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Wortbildung im Deutschen

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C Toponomastisches

Toponymische KompositaKompositum in einem schweizerdeutschen Dialekt: vom nichttoponymischen Sprachgebrauch abweichende Wortakzentverhältnisse

This Fetzer

Abstract

This paper deals with the stress accent in toponymic compounds in the German speaking part of the Swiss Canton of Bern. In many of these toponyms, the main stress is placed on the second (right) element. This contrasts strikingly from the distribution in non-toponymic compounds in Swiss German dialects, in which the stress accent is typically placed on the first (left) element. Based on a collection of 7000 toponymic compounds taken from the Ortsnamenbuch des Kantons Bern, the paper discusses four different explanatory approaches to the phenomenon:

1 Compounds with a personal name as the first element,

2 compounds consisting of three or more elements that are derived from simpler two-elements compounds with regular stress distribution,

3 compounds with typical toponymic elements as second element, and

4 the generalisation of second-element stress accent in other cases, which could be seen as some kind of linguistic toponymicity marker.

1 Vorbemerkung

Eine große Anzahl toponymischer KompositaKompositum im deutschsprachigen Teil des Kantons Bern trägt den Hauptakzent auf dem zweiten (rechten) Kompositionselement (das in der ToponomastikToponomastik ohne Beachtung der semantischen Struktur allgemein „Grundwort“ genannt wird) statt wie zu erwarten auf dem ersten (linken) Element (dem Bestimmungswort). Dies, obwohl sich Deutschschweizer Dialekte in Bezug auf den WortakzentWortakzent allgemein konservativer als StandarddeutschStandarddeutsch zeigen und auch bei Neologismen ebenso wie bei Komposita Initialakzent bevorzugen. Ausgehend von ungefähr 7000 aktuell belegten toponymischen Komposita aus dem Ortsnamenbuch des Kantons Bern werden verschiedene Erklärungsansätze für diese auffälligen Akzentverhältnisse diskutiert:

1 Eine Gruppe von Namen mit Betonung auf dem Endglied entspricht dem alten Namentyp Personenname im Genitiv mit typischem SiedlungsnamengrundwortSiedlungsnamengrundwort (Beispiel Wil), für das offenbar auch bei jüngeren analogischen Prägungen diese Betonung gültig blieb.

2 Ein hoher Anteil insbesondere der komplexen KompositaKompositum, komplexes erweist sich als Rechtserweiterungen weniger komplexer KompositaKompositum um ein zusätzliches Appellativ. Diese zusätzlichen Wörter können unter Umständen als eigentliches Determinativelement des KompositumsZusammensetzung (siehe auch Kompositum) gelten (d.h. es könnte sich um postdeterminierte Komposita mit Umkehrung der Position von Grund- und Bestimmungsteil handeln; Typ Tannschachebérg ‚Teil des Tannschache, der ein Berg ist‘ eher als ‚Berg, der beim Tannschache liegt‘). Die rechts erweiterten toponymischen Komposita gruppieren sich teilweise zu ganzen Clustern mit einem gemeinsamen Kernnamen, was als Phänomen im nichttoponymischen Bereich kaum vorstellbar ist. Im Gegensatz dazu gelten nichttoponymische deutsche Komposita je nach Autorin oder Autor als selten oder gar nie postdeterminiert.

3 Manche toponymischen Zweitglieder treten besonders häufig auf. Ausgehend von Fällen, in denen sie aus historischen Gründen (FügungFügung statt Reihung) vermutlich ursprünglich grundwortbetont waren, hat sich dieses Akzentmuster weitgehend verselbstständigt und wurde auch auf andere Bildungen mit entsprechendem Zweitglied (beispielsweise KompositaKompositum mit schweizerdeutsch Egg) übertragen.

4 Die Überlagerung dieser drei Phänomene führt dazu, dass teilweise auch Toponyme Betonung auf dem rechten Element aufweisen, die in keine dieser Gruppen gehören (beispielsweise Ramsláuenen, eigentlich ‚Rutschgebiet mit Bärlauchbewuchs‘). Fraglich ist, ob darin eine Tendenz zur allgemeinen Markierung von ToponymizitätToponymizität mittels Betonung auf dem rechten Element gesehen werden kann. Wie eine regionale Auswertung zeigt, gibt es selbst im relativ kleinen Untersuchungsgebiet Regionen, in denen die Betonung des Zweitglieds sehr viel häufiger ist als in anderen.

2 Zur Fragestellung

Die Gemeinde- bzw. Dorfnamen


(1)Schafisheim (Kanton Aargau) und
(2)Schafhausen (Dorf in der Gemeinde Hasle im Emmental)

unterscheidet weniger, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Beide entsprechen dem KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum ahd. scāfhūs ‚Schafstall‘ im lokativischen Dativ PluralPlural, also bei den ‚Schafställen‘ (Kristol 2005: 804; Hentschel et al. unpubliziert). Die heutigen Lautungen (['ʃɔ:fis:ə] für (1) Schafisheim mit schriftlicher Volksetymologie für das Zweitglied, [ʃaf'husə] für (2) Schafhausen) unterscheiden sich aber so stark, dass ein Zusammenhang zwischen den beiden Namen nur mit historisch-linguistischen Kenntnissen herzustellen ist. Wie erklärt sich die unterschiedliche lautliche Entwicklung dieser beiden ursprünglich identischen Namen?

Entsprechend der ursprünglichen germanisch-althochdeutschen Erstsilbenbetonung werden deutsche Wörter im Allgemeinen auf dem ersten Element akzentuiert. Dies gilt auch für Nominalkomposita, bei denen ein unmarkiertes Grundwort im Zweitglied (rechts) durch ein Bestimmungswort (Determinativelement) im Erstglied (links) näher bestimmt und diese Zusatzinformation mittels Akzent verdeutlicht wird (Ortner/Ortner 1984: 13; Fleischer/Barz 1992: 88; Kohler 1995: 114–115).

Im Neuhochdeutschen gilt in Abweichung von diesem Muster für Wörter neuerer Prägung (insbesondere LehnwörterLehnwort) Finalakzent (Betonung der vorletzten bzw. bei AbleitungenAbleitung (siehe auch Derivation) der letzten Silbe). Dieses Akzentmuster wurde teilweise auch auf den ererbten Wortschatz übertragen (Holúnder, Hornísse, Forélle; Paul 2007: 29–30). Im SchweizerdeutschenSchweizerdeutsch sind die ursprünglichen Akzentverhältnisse allerdings stärker erhalten: Hier heißt es Hólder, Hórnisse; Forélle ersetzt als neuhochdeutsche EntlehnungEntlehnung älteres Fórene(n) (Idiotikon 1881 [Bd. 1]: 935). Tatsächlich ist es für Deutschschweizer Ohren auffällig, wie stark Deutsche z.B. bei französischen Lehnwörtern (und Namen wie jenem des französischen Fußballers Franck Ribéry) die Endsilbe betonen.

Die Zweitgliedbetonung betrifft im ererbten Wortschatz insbesondere Namen (Westfálen, Paderbórn, Brunhílde, Alemánnen; Paul 2007: 30). Die genannten Toponyme können in der Schweiz, wo sie per se ja fremd sind, allerdings auch als Wéstfalen und Páderborn ausgesprochen werden. Brunhílde und Alemánnen sind als literarisch-gebildete Prägungen ohne eigentliche dialektale EntsprechungEntsprechung zu verstehen. Umso auffallender ist daher, dass bei einer großen Anzahl schweizerdeutscher toponymischer KompositaKompositum tatsächlich Zweitgliedakzent vorliegt. Dass es für dieses Phänomen keine singuläre, allgemeingültige Erklärung gibt, zeigen allerdings schon die erwähnten etymologischetymologisch identischen Siedlungsnamen (1) Schafisheim und (2) Schafhausen.

3 KompositaKompositum

In nichtonymischen Sprechakten kann bei KompositaKompositum zur Kontrastbetonung jederzeit entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch Betonung des Zweitglieds eingesetzt werden (Ortner/Ortner 1984: 14 mit dem Beispiel Haushérr im Gegensatz zu Hausfráu). Auch bei toponymischen Komposita kann eine solche Betonung im Einzelfall nur eine vom Namenstandard abweichende einmalige Realisierung des Namens sein. Die Tatsache, dass im Untersuchungsmaterial aber sehr viele Komposita mit Betonung des Endglieds vorkommen, spricht jedoch dafür, dass Betonung des rechten Kompositionselements toponymischer Komposita ein dauerhaftes Phänomen ist.

Bei KompositaKompositum wird allgemein unterschieden zwischen Reihungen (Zusammensetzungen) mit unflektiertem Bestimmungswort und FügungenFügung mit flektiertem Bestimmungswort (Adjektiv, genitivischer Personenname). Letztere wurden durch langen sprachlichen Gebrauch aus freien Elementen zum KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum).

Beispiele für Reihungen sind die sowohl appellativisch als auch onymischonymisch gebräuchlichen schweizerdeutschen Héuberg ‚unterhalb der eigentlichen Alpenregion gelegene, eingehegte Bergwiese, die dem Vieh zur Weide dient‘ und Sándgruebe ‚Sandgrube‘ ebenso wie die nur onymisch gebräuchlichen Sunnmátt ‚sonnige Wiese‘, Bleueríed ‚Rodung oder Sumpfgelände bei der Stampfmühle, Hanfreibe‘ (Idiotikon 1901 [Bd. 4]: 1552; Idiotikon 1885 [Bd. 2]: 695; Idiotikon 1905 [Bd. 5]: 249–250; Idiotikon 1909 [Bd. 6]: 979–982, 1729–1735).

Nichtonymische FügungenFügung treten vermutlich wie das Wildschwein < (das) wild(e) Schwein fast ausschließlich mit unflektiertem Adjektiv auf. Dennoch zählen Bach (1953 II/1: 46) ebenso wie Tyroller (1996: 1432) diese Fälle auch zu den Fügungen (wogegen Laur 1996: 1373–1374 strikt unterscheidet). Die Behandlung dieser Bildungsweise als Fügung wird auch dadurch gestützt, dass etwa im älteren SchweizerdeutschenSchweizerdeutsch zumindest teilweise das schwach flektierte attributive Adjektiv im Nominativ und Akkusativ in allen drei Genera endungslos war (also di ganz Nacht ‚die ganze Nacht‘ [moderner oft di ganzi Nacht], der guet Maa ‚der gute Mann‘ [moderner der gueti Maa], ds leid Chind ‚das hässliche Kind‘ [moderner ds leide Chind]; Handschuh/Hotzenköcherle/Trüb 1975: 254). Nichtonymische Fügungen wie das genannte Wíldschwein < (das) wìld(e) Schwéin weisen wohl meistens Betonung auf dem Bestimmungswort auf.1Zusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum

 

Beispiele für toponymische FügungenFügung sind


(3)Wáhlendorf ‚Dorf der Wahlen, d.h. Fremdsprachigen‘,
(4)Hunzeríed ‚Rodung oder Sumpfgelände einer Person namens Hunzo o.ä.‘,
(5)Schwárzebach ‚(beim) schwarze(n) Bach‘ und
(6)Neueríed ‚(bei der) neue(n) Rodung‘.

Die Bestimmungswörter von (1) und (2) stehen im Genitiv, (3) und (4) sind mit Adjektiven gebildet, und (5) und (6) stehen im lokativischen Dativ (Idiotikon 1901 [Bd. 4]: 882, 947–954; Idiotikon 1929 [Bd. 9]: 2171–2204; Idiotikon 1973 [Bd. 13]: 1472–1498; Idiotikon 1999 [Bd. 15]: 1422–1427; Zinsli/Glatthard 1987: 321–322). Für diese – insgesamt sicher häufigeren – toponymischen FügungenFügung ist der Verbleib des Akzents auf dem Grundwort nicht überraschend, wenn nicht sogar zu erwarten, weil er den Verhältnissen in freier Gruppierung der Art ein gùtes Gewíssen, ein sànftes Rúhekissen entspräche (Michels 1925: 47–48; Bach 1953 II/1: 45–46; Wiesinger 1994: passim; Benware 2012: 399, 434–435 ).

Wie die obigen Beispiele zeigen, gibt es unter den Toponymen KompositaKompositum mit Hauptakzent auf dem Erstglied ebenso wie solche mit Hauptakzent auf dem Zweitglied, und zwar unabhängig davon, ob das Erstglied ein Substantiv oder ein Adjektiv, flektiert oder unflektiert ist.

Da die Akzentverhältnisse bei nichtonymischen KompositaKompositum recht eindeutig sind, werden sie in der linguistischen Forschung selten thematisiert. Michels (1925: 40) stellt fest, dass einzig einige dreisilbige Wörter, insbesondere erkennbare Komposita, den Akzent nicht auf dem Erstglied tragen, und führt Beispiele wie Jahrhúndert, Palmsónntag, Hauptpóstamt an (letzteres Beispiel ist für Deutschschweizer Ohren allerdings seltsam). Es handelt sich vor allem um rechtsverzweigte komplexe Komposita (Haupt-Postamt, nicht *Hauptpost-Amt, Palm-Sonntag, nicht *Palmsonn-Tag). Diese sind nach Ortner et al. (1991: 15; ohne Hinweis auf den WortakzentWortakzent bei Komposita) deutlich seltener als linksverzweigte (letztere Komposita werden kaum so betont: Es heißt nicht *Straßenbáhn-Fahrerin). Klara (2009: 176–178) stellt außerdem Betonung auf dem Grundwort sogenannter Steigerungskomposita fest, deren Erstglied ein Adjektiv ist und durch sehr ersetzt werden könnte (Beispiel steinreich).

In der ToponomastikToponomastik, wo die Verhältnisse auffällig abweichen, sind die Betonungsverhältnisse ebenso selten ein Thema. Aus toponomastischertoponomastisch Sicht sind sie meistens nicht interessant: Sie haben selten einen Einfluss auf die (klassischerweise interessierende) Etymologie, aber ebenso kaum auf Fragestellungen der Namenverwendung. In der jüngeren Forschung widmen sich einzig Nübling (2005: 29–30) und Benware (2012: 398, mit dem Hinweis auf das Fehlen einer breiten Forschung) dem Thema.

4 Untersuchungsmaterial

Das Korpus der folgenden Untersuchung entstammt dem Namenmaterial des Berner Ortsnamenbuchs (Zinsli 1976; Zinsli/Glatthard 1987; Hentschel/Schneider/Blatter 2011, 2008), das im Wesentlichen den deutschsprachigen Teil des Kantons Bern abdeckt. Berücksichtigt wurden Namen, die digital erfasst sind (Hentschel et al. unpubliziert). Das betrifft vor allem Namen, denen ein Lemma mit Anfangsbuchstaben Q-, R- und S- zugeordnet wurde. Unter den im März 2014 digital erfassten Namen wurden jene ausgewählt, die aus mindestens zwei Elementen bestehen (also als KompositaKompositum gelten können) und für die Angaben zu den Akzentverhältnissen vorhanden sind (was aus dem erwähnten Mangel an toponomastischemtoponomastisch Interesse für den Akzent nicht immer der Fall ist). Es kommen ausschließlich aktuell belegte Namen in Frage: Da der Akzent im DeutschenDeutsch nicht systematisch Bedeutungsinformation trägt,1Präfix wird er schriftlich nicht markiert. Nur Tonaufnahmen und wissenschaftliche Transkriptionen der Gegenwart geben Auskunft über die Akzentverhältnisse. Hinweise auf historische Betonungsverhältnisse sind vereinzelt indirekt zu gewinnnen:


(1)Schafissen 1594

steht für die Gemeinde Schafisheim und lässt darauf schließen, dass das Grundwort des KompositumsZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum im späten 16. Jahrhundert schon stark abgeschwächt war, also schon damals das Erstglied den Hauptakzent trug. Solche Erkenntnisse sind aber nicht systematisch zu gewinnen und daher für die Untersuchung nicht nutzbar.

Für manche Namen wurden mehrere abweichende Betonungsvarianten angegeben.


(7)Eine Aareinsel wird in Bannwil Vogelróupfi genannt, im benachbarten Graben aber Vógelroupfi.

Selbst eine einzelne Gewährsperson gibt unter Umständen mehrere Akzentvarianten an. Die Angaben sind daher immer als Momentaufnahmen zu verstehen, die möglicherweise auch durch die Befragungssituation beeinflusst sind (Kontrastbetonung zur Verdeutlichung; Ortner/Ortner 1984: 14).

Unter den Adjektivbildungen wurden nur jene berücksichtigt, die zumindest auch als fest zusammengewachsen belegt sind:


(8)
(9)Der Schwarze Hubel, der nur mit freiem Adjektiv belegt ist, bleibt dagegen unberücksichtigt.

5 Erste Auswertung

Im Folgenden ergeben sich Abweichungen von 100 % durch Namen, für die mehrere Betonungen angegeben wurden. Insgesamt ergibt sich die Anzahl von 7021 aktuellen Namennennungen mit Akzentangaben.

Von diesen Namenkomposita sind 4787 oder 68.2 % auf dem Erstglied betont. Das umfasst auch drei- und mehrgliedrige linksverzweigte KompositaKompositum mit komplexem linkem Teil, der nicht auf dem inneren Erstglied betont ist wie


(10)Fridliswárt-Site.

2304 Namen oder 32.8 % der Namen tragen den Hauptakzent auf dem zweiten Namenglied. Hier gibt es teilweise rechtsverzweigte mehrgliedrige Namen mit komplexem rechtem Teil, dessen inneres Element den Akzent auf dem ersten Teil trägt wie


(11)Fisi-Stíereberg.

Insgesamt herrscht auch bei den Namenkomposita die Betonung des Erstglieds mit zwei Dritteln deutlich vor. Immerhin ein Drittel der KompositaKompositum sind aber auf dem Zweitglied betont. Nichtonymische Vergleichszahlen sind aufgrund der unbegrenzten Anzahl möglicher Komposita nicht verfügbar; die Betonung auf dem Bestimmungswort gilt aber so sehr als Standard, dass in Texten meistens nur einzelne Beispiele abweichender Betonung angeführt werden.

Deutlicher wird die Abweichung von den nichtonymischen Verhältnissen, wenn man die Namen weiter gliedert. Für FügungenFügung mit Adjektiv im Erstglied gilt Betonung auf dem Zweitglied nicht als auffällig. Allerdings ist die Unterscheidung von Adjektiv und Substantiv nicht immer einwandfrei möglich:


(12)Ist ein Spítzacher ein ‚Acker bei oder mit einer Spitze (schweizerdeutsch Spitz)‘ oder ist es ein ‚spitzer Acker‘ mit dem homophonen Adjektiv (Idiotikon 1939 [Bd. 10]: 672–691)?

Tatsächlich zeigt sich bei den insgesamt 704 (mutmaßlichen) Bildungen mit Adjektiv (10.0 % aller Namen) ein anderes Bild. Von ihnen weisen 336 oder 47.7 % Betonung auf dem Erstglied auf, 390 oder 55.4 % dagegen auf dem Zweitglied, also deutlich mehr als über alle Namen.

Nach Ausschluss dieser KompositaKompositum bleiben 6385 Namen, deren Erstglied ein Substantiv, eine Personenbezeichnen, ein Ortsname oder (vereinzelt) ein Verbstamm ist (91.0 % aller Namen). Von diesen zeigen 4490 oder 70.3 % Betonung auf dem Erstglied und 1942 oder 30.4 % Finalbetonung. Dieses knappe Drittel der Namenkomposita mit Finalbetonung ist in seiner Häufigkeit auffällig und erklärungsbedürftig.

5.1 Erster Erklärungsansatz: Personnennamen im Erstglied

Sozusagen Standard ist die Endgliedbetonung bei vielen alten Siedlungsnamen auf -wil. Ihr Bestimmungswort nennt einen Gründer oder einstigen Besitzer (im Untersuchungsgebiet nur ganz ausnahmsweise in weiblicher Form).


(13)Madiswíl z.B. wird zurückgeführt auf althochdeutsch Madalwaltes-wîlâri ‚Hofsiedlung des Madalwalt‘ (Hentschel/Schneider/Blatter 2008: 209–210; Kristol 2005: 559–560).

Diese Orte gelten als Gründungen ungefähr des 8. Jahrhunderts, ihre verbreitete Überlieferung setzt im 11. Jahrhundert ein (Glatthard 1977: 315–316).

Die zahlreichen -wil-Siedlungsnamen im Kanton Bern haben fast ausschließlich Finalakzent (Idiotikon 1999 [Bd. 15]: 1258–1261; Hentschel/Schneider/Blatter 2011: LIX). Davon abweichende Betonung ist wohl anzunehmen bei einigen KompositaKompositum mit eingliedrigem Personennamen, deren Grundwort auf -bel bzw. mit der für Bern typischen l-Vokalisierung -bu abgeschwächt ist wie am östlichen Kantonsrand mit


(14)Huttu < Huttwil und
(15)Lotzbu < Lotzwil.

Von 14 im Datenmaterial erfassten Wil-Namen haben einzig zwei den Akzent auf dem Erstglied:


(16)Rápperswil und
(17)Ríetu (amtlich Riedtwil).

Der Namentyp entspricht der FügungFügung, d.h. der Personenname steht ursprünglich im Genitiv. Mit Bach (1953 II/1: 46) kann man sagen, dass die Grundwortbetonung nur logisch ist, da sie aus einer ursprünglich freien Gruppierung wie (13) *bî Madalwaltes wîlâre ‚bei Madalwalts Hof‘ o.ä. entstanden ist, in der der Genitiv in etwa dem Adjektiv von Adjektivkonstruktionen entspricht. Erstaunlich an der Betonung der Wil-Namen ist höchstens, dass sie sich auch in einer Zeit erhalten hat, als die KompositionKomposition längst nicht mehr durchsichtig war, und sogar heute noch Kraft erlangt. Obwohl das Wort appellativisch nicht mehr produktiv ist, kann es in späterer Zeit in nicht-appellativischem Sinn als eigentlicher Toponymizitätsmarker in Neuprägungen verwendet werden. Literarisch wandte das z.B. Jeremias Gotthelf an (Schweingruber 1990: 110):


(18)Küchliwyl,
(19)Kuhwyl und
(20)Nixiswyl.

Reale Beispiele, die den Hauptakzent auffälligerweise ebenfalls auf -wil tragen, sind


(21)Seewíl und
(22)Schattewíl,

zwei Häusergruppen am südlichen Ufer des Bielersees, die erst nach der Seespiegelabsenkung im 19. Jahrhundert entstanden.

Das Muster Personenname mit betontem Grundwort trifft aber ebenso auf Toponyme zu, die sekundär aus FlurnamenFlurname entstanden sind und kein typisches SiedlungsnamengrundwortSiedlungsnamengrundwort haben. Zum Vergleich werden Namen mit zwei dieser Grundwörter herangezogen.

59 Namen im Korpus haben im Erstglied mit einiger Sicherheit einen Personennamen, im Zweitglied Ried ‚Rodung‘ oder (etymologischetymologisch unverwandt und toponymisch in Verbindung mit einem Personennamen zumindest in der früheren Zeit wenig wahrscheinlich) ‚mit Schilf und Sumpfgras bewachsenes Land; Moor‘ (Idiotikon 1909 [Bd. 6]: 1729–1735) Beispiele dafür sind

 

(23)Meienríed,
(24)Buttenríed und
(25)Wínzenried.

Ihre Überlieferung setzt ähnlich früh ein wie jene der Wil-Namen. Ganze 43 oder 72.9 % dieser Namen sind auf dem Zweitglied betont, nur 16 (27.1 %) auf dem ersten.

Dazu kommen 35 Namen mit einem Personennamen im Erstglied und dem Zweitglied Schwand ‚Kahlschlag im Wald (Rodung durch Schälen, wodurch die Bäume zum Schwinden gebracht werden)‘ (Idiotikon 1929 [Bd. 9]: 1928–1934). Auch sie sind ähnlich früh belegt wie die -wil-Namen; dazu gehören


(26)Ätzlischwánd,
(27)Henzischwánd und
(28)Hérrenschwanden.

24 oder 68.6 % von ihnen sind auf dem Zweitglied betont, 12 oder 34.3 % auf dem ersten.

Es lässt sich also feststellen, dass die Bildungsweise Personenname (im Genitiv) mit Grundwort eine starke Tendenz zur Grundwortbetonung aufweist. Toponyme erfüllen im Gegensatz zum Allgemeinwortschatz eine viel absolutere (lokale) Individuierungsfunktion. Derartige KompositaKompositum kommen daher im Allgemeinwortschatz kaum vor; vergleichbar wären vielleicht Komposita mit Eigennamen als Bestimmungswort, etwa Shakespeare-Preis ‚Preis, der nach Shakespeare benannt ist‘ (Ortner et al. 1991: 117). Die Betonung des appellativischen Grundworts in einer Genitivfügung ist nur darum überraschend, weil die Determinierung bzw. Individuierung ja genau über die Erweiterung des Grundworts um einen Personennamen geschieht: (27) Henzischwánd ist eben ein ganz bestimmter Schwand. Solche Namen – soweit sie nicht sozusagen „onymisiert“ und damit dem Angleich an die allgemeinen Akzentverhältnisse enthoben sind – scheinen noch stärker als halbfreie FügungenFügung empfunden zu werden, wobei die Akzentverhältnisse nicht vom Alter der Namenbildungen abhängen, sondern Grundwortbetonung auch bei nur jung belegten Namen vorkommt.

Die Zweitgliedbetonung in toponymischen KompositaKompositum mit Besitzernamen tritt auch in Verbindung mit weniger verbreiteten Appellativen bis in die Gegenwart auf. Allerdings ist in neueren Bildung oft nicht ganz klar, ob das Erstglied wirklich eine Personenbezeichnung ist, weil in jüngerer Zeit häufig die Genitivmarkierung fehlt:


(29)Ist das Spächtelóch ein ‚Ort, wo sich Spechte aufhalten‘ oder eine ‚Stelle, die einer Familie Specht gehört‘ (Idiotikon 1895 [Bd. 3]: 1016–1021; Idiotikon 1939 [Bd. 10]: 46–47)?
(30)Das Bachvorschess ist tatsächlich nicht etwa die ‚untere Alpstufe am Bach‘, sondern die ‚untere Alpstufe der Familie Bach‘ (Idiotikon 1913 [Bd. 7]: 1371–1372).

Von 415 Namen, die mit einiger Sicherheit einen Personennamen im Erstglied tragen, sind 311 mit weniger verbreiteten Grundwörtern gebildet. Darunter sind alte Bildungen wie


(3)Wáhlendorf (erstbelegt 1305),

aber auch jüngere wie


(31)Kienersrűti (1626 noch Khueners guot zuo Ryti, 1676 dann Kienersrütte) und
(32)das nur aktuell belegte Wildsgúet.

Bei neuen Prägungen lässt sich genau bestimmen, wem ein Name zu verdanken ist (Hentschel et al. unpubliziert):


(33)Die Chasper-Ribeweid gehört(e) einem Kaspar Rieben,
(34)das Scheuchzerhorn wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zu Ehren des frühaufklärerischen Naturwissenschaftlers Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) benannt,
(35)der Gertrudspitz nach Gertrude Bell, die diese Spitze 1901 als Erste bestieg.

Von diesen 311 Namen weisen 188 oder 60.5 % Betonung auf dem Personennamen auf, 125 oder 40.2 % auf dem Grundwort. Die im nichtonymischen Bereich übliche Betonung auf dem Bestimmungsteil ist hier also verbreiteter als bei den Namen mit den typischen Grundwörtern Wil, Ried, Schwand. Im Vergleich mit allen Namenkomposita ist der Anteil Namen mit Finalakzent dennoch erhöht.