Weihnachtslinguistik

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2 Was machen wir, wenn wir jemandem etwas wünschen bzw. Glückwünsche aussprechen?

Was machen wir eigentlich, wenn wir Glückwünsche aussprechen? Wie wirken wir auf den Gesprächspartner und auf die Welt? Aus pragmalinguistischer Perspektive, die das Sprechen als eine Form des Handelns in der Welt betrachtet, haben Glückwünsche eine komplexe illokutionäre Struktur. Glückwünsche sind eine besondere Form des Wünschens, d.h. Propositionen, die im Rahmen einer deontischen Modalität zukunftsorientiert und dialogisch ausgerichtet sind: Etwas, das dem Adressaten bzw. Gratulierten zugutekommt, soll/kann/muss passieren. Glückwünsche stellen also keine Assertive dar, sondern sind eher als supportive expressive Sprechakte zu betrachten, die den Zustand des Sprechers und insbesondere seinen Wunsch, Freude beim Adressaten hervorzurufen, ausdrücken (Larrieta Zulategui 2015: 293). Manchmal haben sie auch eine direktive handlungsleitende Komponente – p(roposition), dass H(örer) h(andlung) macht; p(roposition), dass E(reignis) passiert.

Im deutschen performativen Verb wünschen und im italienischen augurare lässt sich aus der Sicht ihrer Wortgeschichte ein semantisches Spannungsfeld erkennen, das die kulturelle Breite des Aktes gut erfasst. Das Wort wünschen, ähnlich wie das Englische wish, leitet sich vom indoeuropäischen *ųen- ab (in der Bedeutung „streben“) mit dem indoeuropäischen Inchoativsuffix -sk(e/o)- in der Bedeutung „erstreben“.1 Das italienische Verb augurare und das Substantiv augurio (meist in der Pluralform auguri verwendet) leitet sich vom Lateinischen augurium ab. Gemeint ist damit die Weissagung der Auguren, die im alten Rom die Aufgabe hatten zu ergründen, ob ein geplantes Unternehmen den Göttern genehm sei. Durch die Deutung der Zeichen (signa bzw. auguria) verkündete der Augur den Götterwillen, den er erkannte durch die Auspizien2 – etwa aus dem Flug und dem Geschrei der Vögel und anderer Tiere. Das augurium ist also eng mit der Hoffnung verbunden, dass der Mensch in Harmonie mit dem Willen der Götter seine Entscheidungen trifft und mit dem Vorzeichen, dass in diesem Vertrauen immer etwas Gutes eintritt. Hier bahnt sich also ein Spannungsfeld an zwischen dem augurium als Beweis, dass in der Deutung des Willens der Götter der Mensch seine Götternähe bezeugt, und dem Wunsch als Bestrebung, dass etwas eintritt.

3 Die magische Kraft des Wortes

Indem wir jemandem etwas wünschen, enthüllen wir uns als Menschen, die an die magische Macht des Wortes glauben: Das gesprochene Wort kann die Welt beeinflussen. In diesem Sinne treten die Glückwünsche in die Nähe der Zaubersprüche, die eine magische Wirkung hervorbringen sollen – ähnlich wie der berühmte „Hals- und Beinbruch!“ bei den Prüfungen, der wie „der gute Rutsch ins Neue Jahr“ noch vom deutsch-jiddischen Sprach- und Kulturkontakt zeugt.1 Dem Aussprechen des Zauberspruchs liegt die Überzeugung zugrunde, dass die magische Perfomativität des Spruchs die Welt ändern kann (Haeseli 2011). Glückwünsche können also als eine Art moderne Beschwörungstexte betrachtet werden. In der vorchristlichen, heidnisch-germanischen Frühzeit dienten Zaubersprüche dazu, sich durch die Macht des gebundenen Wortes die magischen Kräfte dienstbar zu machen. Heidnische Zaubersprüche sind dann zu christlichen Heilsegen geworden, die im Mittelalter oft als verbale Therapie durch die Mönchärzte gepflegt wurden (Ernst 2011). Der Zauberspruch kann einen Dämon jagen, der für das Entstehen einer Krankheit verantwortlich ist. Wünsche des Glücks, der Gesundheit, des Erfolgs, die wir zu Weihnachten und anderen Gelegenheiten aussprechen, verraten noch dieses magische Substrat, das weiterhin im Menschen lebt, als wolle der Mensch auch heute die Dämonen jagen, die seinem Glück im Wege stehen können. Von diesem magischen Substrat zeugt auch der Weihnachtsbaum, der an die immergrünen Pflanzen erinnert, die in heidnischen Kulturen ein Symbol für Fruchtbarkeit und Lebenskraft waren.

4 Am Beispiel von Weihnachtswünschen: Pragmatische Angemessenheit interkulturell betrachtet

Weihnachtswünsche können aus festen standardisierten Formeln bestehen (wie etwa Frohe Weihnachten! und Buon Natale!) ohne bzw. mit vorausgesetztem performativem Verb, oder komplexere Textformen haben. Im Rahmen der nicht standardisierten Formen wird im Deutschen bisweilen auf ad-hoc-komponierte strophische Formen zurückgegriffen, wie etwa:

Strahlend hell und wunderbar,

so sei für Euch das nächste Jahr!

Freude und Besinnlichkeit,

das wünschen wir in der Weihnachtszeit!1

im Italienischen greift man eher auf argumentative Konstruktionen, wie etwa:

Ti abbraccio e ti auguro di trovare sotto l’albero tanta gioia, felicità e amore. Che sia un Natale unico ed indimenticabile. Auguri di buon Natale! 2

Nun stellt sich in einer immer mehr globalisierten Welt die Frage, welche Schwierigkeiten im Austausch der Weihnachtswünsche in der interkulturellen Kommunikation auftreten können. Es handelt sich dabei vor allem um die pragmatische Angemessenheit und um die Fehleranfälligkeit (Miodek 1994, Vivaldi/Larreta Zulategui 2019). Standardisierte Glückwünsche sind Gegenstand der pragmatischen Phraseologie, die sich mit dem Phänomen der Realisierung der Sprechakte durch Redemittel der formelhaften Sprache bzw. der Routineformeln beschäftigt. Routineformeln sind alleinstehende Wörter oder festgeprägte und plurilexikalische Wortketten, die oft innerhalb einer mehr oder weniger ritualisierten und alltäglichen Situation für die Durchführung eines Sprechaktes benutzt werden. Durch diese Einheiten kann der*die Sprecher*in nicht nur grüßen oder sich entschuldigen, sondern auch Glückwünsche äußern (Burger 1998: 29, 52). Manchmal kommt es in der interkulturellen Kommunikation zu Prozessen der Anpassung und der Aneignung durch uneigentliche Verwendung der fremdsprachlichen Routinen. Das ist der Fall bei der schon erwähnten Verballhornung bei ‚Hals und Beinbruch’ und ‚ein guter Rutsch ins Neue Jahr’ (s. hier Fußnote 3), wo eine feste fremdsprachliche Redewendung angepasst, reinterpretiert und rekontextualisiert wird.

Zu Weihnachten stehen den Mitgliedern der italienischen und der deutschen Sprachgemeinschaft bestimmte prototypische Weihnachtswünsche zur Verfügung. Oft wird der*die Adressat*in (im Kontext der Familie oder des Freundeskreises) durch appellative Formen explizit genannt.

Im Folgenden seien einige Grundformen der am meisten rekurrierenden Formeln präsentiert, die wiederum variiert werden können. Im Italienischen haben wir:3

Tanti auguri, (carissimi)!

Buon Natale (a Voi)!

(Auguri di un) Felice Natale!

Buone Feste (a te e alla tua famiglia)!

Auguro a te e famiglia una felice festa di Natale!

Buon Natale e un augurio di buona salute e tanta felicità!

Normalerweise werden Weihnachtswünsche mit den Glückwünschen zum Neuen Jahr gekoppelt:

Felice anno nuovo!

Relativ selten greift man heutzutage im Italienischen auf religiös tradierte Glückwünsche außerhalb ausgeprägt kirchlicher Kontexte zurück. Die häufigste Form ist Santo Natale!, das oft in breitere propositionale Strukturen eingebettet wird:

Che la pace, la gioia e la serenità del Santo Natale scenda su di te e su tutta la tua famiglia! 4

Diese Grundstrukturen können variieren mit elativen Formen: Tantissimi auguri! Felicissime feste! und Ergänzungen mit Wunschsätzen, die prototypisch von che … / lasciate che … (+ Konjunktiv) eingeleitet werden, wie etwa:

Tantissimi auguri! Che il Natale possa portare nella vostra casa armonia, pace e serenità!

Lasciate che la magia del Natale pervada le vostre anime, accendendo l’amor nei vostri cuori. Buon Natale!

Ti auguro di trovare sotto l’albero tanta gipia, felicità e amore. Che sia un Natale unico e indimenticabile. Auguri di Buon Natale!

Natale è arrivato. Possa la tua casa essere piena di risate, felicità, armonia, pace e amore. Buone feste!

Immer häufiger werden personalisierte Glückwünsche ausgesprochen:

Questo Natale fatti il miglior regalo possibile: rimani come sei!

Im Deutschen haben wir auch einige standardisierte Weihnachtswünsche. Neben das klassische Frohe Weihnachten! tritt immer häufiger Frohe Festtage! Frohes Fest! – analog zum Italienischen Buone Feste! –, das den arbeitsfreien Charakter der Feiertage betont. Auch im Deutschen haben wir oft eine Verbindung der Weihnachtswünsche mit den Wünschen für das Neue Jahr, wie etwa:

Frohe Weihnachten und ein glückliches, erfolgreiches Neues Jahr wünsche ich Dir und Kathi!

Fröhliche Weihnachten und einen guten Rutsch ins Neue Jahr wünschen Euch Chris und Magda!

Wir wünschen Euch fröhliche Festtage und einen guten Start ins Neue Jahr!

Religiös orientierte Glückwünsche werden im Deutschen mitunter auch heute noch ausgesprochen:

Ein gesegnetes und besinnliches Weihnachtsfest wünscht Euch Familie Müller!

 

Frohe Weihnachten und ein gesegnetes neues Jahr wünschen Ute und Heinz!

Frohe Weihnachten! Möge Gott Dich heute und für das kommende Jahr segnen und beschützen!

In der interkulturellen Kommunikation können solche Fehler auftreten:

* buon augurio di Buon Natale5

* Tutto bene per Natale! 6

* Gute Weihnachten und glückliches Neues Jahr! Viel Liebe dir und deiner Familie!7

Sind das Fehler? Ich denke nicht – bestimmt keine pragmatischen Fehler. Der Adressat/die Adressatin erkennt die kommunikative Intention des Sprechers/der Sprecherin.

5 Schlusswort

Heutzutage, wo seit Tausenden von Jahren niemand mehr den Flug der Vögel in Betracht zieht, um den Willen der obwaltenden Götter zu deuten, bleibt der Glückwunsch, der zu besonders feierlichen Anlässen geäußert wird, in unserer immer mehr säkularisierten Welt ein Zeichen der Sehnsucht nach der Magie des Wortes und das Zeugnis einer von Sprecher*in und Adressat*in geteilten Hoffnung, dass die Zukunft Gutes bereiten möge. Wenn wir unseren Mitmenschen Frohe Weihnachten wünschen, lassen die ausgesprochenen Worte ihre tiefe Schichtung und Ablagerung noch erkennen, wenn das Herz der Sprecher*innen und der Adressat*innen mitschwingen. Es ist der Abklang von Worten, die ein viel älteres Leben haben als diejenigen, die sie aussprechen. Auch in der säkularisierten Perspektive drückt das Aussprechen von Glückwünschen die Hoffnung aus, dass die Zukunft uns einen Zustand des Wohlbefindens bereitet, und genau dieser Wunsch ist der Ausdruck des – ob religiös motivierten oder nicht – Bedürfnisses vom Schutz vor den Übeln des irdischen Lebens und der Fragilität des menschlichen Daseins.

Literatur

Burger, Harald. 1998. Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin: Erich Schmidt Verlag.

Coulmas, Florian. 1981. Routine im Gespräch: Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik. Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion.

Ernst, Wolfgang. 2011. Beschwörungen und Segen. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag.

Haeseli, Christa. 2011. Magische Performativität. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Larreta Zulategui, Pablo Juan. 2015. Zu den Wunschformeln der deutschen Sprache. Muttersprache 4/125, 290–309.

Luger, Heinz-Helmuth. 2007. Pragmatische Phraseme: Routineformeln. In: Burger, Harald/Dobrovol’skij, Dmitrij/Kuhn, Peter/Norrick, Neal R. (Hrsg.). Phraseologie / Phraseology. Ein internationales Handbuch zeitgenossischer Forschung, Bd. 1. Berlin/New York: De Gruyter. 444–459.

Miodek, Wacław. 1994. Die Begrüßungs- und Abschiedsformeln im Deutschen und im Polnischen. Heidelberg: Groos.

Vivaldi, Valentina/Larreta Zulategui, Juan Pablo. 2019. Die Wunschformeln: eine kontrastive Analyse zwischen Standardspanischem und -deutschem. Linguistica Pragensia (29/1) 47–66.

5 Der Weihnachtsbrief

Thomas Spranz-Fogasy

Regelmäßig, auf der Rückfahrt vom Sommerurlaub, so um den 10. September herum, begann für uns Weihnachten. Nicht die ganze Fahrt über, aber immer wieder, sangen die Kinder auf den Rücksitzen Weihnachtslieder. Und ich begann, im Kopf schon mal den Weihnachtsbrief zu formulieren.

Der Weihnachtsbrief – eine Aufgabe, die mir seit Anfang der 1980er Jahre zusteht. Ein Kollege hatte mich drauf gebracht, mit seinem Weihnachtsbrief. Ausdrücklich als solcher tituliert, andere nennen das Jahresbrief, aus England, USA kommen Christmas oder Xmas Letters. Ich fand das eine gute Idee.

Im Weihnachtsbrief wird Verwandten, Freunden und näheren Bekannten mitgeteilt, was im vergehenden Jahr so bei uns in der Familie passiert ist, welche Pläne sich erfüllt, welche sich nicht erfüllt haben. Es geht um Schönes und nicht so Schönes, Lustiges und Trauriges, Geburten und Tode, Krankheiten und Genesungen, Hochzeiten, Feste und Reisen, berufliche und sonstige Pflichten, Erfolge und Misserfolge, um Freunde und Anverwandte.

Der Grundton des Weihnachtsbriefs soll dabei heiter sein, Negatives und Trauriges wird eher mal „verpackt“, aber sichtbar gelassen, für den, der es „lesen“ kann und will. Der eigene Anspruch ist auch, jedes Jahr eine eigenständige literarische Form zu entwickeln, z. B. mit einer Grundidee, wie die, das Geschehene aus der Sicht unserer Hauskatze zu schreiben. Und ein Foto muss dabei sein, eins, dass alle Familienmitglieder zeigt, gelegentlich auch eins nur mit den Kindern, neuerdings auch mal nur von uns Eltern; wenn nur drei (von Vieren) abgebildet sind, wird auf die Fotografin/den Fotografen im Text eigens hingewiesen. Häufig ist es ein Reisefoto, von den großen Reisen. Das Foto ist immer rechts oben. Links daneben steht die Adresse, über beidem mittig und mit 18 Pt Schrift fett und kursiv: Petra, Lina, Rosa und Thomas Fogasy, Weihnachten [Jahr]. Und am Ende des Briefs steht dann noch im dito Format: Ein schönes Weihnachtsfest // und ein // Gutes Neues Jahr.

In der Großfamilie hieß es dazu immer wieder mal „Ihr macht’s euch aber einfach, einen Brief schreiben, Kopien machen, fertig“ – wenn die wüssten! Sammeln, ordnen, Idee entwickeln, ein sprechendes Foto (aus)suchen, erste Version entwerfen, Familie drüber schauen lassen, zweite, dritte und später die finale Version erstellen – es dauert einige Stunden und Tage, bis der Weihnachtsbrief seine fertige Gestalt erreicht hat, verpackt und versandt ist.

Der große Anreiz besteht darin, ein ganzes Jahr auf eine Seite zu packen. Und nicht zu sehr zu schummeln mit der Schriftgröße (das war die ersten Jahre mit Schreibmaschine sowieso nicht drin); Times Roman 11 Pt bei 1-zeiligem Abstand war das kleinste Format, meist hat’s aber zu 12 Pt und 1,15 Zeilenabstand gereicht.

Die Kosten: ca. 80 Briefe, 20 davon ins Ausland – alles kopieren (anfangs noch 20 Pfennig pro Kopie), eintüten, Briefmarken drauf oder – fürs Ausland – auf dem Postamt bekleben lassen. Im Lauf der Zeit wurde es immer einfacher (und billiger) durch den Emailversand; 20 Exemplare müssen trotzdem kopiert und eingetütet werden für die älteren, netzlosen Verwandten und Freunde.

Der Weihnachtsbrief beginnt immer mit einer leisen Klage, dass schon wieder ein Jahr zu Ende geht, aber auch mit einem Verweis darauf, wie vollgepackt, schön oder traurig das vergehende Jahr war. Das geschieht mal mit einem literarischen Zitat wie „eins, zwei, drei im Sauseschritt …“ (Wilhelm Busch) oder „Wirklich schon wieder ein Jahr …“ (Reinhard Mey) oder auch mit einer Beschreibung der aktuellen Schreibsituation: „Da sitz ich nun ich armer Tor …“ (nach Faust). Oder es wird das Lebensgefühl des ganzen Jahres kondensiert:

„Ein Glück, dass wir zu viert sind, so hat jede(r) ein eigenes Jahr und zusammen haben wir vier erlebt – und das war nötig anno Domini [Jahr], wie hätten wir sonst die sprudelnde Ereignisflut bewältigen sollen. Wir können in diesem Brief nur eine Ahnung davon wiedergeben, ein tolles Jahr!“ [das Korrekturprogramm mahnt hier gerade an: „Versuchen Sie, Umgangssprache zu vermeiden“ und bietet für „tolles“ an: „großartiges“]

Als nächstes folgt meist das wichtigste Ereignis des Jahres, eine Geburt, ein Todesfall, runde Geburtstage, manchmal auch nachträglich Wichtiges, das zwischen dem Verfassen des letztjährigen Weihnachtsbriefs und dem Jahresende geschehen ist, eine OP, ein Todesfall. Wenn aber die große Weltgeschichte wieder mal einen GAU hingelegt hat, haben wir das auch an dieser Stelle vermerkt: Tschernobyl, Balkankrieg, Golfkrieg, 9/11 … Und dann beginnt der eigentliche Bericht. Wer hat was gemacht, was ist passiert, was wurde erreicht, was verpasst, aufgeteilt in Berufliches, Hobbies, Beziehungen. Und dann die Reisen, sie waren und sind natürlich familiäre, gelegentlich auch berufliche Höhepunkte.

Der letzte Absatz ist dann wieder eine Engführung und ein Ausblick auf die kommenden Tage, wie das Jahr ausklingen soll, auch, was im folgenden Jahr erwartet, ersehnt, erhofft wird und, ganz wichtig, eine Ansprache an die Empfänger des Weihnachtsbriefs, was wir ihnen für die Weihnachtstage, für das neue Jahr und überhaupt wünschen, und auch, was wir der Welt wünschen.

Und, was wird draus? Wir halten viele Kontakte lebendig, über viele Jahre, in denen wir viele der Empfänger nicht sehen, nicht treffen, uns nicht einmal mit ihnen schreiben. Aber wie toll [und wieder meldet sich das Korrekturprogramm: „großartig“ soll ich schreiben], wenn man sich über viele Jahre hinweg nur per Weihnachtsbrief „trifft“ und dann, wie in einem Fall, nach 22 Jahren anknüpft, als ob es gestern gewesen sei. Im konkreten Fall am vorletzten Tag einer langen Reise durch den Westen der USA, in Santa Barbara. Am Strand die Erinnerung, dass ich hier doch Leute kenne, KollegInnen. John und Jenny Gumperz, ersterer damals 83, wollte ich die Kinder nicht zumuten, also habe ich die andere Kollegin, Dorothy Chun, angerufen, spaßeshalber. Sie hatte ich Anfang der 1980er Jahre im Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim kennengelernt. „Kommt doch heute Abend vorbei“, hieß es, und das taten wir. Die Kids erstmal eher widerstrebend, dann aber doch, ob eines riesigen 3x5 Meter Fernsehapparates, einer Nachbarschaft mit Jennifer Aniston und Brad Pitt und auch ob der lieben Kollegin und ihres Mannes wegen begeistert. Und am Ende des Abends dann die Einladung, sich beim nächsten Mal früher anzumelden, wir könnten bei ihnen auch wohnen – das haben wir dann drei Jahre später auch getan: Nach einem sehr schönen Abend haben wir am nächsten Tag die Hausschlüssel in die Hand gedrückt bekommen, wir sollten so lange bleiben, wie wir wollten, sie müssten jetzt nach San Francisco, ihrem Sohn beim Umzug helfen – dies alles eine Folge der Institution des Weihnachtsbriefs.

Und es kommen Weihnachtsgrüße zurück, viele, fast hundert, manche als kurze Karten, Briefe, Flyer, aber viele ausführlichere – und, ja, eine ganze Reihe: Weihnachtsbriefe, mit Informationen, die wir anders nie erfahren würden, manch Tragisches, viel Schönes und viele Grüße. Alle Grußschreiben hängen dann überm Kamin bei uns, oft ist die ganze Wand zugehängt. Und sie hängen dann bis nach dem Sommerurlaub (s.o. erste Zeile), dann werden sie radikal abgenommen, nochmal gesichtet. Die Schnüre, an denen alle Weihnachtsgrüße mit Klammern befestigt werden, bleiben, es lohnt sich ja nicht, denn in drei Monaten heißt es ja wieder …: „ja is’ denn heut’ scho Weihnachten?“ …

✲ ✲ ✲

6 Weihnachtsansprachen

Eine mentalitätsgeschichtliche Serie in 70 Folgen

Simon Meier-Vieracker

✲ ✲ ✲

1 Alle Jahre wieder …

In seiner kleinen Philosophie des Festes hat Odo Marquard (1989) das Fest als „Moratorium des Alltags“ bestimmt, als eine wiederkehrende, aber stets nur vorübergehende Aussetzung der Anforderungen und Routinen des Alltags. Das Weihnachtsfest – und man könnte das mit Blick auf die üblichen Arbeitsroutinen in unserer Gesellschaft sicher ausdehnen auf die sogenannte Weihnachtspause – scheint durch diese Differenzqualität gut charakterisiert. Jedes Jahr aufs Neue ist Weihnachten die Zeit, in der man – hoffentlich – nicht arbeitet, nicht pendelt, vielleicht sogar offline geht, und die stattdessen mit allerlei „ritualisierte[n] Formen festlichen Zusammenseins“ (Kopperschmidt 1999, 11) gefüllt wird. Die wohl typischste unter diesen Formen ist mit Sicherheit das Weihnachtfest im Familienkreis (Schüller/Linke 2016, 2), das jede Familie mit ihren je eigenen Gepflogenheiten begeht. Doch auch die Politik hat ihre Weihnachtsrituale, und die Weihnachtsansprache, von der dieser Aufsatz handeln soll, nimmt unter diesen einen besonderen Platz ein.

Die Weihnachtsansprachen, die seit Bestehen der Bundesrepublik von hohen politischen Amtstragenden (zunächst von den Bundeskanzlern und seit 1970 von den Bundespräsidenten1) gehalten und massenmedial verbreitet werden, sind politische Reden, denen die genannte Differenzqualität des Weihnachtlichen in besonderer Weise eingeschrieben ist. Sie treten – stärker noch als die übrigen Reden insbesondere der vor allem mit repräsentativen Aufgaben betrauten Staatsoberhäupter – in Distanz zum politischen Tagesgeschäft und sind zumeist von einem Gestus des Innehaltens und der Besinnung geprägt. Der typische Zeitpunkt am Jahresende wird ähnlich wie in den Neujahrsansprachen der Bundeskanzler*innen häufig für eine Art Rückblick und Bilanz genutzt, die sich schon dadurch vom Bilanzierten selbst distanzieren muss. Und als medial vermittelte Ansprachen, die alle an ihren privaten Empfangsgeräten hören oder auch sehen können, fügen sie sich zumindest von der Idee her in die familiären Formen des Zusammenseins ein. Zwar dürften die Zeiten vorbei sein, in denen sich landesweit die Familien vor dem Radio oder dem Fernseher versammeln, um die Weihnachtsansprache zu hören, nicht zuletzt wegen der internetbasierten Dissemination, welche die für ältere massenmediale Formate typische Gleichzeitigkeit der Rezeption aufhebt. Aber immer noch richten sich die Bundespräsidenten in ihren Ansprachen an die Mitbürgerinnen und Mitbürger in ihrer häuslichen Umgebung. Weihnachtsansprachen werden nicht etwa vor einer anwesenden Festgesellschaft gehalten und nur zusätzlich übertragen, sondern vorab und eigens für die Übertragung aufgezeichnet, meist in einem Ambiente, das mit den üblichen Weihnachtsutensilien wie dem Adventskranz den häuslichen Umgebungen angeglichen ist. Und so sind die Weihnachtsansprachen auch nicht einfach Verkündigungen oder Rechtfertigungen etwa politischer Maßnahmenpakete, sondern sie werden trotz der raumzeitlichen Zerdehnung der Kommunikationssituation als „eine Art Gespräch mit der Zuhörerschaft“ (Sauer 2001, 230) gestaltet. Auch der Bundespräsident feiert schließlich Weihnachten, so dass er eher für die anderen als zu diesen spricht (Kopperschmidt 1999, 14), die sich in ebenso festlicher, aber privater Atmosphäre befinden.

 

Es handelt sich also bei den Weihnachtsansprachen um Festreden einer ganz besonderen Art, da sie als öffentliche politische Reden in eine familiär-private Alltagsenthobenheit hineinragen. Ihre linguistische Untersuchung ist ein reizvolles, aber bisher nur sehr punktuell durchgeführtes Unterfangen (Sauer 2001; zu Neujahrsansprachen Holly 1996). Dabei eröffnet gerade die Ritualhaftigkeit und alljährliche Wiederkehr der Weihnachtsansprachen besondere Analysemöglichkeiten, indem sich die Ansprachen zu einer lückenlosen Serie mit nunmehr bereits 70 Folgen verbinden. Gerade in der Serialität der Ansprachen lässt sich, gestützt durch quantifizierende Methoden, fragen, wie die Redner jeweils die besondere Aufgabe lösen, die Bevölkerung am Weihnachtsfest in eben jener Mittellage zwischen politischer Öffentlichkeit und festlicher Privatheit zu adressieren. Und es lässt sich fragen, wie sich dies möglicherweise über die Jahrzehnte verschiebt und wie sich die Ansprachen darum auch als Quellen einer bundesrepublikanischen Mentalitätsgeschichte lesen lassen.

Datengrundlage für die folgenden Analysen bilden die jeweils publizierten Druckfassungen, die teilweise im Internet (auf bundespraesident.de sowie konrad-adenauer.de) und teilweise in den Publikationen des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung und anderen gedruckten Quellen verfügbar sind. Viele Bundespräsidenten halten zusätzlich eine Weihnachtsansprache an die Deutschen im Ausland, es wurde jedoch jeweils nur die Hauptansprache ins Korpus aufgenommen. Das 73.857 Tokens umfassende Korpus wurde für die Analyse mithilfe des TreeTagger nach Wortarten annotiert und lemmatisiert.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?