Weihnachtswundernacht 1

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Der Himmel für die, die die Hölle verdient haben

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern,

so sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern.

Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.

Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.

Dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht.

Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht.

Wer schuldig ist auf Erden, verhüll’ nicht mehr sein Haupt.

Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.

Die Nacht ist schon im Schwinden, macht euch zum Stalle auf!

Ihr sollt das Heil dort finden, das aller Zeiten Lauf

von Anfang an verkündet, seit eure Schuld geschah.

Nun hat sich euch verbündet, den Gott selbst ausersah.

Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.

Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.

Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr.

Von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.

Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt!

Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt!

Der sich den Erdkreis baute, der lässt der Sünder nicht.

Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht.

JOCHEN KLEPPER

Kann man ein Lied adoptieren? Einfach so? Ich weiß nicht. Ich hab mich einfach getraut. Vor Jahren schon. Seitdem ist dieses Lied mein Lied. Ein Adventslied, das mich still und treu durch meine Adventstage begleitet. Und durch die Alltage. Und das mir dabei immer neue Facetten des Evangeliums aufschließt.

Die Gute Nachricht von Jesus Christus in fünf Strophen. Kompakt und konzentriert. Nicht weihnachtlich sanft und süß. Eher sperrig. Wie die Zeit, in der es entstanden ist: 1938 der Text, 1939 die Melodie. Eine dunkle Zeit, eine Zeit der Verführung und der Verblendung. Führerwahn. Judenpogrome. Kriegsvorbereitungen. Mittendrin der Journalist und Schriftsteller Jochen Klepper. Verheiratet mit einer Jüdin. Zwei Töchter. Der Willkür des Naziregimes ausgeliefert. Ein berühmter und erfolgreicher Schriftsteller – sein Roman »Der Vater« hat im Jahr zuvor eine bemerkenswerte Auflagenhöhe erreicht. Aber aus der »Reichsschrifttumskammer« wird er ausgeschlossen.

»Die Nacht ist vorgedrungen.« Ein solcher Satz hat einen besonders bedrohlichen Klang 1938. Viele ahnen das heraufziehende Unheil. Doch »der Tag ist nicht mehr fern«. Der Kontrapunkt des Glaubens und der Hoffnung. Und so geht es weiter in diesem Lied, fünf Strophen lang und wieder von vorn.

Bis heute.

Bis zu mir.

Nacht gegen Tag. Verzagtheit gegen Mut. Zweifel gegen Glauben. Verzweiflung gegen Hoffnung. Gott kommt. Er kommt ins Dunkel. Nicht nur mal so kurz auf Besuch. Er kommt, um zu bleiben. Im Dunkel dieser Welt und im Dunkel meines Lebens. Nicht als Richter kommt er. Als Retter! Als »Kind und Knecht«! »Als wollte er belohnen.«

Die nächtlichen Tränen haben ein Ende. Der Morgenstern ist aufgegangen. Der Himmel verbündet sich mit der Erde. Der Schöpfer mit der Schöpfung. Der Sündlose mit den Sündern. Das gilt für gestern. Für heute. Und es gilt für morgen. Gottes Huld war nicht eine momentane Laune. Seine Freundlichkeit nicht eine vorübergehende Gefühlsregung. Sein Freispruch nicht eine zeitlich eng begrenzte Amnestie. Gott lässt den Sünder nicht. Nie mehr. Seine Liebe wandert mit uns durch die Zeit. Scheint hell und warm auf alle unsere Wege.

Das ist das Evangelium, die Gute Nachricht. Die beste Nachricht, die je auf unserem Globus gehört wurde!

Dieses Evangelium aber will immer neu entdeckt und entfaltet und geglaubt werden. Denn es steht quer zu meinen Alltagserfahrungen. Quer zu den Regeln menschlichen Zusammenlebens. Quer zu den Grundsätzen der Leistungsgesellschaft. Quer zu allen religiösen Bemühungen. Quer zu meinem unfrommen Wunsch, mir die Zuwendung Gottes verdienen zu wollen. Sie lässt sich eben nicht verdienen. Sie lässt sich nur entgegennehmen. Geschenkte Liebe. Durch nichts und von niemandem verdient.

Nein, das hat man nicht einmal und ein für alle Mal verstanden. Das muss man immer wieder verstehen. Oder anders: Das muss man stehenlassen und immer wieder neu bestaunen. Denn verstehen lässt sich’s nicht wirklich. Gottes Liebe ist ein Geheimnis. So geht man nicht mit Rechtsbrechern um! Nein, man nicht. Aber Gott.

Ich erinnere mich an ein Stilles Wochenende in Gnadenthal. Ich saß wohl schon eine Stunde in meiner kleinen Lieblingskapelle und wurde immer verzagter. Nein, vor diesem Gott hast du als Mensch keine Chance! Dieser Gedanke, dieses Gefühl drückte mich unerbittlich zu Boden. Es gibt sie ja, diese Momente, in denen dir messerscharf bewusst wird, wie groß, wie unüberwindbar die Sünde, der Sund, zwischen Gott und dir ist. In denen du’s nicht mehr nur singst, in denen es vielmehr in allen Blutbahnen pulst: »Nichts hab ich zu bringen! Aber auch gar nichts! Ich bin ein Nichts vor dir, heiliger Gott, ein Niemand!«

Alle lendenlahmen Versuche, meinen Versäumnissen ein paar fromme Leistungen entgegenzuhalten, waren längst fehlgeschlagen. Ich wusste doch: Hinter vielen frommen Aktivitäten und Worten hatte allzu oft nur Geltungsdrang gesteckt.

Da saß ich nun also, buchstäblich ein Häuflein Elend. Das Kreuz an der Stirnwand der Kapelle wagte ich kaum noch anzuschauen. Les Jeux sont fait. Ich hatte verloren. Das Spiel verloren. Mich verloren. Gott verloren.

Als plötzlich eine helle Melodie in meinen düsteren Gedanken zu singen begann. Sehr leise und sehr zaghaft zunächst. Kaum wahrnehmbar. Doch dann immer lauter. Immer forscher. Und schließlich unüberhörbar.

»Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt. Er soll gerettet werden, wenn er dem Kinde glaubt!«

Galt das mir? Galt das wirklich mir? Gerettet wird, wer dem Kind glaubt? Dem Kind in der Krippe von Bethlehem?

Es war eine Melodie aus dem Himmel an diesem Tag. Eine Botschaft direkt von dem Kreuz, das da vor mir an der Wand hing. »Glaub nicht deiner Schuld! Glaub nicht deinem Gewissen! Glaub dem Kind! Glaub Jesus! Der gekommen ist, um die mit dem Himmel zu belohnen, die die Hölle verdient haben! Dich!«

Ich weiß nicht mehr, ob ich geweint habe. Aber ich weiß noch, dass mir zum Weinen zumute war. Vor Scham und Schreck und vor Staunen. Vor Freude und vor Begeisterung. Weihnachten und Ostern und Geburtstag und Jubiläum auf einmal. Mein Fest!

Wie der verlorene Sohn bin ich in Gottes Arme gefallen. In sein Erbarmen. Hab neu Platz genommen an seinem Tisch. An seinem Herzen. Hab mich satt gestaunt und satt gegessen. Und war im Himmel. Irgendwie.

JÜRGEN WERTH


Ankunft in 24 Minuten

»Ankunft in 24 Minuten.« Sagt der Navi. Eigentlich ja das Navi. Neutrum. Ein satellitengesteuertes Ortungs-Programm mit Straßenkarten-Display und erotischer Frauenstimme.

»Wer’s glaubt, wird selig«, brummt Wolf-Rüdiger grimmig.

Er biegt auf die Bundesstraße ein und stellt den Scheibenwischer schneller. Schneeregen. Matschwetter. Zwei Baustellen stehen ihm noch bevor, wahrscheinlich sogar Umleitungen wegen der Weihnachtsmärkte in den zwei Dörfern auf dem Weg. Außerdem ist es Freitagspätnachmittag. Eine knappe halbe Stunde nur, pah. Soll man das glauben?

Sein Patenkind Frederike spielt um halb acht einen Engel. Im Gemeindehaus der übernächsten Stadt, abseits von Wolf-Rüdigers üblicher Heimfahrtstrecke.

Ausgerechnet heute ist es länger geworden im Büro. Erst streikte der Drucker, dann gab es Rückfragen, was will man machen.

»Noch 24 Tage bis Heiligabend, dann haben Sie Ihr Ziel erreicht.«

Wolf-Rüdiger reibt sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. Hat der Navi, also das Navi, eben »Heiligabend« gesagt? Nie im Leben. Ich bin völlig überarbeitet, denkt Wolf-Rüdiger, ich bin überdreht und müde. Höre schon Stimmen, meine Güte.

Früher, als man noch Straßenkarten benutzte, hatte seine Frau Roswitha auf dem Beifahrersitz den Autoatlas immer rumgedreht. Weil Ziele, die eine Frau anstrebt, »oben« sein müssen. Also jetzt nicht moralisch, sondern mehr so hirnphysiologisch gemeint. Frauen wollen nach »oben«. Auf jeden Fall. Auch auf der A 5, wenn man Richtung Basel fährt.

Heute macht dieses Rumdrehen ein Display. Freiburg im äußersten Südwesten Deutschlands ist rechts oben. Und Berlin ist links unten. Wenn man nach Freiburg fährt. Jetzt mal von sich aus gesehen. In dieser seiner streng subjektivistischen Weltsicht ist das Navigationsgerät eigentlich weiblich. Müsste also die Navi heißen. Sagt aber keiner. Besitzt ein Mann wie Wolf-Rüdiger noch einen Rest Geographiekenntnisse – Geographie, liebe Kinder, das ist, wenn man weiß, dass Dänemark oben und Österreich unten ist –, dann muss dieser Mann umdenken. Radikal umdenken.

 

Da. Die erste der befürchteten Baustellen-Ampeln. So ein Navi ist wie der Pfarrer auf der Kanzel, denkt Wolf-Rüdiger: Kriegt die Signale von ganz oben. Erwartet einfach, dass man seine Anweisungen befolgt. Behauptet Dinge, die der persönlichen Erfahrung widersprechen. Und manchmal sogar der konkreten Realität. Und provoziert dauernd die Frage: Soll man das glauben?!

»Ankunft Gottes als Mensch auf der Welt in 24 Tagen«.

Hat er das jetzt nur gedacht oder tatsächlich akustisch gehört? Wolf-Rüdiger starrt verwirrt aufs Display, prüft dann im Innenspiegel seine nervös geröteten Augen und verpasst dadurch beinah die Grünphase. Hinter ihm hupt es.

Umdenken, geht es Wolf-Rüdiger durch den Kopf. Radikal umdenken. Nicht nur räumlich, auch zeitlich. Natürlich kommt Jesus nicht erst an Heiligabend auf die Welt, verschwindet an Himmelfahrt wieder, und dann, »a-lle Jaa-hre wie-der, kommt da-has Christus-kind …«, nee nee. Der Kalender des Kirchenjahres erinnert lediglich daran, dass jedes einzelne Menschenleben und die Welt als Ganzes auf ein Ziel zusteuern. Und dass niemand weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt.

»Wenn ich nur noch 24 Tage zu leben hätte …«

Wolf-Rüdiger zuckt zusammen. Es gibt iPhones und Navis mit Sprachsteuerung, ja sicher, aber können diese kleinen Tyrannen jetzt schon Gedanken lesen und sie in Sprache umwandeln?! Jetzt werd’ nicht auch noch sentimental, Menschenskind! So fängt wahrscheinlich ein Burnout-Syndrom an. Wenn ich nur noch 24 Tage zu leben hätte, würde ich nicht freitagabends in einem Feierabendstau stehen, sondern … Ja, was eigentlich? Der kleinen Frederike weise Vorträge halten? Fotos sortieren, versöhnliche Briefe schreiben, alte Freunde aufsuchen und die Verwandten zu einem Abschiedsessen einladen? Mein Testament machen, Bücher und Bargeld verschenken, Meditationskurse belegen, beten und singen?

Wolf-Rüdiger drückt auf den Schalter über dem Türgriff, lässt die Seitenscheibe ein Stück herunter und atmet die feuchte Winterluft ein. Tief durchatmen, gaaanz tief durchatmen. Und logisch denken:

Ob Gott auf mich zukommt oder ich mich mit jedem Tag verbrauchter Lebenszeit auf ihn zu bewege, ist nur eine Frage der Perspektive. So gesehen ist das ganze Leben ein einziger Advent. Die Zeitspanne nämlich, in der ich auf eine Begegnung mit Gott zusteuere. Aber diese Begegnung muss doch nicht erst stattfinden, wenn ich sterbe, oder?

Dass Gott »oben« im Himmel ist und in Jesus »auf die Erde ni-hieder« kommt, »wo-ho wir Menschen sind« – auch das ist nur die räumliche Vorstellung eines netten Kinderliedes zu Weihnachten. Gott ist hier, überall, vermutet Wolf-Rüdiger. Um mich herum in dieser Mittelklassenkutsche, an mir dran in meinem mittelmäßigen Leben und in mir drin in meinem mittelprächtigen Charakter. Hat man weniger Angst vor dem Tod, wenn man Gott schon vorher ein paarmal begegnet ist?

Wolf-Rüdiger schließt das Fenster wieder und wischt sich die Regentropfen von der linken Schulter.

Die Graupelschauer da draußen verwandeln sich in Schneetreiben. Die endlose Kette aus Blech und roten Rückleuchten schiebt sich durch den adventlich geschmückten Ortskern wie eine schläfrige Python. Ampel Nr. zwei ist grün, Ampel Nr. drei wieder rot, Ampel Nr. vier ist kaputt. Vorwärts geht es trotzdem nicht.

»Neuberechnung. Neuberechnung.«

Aha. Seine neunmalkluge Mutti im Armaturenbrett hat die Umleitung um den Weihnachtsmarkt im nächsten Ort gecheckt. Soll er ihr vertrauen, obwohl er die Nebenstrecke nicht kennt? Wie oft hat er schon regelrechte Machtkämpfe mit ihr ausgefochten! Ja, die Navi wies ihm den kürzesten Weg nach Hause. Aber dass es 600 Meter raufging und dort oben Nebel und Glatteis herrschten, wusste sie nicht. Ja, geradeaus ging die Goethestraße weiter. Aber als Fußgängerzone. Mit Treppenstufen vorne dran. Und die abknickende Vorfahrt hieß Gotenstraße.

Wolf-Rüdiger ist nicht der Typ für »blinden« Gehorsam. Nicht im Auto und nicht in der Kirche. Einen Rest gesunde Skepsis hat er sich immer erhalten, Navis und Pfarrern gegenüber jedenfalls. Man muss schon mal aus dem Fenster schauen und selber denken. Oder mit der Beifahrerin reden. Säße jetzt Roswitha neben ihm, könnte er das. Mit dem Navi dagegen ist nicht zu reden. Auch mit Sprachsteuerung nicht. Der/ die/ das Navi fordert immer nur Gehorsam. Und ist hinterher nicht mal schuld, wenn die Umleitungsstrecke über unbefestigte Forstwege verlief. Letzte Woche, nach drei Tagen Dauerregen, soll ja ein 7,5-Tonner auf so einem Feldweg versackt sein.


Er hat schon Predigten gehört und Lieder gesungen, erinnert sich Wolf-Rüdiger, die stellten Gott genau so dar: Blinden Gehorsam fordernd, immer im Recht, nie zur Verantwortung zu ziehen. Je angestrengter und erschöpfter der dumme kleine Mensch mit den Widrigkeiten seiner Lebensumstände kämpft, umso triumphaler erhebt sich der Himmelsherrscher über ihn. Je winterlicher und dunkler die Verhältnisse seiner orientierungslosen Geschöpfe sind, desto majestätisch glänzender strahlt der Schöpfer. Wolf-Rüdiger fand das nie »herrlich«. Sondern immer nur herrisch.

Seine Stimmung hebt sich, als die Autoschlange vor ihm an Tempo gewinnt und ein paar Kilometer zügige Fahrt möglich werden. Quer über der Straße hängt im nächsten Dorf ein riesiges Banner. Ein rotwangiger Weihnachtsmann mit Sprechblase: »Hohoho, Weihnachtsmarkt!«

Also gut. Ich werde der Umleitungsempfehlung Folge leisten, denkt Wolf-Rüdiger. Was soll’s. Eine ganze Stuhlreihe genervter Zuschauer wird aufstehen müssen, Frederike wird enttäuscht sein, ihre Eltern werden vorwurfsvoll dreinschauen, und Roswitha, seine Frau, wird »typisch!« zischeln. Eine letzte Chance, rechtzeitig zum Krippenspiel zu kommen, gibt es nur, wenn der Pfarrer eine lange Einleitungsrede hält.

Wolf-Rüdiger schaltet runter, blinkt nach links, lässt den Gegenverkehr durch und biegt in die Nebenstrecke ein.

»Na?« Erwartungsvoll schaut er aufs Display. Sein Navi schweigt.

»Was ist?! Ich tue, was du sagst, merkst du das eigentlich? Könntest mich ja ruhig mal ein bisschen loben.«

Mein Gott, jetzt rede ich schon mit einem Gerät …

Die Umleitung ist eine überraschend breit ausgebaute Umgehungsstraße. Nagelneu. Es muss Jahre her sein, dass er das letzte Mal diese Strecke fuhr. Wolf-Rüdiger gibt Gas, schnurgerade bergab, rast mit knapp 110 km/h am Ortsschild vorbei und wird prompt geblitzt. Egal.

»Ankunft am Ziel auf der linken Seite.«

Schau an, Frau Oberlehrerin hat die Sprache wiedergefunden.

Er stellt den Wagen vor dem Gemeindehaus auf einen gebührenpflichtigen Parkstreifen und legt den Kassenbon vom Getränkemarkt unter die Windschutzscheibe.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, sagt der/die/das Navi.

Wolf-Rüdiger schnallt sich ab und schaut auf die Uhr.

»In exakt 24 Minuten«, nickt er. »Aber woher wusstest du, dass ich fahren würde wie eine gesengte Sau?«

Drinnen beginnt der Pfarrer gerade mit einer langen Einleitungsrede.

Frederike auf der Bühne, im Engelkostüm, strahlt ihren Patenonkel an. Wolf-Rüdiger kommen schier die Tränen. Ihre Eltern freuen sich, Roswitha begrüßt ihren Mann mit einer heftigen Umarmung und einem Kuss auf den Mund.

»Wie hast du das denn geschafft?!«

»Einfach mehr vertrauen. Mehr darauf vertrauen, dass Gott menschlich ist. Darum geht’s doch im Advent, oder?«

Die beiden setzen sich.

Der ist ja völlig überarbeitet, denkt sie.

ANDREAS MALESSA


Was soll einmal werden?

Ein Nachmittag in adventlicher Stimmung. Kerzen, Zimtsterne und Kakao. Die Kinder fertigen ihre Wunschzettel an, wir Erwachsenen reden über alte Bräuche, blöde und schöne. Wie nebenbei frage ich eins meiner Patenkinder, das gerade einen pinkfarbenen Schal, Mütze und Handschuhe gemalt hat: »Was willst du denn eigentlich mal werden?« Und die Kleine antwortet: »Groß!« Da sie es mit einem kleinen Lispeln ausspricht, klingt es besonders bezaubernd. Ich lache sie an und frage weiter: »Und dann? Wenn du groß bist, was dann?« Sieben Erwachsene sind auf einmal gespannt, neugierig und sehen sie erwartungsvoll an. Und die Kleine, sie ist gerade fünf Jahre alt geworden, sagt mit einem selbstbewussten Ton der Selbstverständlichkeit und keineswegs so, als kündige sie ein Geheimnis an: »Eisprinzessin!« Dann winkt sie und geht weg zu den anderen Kindern.

Wir, sieben Erwachsene, wissen nicht, was eine Eisprinzessin ist. Das Wort klingt, als käme es aus einem Märchen. Oder gehört es in den Sommer? Zu Vanille, Erdbeer und Schokolade? Oder doch auf den zugefrorenen See und zum Schlittschuhlaufen?

Da sagt einer von uns: »Ich, ich wollte ja immer Erfinder werden.« Heute ist er Anwalt. Und er findet, dass er schon lange keine Entdeckung mehr gemacht hat, viel zu lange schon nicht mehr. Und das allerdings war jetzt eine Entdeckung, und er nimmt sich vor, dringend mal wieder etwas zu erforschen oder zu suchen.

Seine Frau sagte, sie habe, wie viele andere Mädchen auch, Stewardess werden wollen. Sie sei dann aber zunächst einmal von der Schule geflogen. Sie grinst ihren Mann an. Und sie sei Mutter geworden. Aber später sei sie viel gereist. Sie schaut sehnsüchtig aus dem Fenster. Sie sieht so aus, als würde sie sich freuen, wenn ihr gleich jemand einen Tomatensaft anbieten würde.

Der Vater der zukünftigen Eisprinzessin meint, er habe Fußballprofi oder Rennfahrer, aber Hauptsache reich werden wollen. Das ist ihm auch gelungen. Weil er eine von Hause aus wohlhabende Frau geheiratet hat.

Genau die wiederum gesteht uns mit einem Schulterzucken: »Ich war ja immer so supergut in Latein.« Aber Latein habe so alt geklungen, nach Vergangenheit. Zukunft aber sei BWL gewesen, und so sei sie eben Managerin geworden. »Vielleicht hole ich meinen Cicero mal wieder raus«, meint sie. »Oder ich lese die Weihnachtsgeschichte mal auf Latein. Gloria in altissimis Deo, et in terra pax hominibus bonae voluntatis’« zitiert sie versonnen. Und fügt gnädigerweise hinzu: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.«

Und einer überrascht uns, weil er leise sagt, so als wage er kaum, es zuzugeben, er habe Tänzer werden wollen. Pina Bausch, Ballett. Der neben ihm stupst ihn in die Seite und meint feixend: »Du ein sterbender Schwan?« Aber er merkt, dass der andere es ernst meint und schweigt.

Wir sind alle nachdenklich geworden. Was ist, wenn der Kindertraum eines Tages ausgeträumt ist? Wenn wir versäumt haben, zu verwirklichen, was wir eigentlich wollten? Heute ist der Traum-Tänzer ein erfolgreicher Designer. Ist er denn nicht glücklich? Niemand wagt, es in diesem Moment zu fragen.

Und der von uns, dem immer schon alles einfach so zugefallen ist, meint: »Ich bin da, wo ich immer hin wollte.« Er sagt es so nüchtern, dass wir alle spontan und wie verabredet beschließen, ihn heute einmal nicht zu beneiden.

Eine wollte eigentlich immer nur singen oder Flöte spielen. Aber Künstlerin sei nun mal nach Ansicht ihrer Eltern kein Beruf, und so habe sie etwas Anständiges gelernt. Da sie nicht berufstätig ist, fragt niemand nach, was sie damit wohl meint.

Wir Erwachsenen gucken in Richtung der Kinder, die immer noch schreiben, malen, verzieren und ihre Wünsche so ernst nehmen. Ich beobachte die Kleine, die groß werden will. Kann man denn wohl Eisprinzessiologie studieren? Und wenn ja, wird sie es tun? Würde ich mein Patenkind dazu ermutigen? Da merke ich, dass die Blicke auf mir ruhen. Ich bin die Letzte in der Runde, die noch nichts gesagt hat. Und ich sage vorsichtig, fragend: »Geschichtenerzählerin vielleicht?« Denn als kleines Mädchen hatte ich meine Puppen und den Teddy aufmerksam in eine Reihe gesetzt, um ihnen Geschichten zu erzählen. Die konnten sich nicht wehren, und ich konnte stundenlang meiner Fantasie freien Lauf lassen. In meiner Erinnerung haben sie mir immer gerne zugehört. Ich bin überzeugt, einige haben sogar hin und wieder zustimmend genickt.

 

Und weil die Stimmung in diesem Moment ein bisschen so ist wie damals und wir an diesem Adventssamstag alle irgendwie zurückversetzt wurden in unsere Kinderzimmer, zu Fußballschuhen, Bilderbüchern, Träumen und Spielen, ist mir nach erzählen. Und ich beginne:

»Ich kannte mal einen, der hatte erst eine ganze Weile lang, es kommt einem ausgesprochen ewig vor, eine Welt geschaffen. Sterne, das Meer, Kastanienbäume, Rosen, Tannen, Granatäpfel, den Zimt und den Zucker, Schneeleoparden und Menschen. Und dann eines Tages fasste er einen Entschluss, oder fasste sich ein Herz, wie man sagt, als würde er einem Kinder-Jugendwunsch nachspüren, und offenbarte, dass er Zimmermann werden wolle.« Ich gucke in die Runde, Entdecker, Stewardess, wohlhabend, Gloria, Tänzer, zufrieden, Künstlerin und frage: »Ihr kennt den doch, oder?« Und sie nicken alle.

Wir reden noch lange: Wurde er groß? Nicht nach unseren Maßstäben. Aber weltberühmt. Erfolgreich? Nicht wirklich. Aber wir bereiten uns zurzeit alle auf seinen Geburtstag vor. Er wurde Zimmermann. Baute Türen für neue Räume. Fenster zum Himmel. Runde Tische, um in Gemeinschaft Brot zu teilen. Er starb viel zu jung, unvergessen. Er zeigte sogar, dass die Liebe stärker ist als der Tod, fast unglaublich. An einem Samstagnachmittag verdanken wir ihm adventliche Stimmung, jetzt wirklich. Sie geht über Kerzen und Kekse hinaus. Jesus ist ein Kind. Wie die Kinder, die ihre Wunschzettel so ernst nehmen und ihre Erwartungen an das Leben, erinnert er uns an unsere Träume. Dass er ein Handwerk als Beruf erlernt hat, scheint uns nicht so bedeutend. Weil er vor allem ein Mensch war. Wenn Gott, der Liebe ist, Mensch wurde, kann der Mensch werden, wozu er geschaffen ist: ein Liebender. Das ist uns auf einmal das Wichtigste. Das sollten wir dann auch können. Auf einmal ist alles möglich.


Die Überlegungen gingen weiter. Am nächsten Morgen, am Sonntag, erzählten wir uns, wie die Träume uns nicht losgelassen hatten. Und Jesus selbst uns keine Ruhe ließ mit seinem Wunsch vom Menschwerden und Lieben. Einige beschlossen, Wunschzettel zu schreiben. Mindestens für sich selbst. Andere sagten, sie hätten gebetet. Und wir alle freuten uns sehr auf Weihnachten.

CHRISTINA BRUDERECK

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