

2 Der PluralPlural-DiminutivDiminutiv in den Varietäten

Im Folgenden sollen jeweils die Entwicklung und der Verbleib oder Rückgang der overten PluralPlural-DiminutiveDiminutiv im DeutschenDeutsch im Kontrast zu den moselfränkischen Dialekten und der luxemburgischen Sprache thematisiert werden. Die Wahl fiel neben dem Deutschen auf das Luxemburgische, da in den beiden Sprachen trotz naher genetischer Verwandtschaft und struktureller Gemeinsamkeiten zwei vollkommen unterschiedliche Entwicklungen der Plural-Diminutive stattfanden. Die moselfränkischen Dialekte bilden das Bindeglied zwischen den beiden Sprachen: sie gehören zu den westmitteldeutschen Dialekten und gelten als Ursprung des LuxemburgischenLuxemburgisch. Aus struktureller Sicht haben sie noch immer viele Gemeinsamkeiten mit dem Luxemburgischen, das sich jedoch immer stärker von ihnen entfernt. Die Wenkerbögen beider Grenzseiten (1879 für den moselfränkischen Teil und 1888 in Luxemburg) zeigen, dass diese Entwicklung bereits im 19. Jahrhundert an der Staatsgrenze deutlich fortgeschritten ist.

Die Datenbasis für die drei Varietäten fällt stark heterogen aus. Diese Heterogenität ist unvermeidlich, da sich die Varietäten in unterschiedlichen Ausbaustadien befinden und die Dokumentationssituation divergiert. Für das Deutsche wurden vier Korpora hinzugezogen: das HIST-Archiv in Cosmas II des Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim, das Deutsche Textarchiv von 1650–1900, das Kernkorpus des 20. Jahrhunderts des DWDS und das ZEIT-Korpus (abrufbar über die Webseite des DWDS). Für das Luxemburgische stand das aktuelle Online-Wörterbuch Lëtzebuerger Online Dictionnaire (LOD) sowie das Luxemburger Wörterbuch (LWB) von 1950–1970 zur Verfügung und für das MoselfränkischeMoselfränkisch verschiedene Ortsgrammatiken (Steitz 1981 für Saarbrücken; Groß 1989 für Großrosseln und Reuter 1989 für Horath). Für alle drei Varietäten wurden Sprachatlanten (abrufbar über regionalsprache.de) zurate gezogen.

2.1 DeutschDeutsch

Unsere heutige Schriftsprache bevorzugt im allgemeinen (sic) die diminuierten Singularformen; Pluralformen sind relativ viel seltener. Werden letztere gebildet, so geschieht dies (…) nur gelegentlich durch Anfügen des [DiminutivDiminutiv-]Suffixes an Plurale mit epenthetischem -er (…). Anders die Sprache des 16. und 17. Jahrh. Hier sind solche Pluralbildungen minder selten, häufiger -erlein (-erleins), gelegentlich -erchen (-erchenes, -ercher, -erchens) (…).1

(Gürtler 1910: 135)

Gürtlers (1910: 135) Beschreibung der DiminutiveDiminutiv im DeutschenDeutsch und ihre Entwicklung im Frühneuhochdeutschen ist ein geeigneter Ausgangspunkt für die Geschichte der komplexen Suffixe. Zunächst soll der Fokus auf der Entstehung, Verbreitung und dem Rückgang der komplexen PluralPlural-Suffixe liegen (2.1.1) und anschließend der aktuelle Status der Diminutiv-Plurale näher betrachtet werden (2.1.2).

2.1.1 Entstehung, Ausbreitung und Rückgang der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv

Die erste Frage, die sich Gürtlers (1910) Beobachtung anschließt, betrifft die einzelnen Bestandteile des komplexen Suffixes: Er bemerkt, dass DiminutiveDiminutiv, wenn sie ihren PluralPlural überhaupt overt am Substantiv markieren, entweder einen er-haltigen Einschub zwischen Stamm und Suffix oder eine Markierung am äußersten rechten Wortrand oder beides aufweisen (vgl. Gürtler 1910: 135–138). Auch die Formen, die Ettinger (1980: 60) für den Zeitraum zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert zusammenstellt, bestätigen Gürtlers Annahme: Findet eine Pluralmarkierung statt, dann entweder durch einen er-Einschub zwischen Suffix und Stamm und/oder am äußersten Rand des Suffixes. Nun ist eine flexivische Markierung am äußersten rechten Rand des Wortbildungssuffixes wenig überraschend (vgl. u.a. Greenberg 1966: 93), vor allem, wenn es sich bei den aufgezählten Pluralmarkierungen sämtlich um reguläre Pluralmarkierungen des DeutschenDeutsch handelt (z.B. -(er)chen-e, -(er)lein-s oder -(er)chen-s in Ettinger 1980: 60). Bemerkenswerter ist der er-Einschub und die Frage, weshalb gerade -er- einen solchen Erfolg mit sich bringt und andere Plural-Allomorphe, wie -e, -en oder -s wie in „*Tierechen, *Nasenchen, *Parkschen“ (Donalies 2006: 42) ausgeschlossen sind.

In der Literatur werden vor allem zwei Argumente für den Erfolg des eingeschobenen -er- hervorgebracht. Einerseits wird die strukturelle Ähnlichkeit zu den zweisilbigen Basen mit Pseudo-Suffix -er als Grund angegeben: „Nachhaltigeren Erfolg hatten in der Literatur die (…) Pluralbildungen auf -erchen: Kinderchen, Dingerchen, Gläserchen, Räderchen usw., begünstigt durch die Brüderchen, Äderchen, Fensterchen“ (Henzen 1965: 147; auch Fleischer/Barz 2012: 234). Andererseits ist eine Anlehnung der DIM-PL an die DiminutiveDiminutiv mit Bindevokalen, die zu Anfang der neuhochdeutschen Periode keine Seltenheit waren (hauptsächlich -e- wie in stubechîn oder -i- wie in husichîn nach Gürtler 1909: 5) ebenso plausibel: Erst im frühen 17. Jahrhundert wurden Bindevokale zwischen Stamm und Suffix in Singular- und PluralPlural-Diminutiven von der Synkope erfasst und verschwanden. Diese beiden Analogie-Vorbilder, sowie das noch geringe Alter der er-Pluralisierung im Gegensatz zu den anderen Pluralisierungsmustern (vgl. Naumann 1986: 8) kommen als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der Plural-Diminutive in Frage.

 

Aus arealer Perspektive lässt sich der westmitteldeutsche Raum als Quelle für die PluralPlural-DiminutiveDiminutiv zurückverfolgen. Die ersten Belege stammen aus dem 14. Jahrhundert und gehören ausnahmslos zur Klasse der Substantive mit er-Plural (z.B. kleiderchîn, welferchen in Gürtler 1909). Diese sog. Hühnerhofklasse (Nübling i. V., Dammel i. V.). nahm zur Zeit des Mittelhochdeutschen und frühen Frühneuhochdeutschen eine große Anzahl einsilbiger Neutra mit ursprünglichem Nullplural (z.B. KindKinder), einsilbige Maskulina (MannMänner) und später zu frühneuhochdeutscher Zeit auch zweisilbige jambische Neutra (GebetGebeter) auf (Gürtler 1912/1913, Nübling demn.). Vollkommen parallel dazu breiteten sich die Plural-Diminutive auf diese Stämme aus (z.B. kinderchynne (15. Jh.), (Erd-)männerchen (1528), gebederchyn (1499)), wenn auch die Nullplurale weiterhin überwogen1Diminutiv. Diese parallele Ausbreitung unterstützt zunächst die These, dass die Entwicklung des sprachgeschichtlich jungen er-Plurals einen bedeutenden Einfluss auf die Plural-Diminutive hatte.

Das 18. Jahrhundert bedeutete für die PluralPlural-DiminutiveDiminutiv einen Wendepunkt. Ettinger (1980) und Schebben-Schmidt (1990: 318) vermerken eine deutliche Reduzierung der bei Gürtler (1910: 135) aufgezählten dialektalen Suffix-Varianten zugunsten der mitteldeutschen Suffixkombinationen -erchen (v.a. im Ostmitteldeutschen und Ripuarischen) und -ercher (v.a. im Rheinfränkischen). Diese beiden Varianten breiteten sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auf den gesamten deutschsprachigen Raum aus (Schebben-Schmidt 1990: 318) und waren stellenweise sogar in Dialektgebieten zu finden, in denen eigentlich l-Diminutive (des Typs -el oder -lein) vorherrschten (vgl. Gürtler 1910: 136–137).

Zieht man eine Stichprobe aus den Korpora (Tabelle 1) erkennt man trotz heterogener Datenlage erste Tendenzen.


DTSCosmas II HISTDWDS-KernkorpusZEIT-Korpus
17. Jh.0 %(10)
18. Jh.6 %(32)5 %(19)
19. Jh.15 %(33)25 %(36)
20. Jh.15 %(27)
21. Jh.0 %(23)

Tabelle 1

Anteil der Stämme ohne regulären er-PluralPlural an den Plural-Diminutiven mit komplexem Suffix -erchen in % in den vier Korpora; rechts: Anzahl verschiedener Stämme mit -erchen; links: Anteil der Stämme ohne regulären er-Plural

Im 17. Jahrhundert finden sich nur zehn unterschiedliche PluralPlural-DiminutiveDiminutiv, wobei sich alle Belege zu den Basen mit regulärem er-Plural rechnen lassen. Zum 18. und 19. Jahrhundert hin steigt sowohl die Zahl der verwendeten Basen allgemein als auch die derjenigen Basen ohne regulären er-Plural an. Die Mehrheit der Lexeme gehört zwar noch immer zu den erwartbaren Stämmen mit er-Plural (z.B. Bänderchen, Blätterchen), die Anzahl der Stämme mit abweichenden Pluralformen erhöht sich aber über die Jahrhunderte. Zu diesen neuen Basen mit abweichenden Pluralformen gehören unter anderem solche, die während der stärksten Ausbreitungsphase der er-Plurale zwischenzeitlich einen er-Plural annahmen, aber wieder abbauten (z.B. Grashälmer, Beiner vgl. Gürtler 1913; Reichmann/Wegera 1993; Nübling demn.). Diese Schwankungsfälle bilden den Brückenkontext für die Ausbreitung auf diejenigen weiteren Stämme, die nicht als Schwankungsfälle dokumentiert sind2 und sogar solche, die historisch niemals über ein er-Flexiv verfügen konnten. Zu letzteren zählen die zwei Belege mit femininen Stämmen Täuberchen und Geißerchen (in Grimm, J + W 1812). Diese beiden Belege sind insofern auffällig, da die Zuweisung des er-Plurals auf Neutra und Maskulina beschränkt war und auch weiterhin ist, die Pluralisierung im Diminutiv aber trotzdem über ein er-haltiges Suffix geschieht. Das Auftreten des er-haltigen PL-DIM-Suffixes bei diesen Lexemen bestätigt also eine Loslösung der Plural-Diminutive von den er-Pluralen, da die Grundvoraussetzungen für den er-Plural nicht mehr gegeben waren.

Auffallend ist, dass der Höhepunkt der er-haltigen PL-DIM-Formen nicht in das 18. Jahrhundert fiel, obwohl die zugrundeliegende er-Pluralklasse in dieser Zeit vor ihrem Rückgang ihre größte Verwendung fand (vgl. Nübling demn.). Eine mögliche Erklärung kann ein Blick in die Kontexte der PluralPlural-DiminutiveDiminutiv liefern: Sie treten besonders in Textgattungen mit archaisierenden Tendenzen wie dem Märchen und dem Volkslied auf, die sowieso diminutivreich sind und im 19 Jh. ihre größte Beliebtheit erfuhren (Burdorf et al. 2007 ‚Märchen‘; ‚Volkslied‘). Vor allem die unerwarteten Pluralformen bei Stämmen ohne er-Pluralzugehörigkeit wirken wie Imitationen bzw. Übertreibungen eines vermeintlich älteren Stils, wobei auch die daktylische Form aus metrischen Gründen bevorzugt worden sein könnte. Außerhalb der genannten Gattungen sind die Plural-Diminutive deutlich seltener.

Weder die steigende Anzahl der möglichen Basen für die PluralPlural-DiminutiveDiminutiv im 18./19. Jahrhundert noch die genannten Ausnahmen mit reanalysiertem Diminutiv-Plural-Suffix sollen über die Tatsache hinwegtäuschen, dass auch in der produktivsten Zeit die Nullplurale bei der Mehrheit der Diminutive überwogen. Die Stichproben für die Diminutive Kindchen (N=47), Bildchen (N=84), Männchen (N=194) und Blättchen (N=158) aus Cosmas II sollen die Verteilung (vgl. Abb. 1) kurz illustrieren. Die Auswahl in Abb. 1 entspricht den Diminutiven, die im Korpus für das 18. und 19. Jahrhundert am häufigsten mit erchen-Plural vorkommen. Es lässt sich also selbst für die Top 4 der Plural-Diminutive festhalten, dass die Plurale mit komplexem Suffix nur in Ausnahmefällen überwogen und der Nullplural im Regelfall die vorherrschende Markierung war, wenn auch je nach Lexem in unterschiedlichem Maße. Das Lexem Kindchen ist die einzige Ausnahme mit stabilem er-haltigen Suffix; die Lexeme Bildchen, Männchen und Blättchen dagegen zeigen die erwartbare Bevorzugung des Nullplurals.

Abb. 1

Verteilung komplexe PluralPlural-Suffixe (-erchen) vs. Nullplurale (-Øchen) im DeutschenDeutsch des 18./19. Jahrhunderts

Nach dem 19. Jahrhundert ist eine Abnahme der DiminutivDiminutiv-PluralPlural-Verwendung zu verzeichnen. In den Korpora für das 20. und 21. Jahrhundert hat die Basis-Vielfalt für die Plural-Diminutive abgenommen. In den Belegen für das 20. Jahrhundert sind nur noch vier Beispiele (Mäderchen, Amazönerchen, Gedichterchen und Späßerchen) mit Stämmen ohne er-Plural zu finden. Zwei der vier Beispiele lassen sich Kontexten zuordnen, die nahelegen, dass sich die Schreiber der Markiertheit der Formen bewusst waren. Einer der Belege ist in einen absichtlich ungrammatisch formulierten Satz eingebettet („anstatt Amazönerchen, was ihnen viel besser stehen tun tätete“) und ein anderer im Satz in Anführungszeichen gesetzt („Gedichterchen“). Diese Formen sprechen für ein bewusstes Spiel mit der Sprache.

Im ZEIT-Korpus, in dem Zeitungssprache aus dem 20. und 21. Jahrhundert zu finden ist, ist die Anzahl sämtlicher Diminutivformen – wenig überraschend – gering. Trotzdem haben sich noch einige der alten PluralPlural-DiminutiveDiminutiv gehalten, wobei ausschließlich der er-Plural-Klasse zugehörige Stämme (z.B. Kinderchen, Blätterchen) vertreten sind. Darüber hinaus sind die meisten der gefundenen Lexeme Einzelbelege, wobei die vier häufigsten Lexeme (Kinderchen, Bilderchen, Dingerchen und Häuserchen) 70 % aller Funde ausmachen.

2.1.2 Der heutige Stand

Fasst man den Status der DiminutivDiminutiv-Pluralisierung im heutigen DeutschDeutsch zusammen, spielen die Plurale mit dem komplexen Suffix eine deutlich untergeordnete Rolle (vgl. Tab. 2).


BasisSG-DIM-SuffixPL-DIM-SuffixBeispiel
Auslaut /ʃ, x/-lein-leinBüch-lein – Büch-lein
andere Auslaute-chen-chenBäum-chen – Bäum-chenBlätt-chen – Blätt-chen
Pluralklasse -er (fakultativ)-erchenBlätt-chen – Blätt-erchen

Tabelle 2

Pluralzuweisung bei Diminutiven im DeutschenDeutsch

Nur bei wenigen frequenten Ableitungs-Basen mit er-Plural bietet sich noch die Möglichkeit, das komplexe PL-DIM-Suffix zu verwenden. Gerade aus diesem Grund stellt sich die Frage, weshalb diese wenigen Reliktformen weiter bestehen blieben. Eine denkbare Erklärung für das Verbleiben der Reliktformen ist die Möglichkeit einer semantischen Aufteilung zwischen Reliktform und Nullplural. Für einige Belege ist dieser Erklärungsversuch durchaus plausibel (z.B. die Kleidchen ‚einteilige Kleidungsstücke mit Rock‘ vs. die Kleiderchen ‚Kleidungsstücke‘), für andere wiederum nicht motivierbar (die Bildchen vs. die Bilderchen (?)).

Auch die Assoziierung dieser Formen im Zusammenhang mit bestimmten literarischen Genres und pragmatischen Funktionen könnte einen nachvollziehbaren Ansatz liefern. Gerade archaisierende Texte, wie die bereits erwähnten Märchen oder Volkslieder, haben diese Diminutive bewahrt und sorgen aufgrund ihres hohen Bekanntheitsgrades für eine anhaltende Präsenz dieser Formen. Zudem beschränkt sich der pragmatische Rahmen der PluralPlural-Diminutive auf Verwendungen im Zusammenhang mit Kindersprache oder Spott, was mit Hinblick auf den semantisch/pragmatischen Wandel der Diminutive nicht verwunderlich ist (vgl. Dressler/Barbaresi 1994).

2.2 MoselfränkischeMoselfränkisch Dialekte

Im Großteil der moselfränkischen Dialekte trifft man weder auf den Nullplural bei Diminutiven noch auf das er-haltige komplexe Suffix. Hier hat sich stattdessen die Pluralmarkierung mit dem Suffix -cher etabliert (vgl. MRhSA Band 5, Karten 643–649). Diese vom StandarddeutschenStandarddeutsch abweichende Form des Suffixes entstand laut Wrede (1908: 105, vgl. auch Gürtler 1910: 137) im südlichen Teil des westmitteldeutschen Gebiets, das im Singular durchgehend n-Ausfall und damit das DiminutivsuffixDiminutivsuffix -che (wie Blimmche ‚Blümchen‘) aufwies. Im PluralPlural wurde das Suffix dann durch den er-Plural zu -cher erweitert und setzte sich als Pluralmarkierung im gesamten moselfränkischen und ripuarischen Dialektgebiet durch. Selbst in Regionen ohne n-Ausfall (v.a. im nördlichen MoselfränkischenMoselfränkisch) konnte sich die durch den er-Plural erweiterte Form ausbreiten, sodass dort -chen im Singular auf -cher im Plural trifft (z.B. Sg. Blimmchen – Pl. Blimmcher) (Seebold 1983: 1253).

 

Folgt man also Wrede und Gürtler, muss der n-Ausfall deutlich vor dem 15. Jahrhundert stattgefunden haben. Gürtler (1909: 6) datiert die ersten Belege mit cher-Suffix auf den Zeitraum um 1480 (z.B. bilcher, kistcher, taffelcher) und zitiert auch für den Verlauf des 16. Jahrhunderts Belege aus dem ripuarischen Raum (z.B. leutger, kittelger im Buch Weinsberg). Eine Durchsetzung in der überregionalen Schriftsprache gab es allerdings nicht: Mit Ausnahme einzelner Belege verschwand das Suffix durch die endgültige Ablösung der ripuarischen Schreibsprache im 18. Jahrhundert vollständig (vgl. Schebben-Schmidt 1990: 318).

Die Pluralmarkierung in den moselfränkischen und ripuarischen Dialekten geschieht dennoch bis heute weiter mit dem Suffix -cher als Allomorph neben dem komplexen Suffix -elcher, das auf velare und palatale Basis-Auslaute folgt (vgl. Tab 3):


BasisSG-DIM-SuffixPL-DIM-SuffixBeispiel
Auslaut /ʃ, x /häufig auch /k, ŋ, ts, ks/-elchenBich-elchen – Bich-elcher ‚Büchlein‘Stéck-elchen – Stéck-elcher ‚Stückchen‘
andere Auslaute-chen-cherBam-cher ‚Bäumchen‘Bläät-cher ‚Blättchen‘
Pluralklasse -er (fakultativ, selten)Känn-ercher ‚Kinderchen‘

Tabelle 3

Pluralzuweisung bei Diminutiven im MoselfränkischenMoselfränkisch

(nach Steitz 1981; Groß 1990; Reuter 1990)

Das komplexe Suffix -ercher findet zwar in einigen Ortsgrammatiken der moselfränkischen Dialekte Erwähnung, hat sich aber offenbar nicht durchgesetzt (vgl. Kirchberg 1906: 44 mit Hinweis auf die „Kindersprache“; Groß 1990: 122). Ähnlich wie in den Untersuchungen zum heutigen DeutschenDeutsch werden nur vereinzelte Formen genannt, die wie der Großteil der deutschen Reliktformen zu den Stämmen mit er-PluralPlural gehören.

Ein Blick in die Sprachatlanten bestätigt das Bild: Der Deutsche Sprachatlas vermerkt beim Lexem Apfelbäumchen (PL; N=517) zwei Orte am westlichen Rand des moselfränkischen Dialektgebietes direkt an der luxemburgischen Grenze mit komplexem er-haltigen Suffix, während die Mehrzahl der anderen Orte den cher-PluralPlural vorweisen (99 %). Auch im Mittelrheinischen Sprachatlas sind drei Lexeme im DiminutivDiminutiv Plural kartiert. Für das auch im StandarddeutschenStandarddeutsch gängige Kleiderchen wählen auch die Gewährspersonen in 23 Orten die Form mit komplexem Suffix, bei dem weniger frequent mit komplexem PL-DIM-Suffix vorkommenden Gläschen verringert sich die Zahl wiederum auf zwei Orte in luxemburgischer Grenznähe und beim Lexem Stühlchen, bei dem im Standard das erchen-Suffix blockiert ist, wählen drei Orte in Grenznähe das komplexe Suffix. Das komplexe er-haltige Suffix hat sich folglich im moselfränkischen Raum nicht durchsetzen können. Die wenigen Orte, die sich anders als das restliche moselfränkische Gebiet verhalten, sind ehemals zu Luxemburg gehörige Orte in der Eifel.