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2.3. Der Zirkulationsagent

Dieser Begriff stammt von Hans Magnus Enzensberger, der 1986 eine Rezensenten-Dämmerung ausgerufen hat. Der Kritiker alter Schule habe abgedankt und die Bühne der Gesellschaft verlassen, weil der Markt die Unterscheidungen obsolet gemacht habe. Es blieben, quasi als Nachfolger der herkömmlichen Rezensenten, auf der einen Seite die »Pädagogen«, die sich vollsubventioniert mit Dichtern und ihren Werken beschäftigen, auf der anderen Seite die »Zirkulationsagenten«, die in keiner Weise am Gegenstand, sondern nur am Zirkulieren ihrer Meinung interessiert seien: Nicht das Buch sei das, um das es geht, sondern der Trend, der sich mit ihm ausrufen lässt (Enzensberger 1986).

Schuh hat »Zirkulationsagent« als »schönes Wort« gewürdigt, weil es an den Zirkus erinnere und »durch den Agenten zugleich alles negiert, womit der Zirkus Spaß macht« (Schuh 2000, S. 74). Jedoch hat der Zirkulationsagent, der nebenbei zur Zirkulation der Ware Buch beiträgt, es mitunter subjektiv nötig, sich als frei jonglierender Zirkuskünstler zu gebärden.

2.4 Der Raumpfleger

Diese Rolle wird von jenen gar nicht wenigen ausgefüllt, die die strukturell untergeordnete Dienstleistungsfunktion der Kritik nicht bemänteln, sondern sich vielmehr freudig dazu bekennen. Im Vordergrund steht der Dienst an der Literatur und der Dienst an den Lesenden, der Raumpfleger macht bewusst nicht viel Aufhebens von der eigenen Schreibposition, er sorgt für ein gutes Raumklima im literaturbetrieblichen Großraumbüro und für eine günstige Ausleuchtung. In der Rolle der Bedienerin weist die Literaturkritik sich selbst den Gestus der Bescheidenheit zu. Nüchtern hat in diesem Zusammenhang von der »dämliche[n] Demut« der Kritik gesprochen: »Man dient sich dienend der Literatur, dem Autor, den Verlagen an« (Nüchtern 2007). Löffler gebraucht das Wort »servil« (zit. in Neuhaus 2004, S. 79). Der Raumpfleger ist also nicht harmlos, nur weil er keine Verrisse schreibt. Laut Tucholsky ist »die industrialisierte Literatur ein großer Klub«; das »Grundübel der literarischen Verfilzung« sei der Wunsch dazuzugehören (Tucholsky 1985, S. 314). Und zwar nicht so, wie eine Reinigungskraft dazugehört. Mit wahllos gespendetem Lob meint der Raumpfleger das am ehesten zu erreichen.

2.5. Der Verkehrspolizist

Der Verkehrspolizist, wie diese Spezies genannt sei, will mehr als nur den Mitwirkenden des literarischen Lebens ihren Platz anweisen: Ihm geht es ums Ordnen und Regulieren, er möchte für die »richtige« literarische Bewegung oder Richtung (also seine) freie Fahrt durchsetzen und den Angehörigen ihm widerstrebender Strömungen die Einfahrt verbieten. Er ist durchaus mit dem heute aus der Mode gekommenen Strategen verwandt, den Walter Benjamin in der Pose des schnoddrigen Aktivisten in seinem Manifest Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen (1927) skizziert hat. Der Kritiker als »Stratege im Literaturkampf« agiert politisch, das heißt, um seine Vorstellung von einer revolutionierten Gesellschaft durchzusetzen. Deshalb kann er sich Neutralität nicht leisten: »Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen.« Und: »Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet« (Benjamin 1972, S. 109).

Kurt Tucholsky interpretierte die Rolle des literaturkritischen Verkehrspolizisten in erster Linie als die eines Spielverderbers. Er hatte konkret einen Übersetzer getadelt, was man ihm als geschäftsschädigendes Verhalten ankreidete – in Kritik als Geschäftsstörung kontert Tucholsky: »Also das geht nicht. Ich will dem Mann schaden, wenn ich ihn tadele. Ich will die Leser vor ihm warnen und die Verleger auch – ich will aus politischen, aus ästhetischen, aus andern offen anzugebenden Gründen diese Sorte Literatur mit den Mitteln unterdrücken, die einem Kritiker angemessen sind. Das heißt: ich habe die Leistung zu kritisieren und weiter nichts. Aber die mit aller Schärfe.« Denn, so Tucholsky weiter, der Kritiker sei schließlich »nicht dazu da, der Frau des Romanverfassers Piepenbringk die Anschaffung neuer Schlafzimmervorhänge zu ermöglichen« (Tucholsky 1985, S. 315).

Die Offenheit, mit der Tucholsky die Ausübung einer kritischen Exekutivgewalt für sich beansprucht, ist heute nicht mehr comme il fault. Aber auch Klaus Nüchtern sieht sich, wenn es denn sein muss, als Verhinderer aus Überzeugung. Für ihn hat die Leserin, der Leser ein »völlig legitimes Interesse an Komplexitätsreduktion, und ich habe es nie als die niedrigste Aufgabe eines Literaturjournalisten oder -kritikers empfunden, jemand daran zu hindern, seine Zeit mit schlechter Literatur zu verplempern« (Nüchtern 2007).

3. Ein Schulenstreit: Gnostiker gegen Emphatiker – das ist Brutalität

Im Frühling 2006 hat ein Buch im deutschen Feuilleton eine überraschend heftige Debatte über das Selbstverständnis der Literaturkritik ausgelöst: Volker Weidermanns Lichtjahre, mit dem Untertitel Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Hierbei ging es zunächst nicht um die Rolle des Kritikers im Betrieb, sondern um Intimeres: um dessen Umgang mit seinem Gegenstand, der Literatur. Letzten Endes ist aber die Auffassung vom eigenen Handwerkszeug nicht von der sozialen Funktion zu trennen, die der Kritiker für sich beansprucht.

Weidermann, Feuilletonchef der programmatisch »jungen« Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, selbst Mitte Dreißig, porträtiert darin 135 Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Literatur und versteht sein Werk als eine Art Fortsetzung von Heinz Schlaffers Kurzer Geschichte der deutschen Literatur, in der, bei aller gebotenen Kürze, jedenfalls die Nachkriegsliteratur zu kurz kommt.

Gleich nach Erscheinen von Lichtjahre im März kam es im Literarischen Colloquium Berlin zu einer öffentlichen, vom Deutschlandfunk übertragenen Diskussion mit dem Autor. Daran nahmen die Kritiker Christoph Bartmann und Ulrich Greiner teil, Gastgeber und Moderator war deren Zunftkollege Hubert Winkels. Die durchaus höfliche diskursive Herrenrunde, die sich Weidermanns Buch vornahm, wurde von manchen Zuhörern nur mehr in der Metaphorik eines Raufhandels wahrgenommen: »Du bist doch ein richtiges Arschloch! Einen Autor mit seinem neuen Buch fertigzumachen! Drei gegen einen. Hinterhältig und feige.« Das sagte der Autor Maxim Biller zu Hubert Winkels, der insofern aus der Moderatorenrolle gefallen war, als er sein Unbehagen am Buch des Gastes jedenfalls nicht verhehlen mochte (Bartels 2006).

Warum, das erklärte Winkels zwei Wochen später in der Zeit ausführlich: Der Autor von Lichtjahre erzähle »nach den Kriterien Lebendigkeit, Lebensnähe, Leidenschaft und Lässigkeit. Aber leider geht es nur am Rande um Literatur, das heißt um Texte, um Machart, Form, Sprache und Dramaturgie. Man kann das so machen, aber der Preis ist hoch, und er ist sichtbar.« Winkels benutzt den Anlassfall, um eine Zweiteilung der Kritikerzunft zu konstatieren: in »Emphatiker« und »Gnostiker«. – »Die Emphatiker sind die mit dem unbedingten Hunger nach Leben und Liebe; Gnostiker sind die, denen ohne Begreifen dessen, was sie ergreift, auch keine Lust kommt; die sich sorgen, falschen Selbstbildern, kollektiven Stimmungen, Moden und Ideologien aufzusitzen« (Winkels 2006).

Nun ist »Gnostiker« ein religionsgeschichtlich belasteter Begriff für einen Typus, den man einfach den »Rationalisten« nennen könnte – was für Winkels aber wohl einen pejorativen Beigeschmack hat. Er misst seine geballte Verachtung nur einer der beiden von ihm eingeführten Fraktionen zu, den »Emphatikern«, den »Leidenschaftssimulanten und Lebensbeschwörern«, die »Stadionberichte aus dem literarischen Leben liefern«; zu den »Gnostikern« zählt er sich schließlich selbst (ebd.). Winkels’ polemische Strategie zielt darauf ab, den rebellisch-vitalistischen Kraftlackel-Gestus der »Emphatiker« (etwa nach dem Vorbild des frühen Brecht) als affirmative Haltung zur kapitalistisch organisierten Welt des Entertainment zu entlarven: Ihr Vorbild sei der Gefühls- und Betroffenheitskult des Fernsehens, die dort praktizierte Personalisierung und Exaltiertheit: »Ihr Basisprogramm ist durch und durch performativ, selbst in Buch und Zeitung« (ebd.).

Hubert Winkels’ Angriff entfachte eine Debatte, an der sich alle wesentlichen Zeitungen Deutschlands ausführlich und durchaus emphatisch beteiligten. Sekundiert hatte ihm in derselben Ausgabe der Zeit deren Literaturchef Ulrich Greiner unter dem Titel Abglanz des Gelebten. Volker Weidermann betreibt Biografismus als Literaturgeschichte (Greiner 2006). Ina Hartwig legte in der Frankfurter Rundschau noch eins nach, unter der Überschrift Ich und der Dichter. Achtung, Achtung: Die Ganzkörperliteraturkritik übernimmt:

Ulrich Greiner hat Weidermann in der Zeit »Biographismus« vorgeworfen. Ist, was Weidermann über Celan schreibt, nicht vielmehr biographische Suggestion? Oder wenn Ingeborg Bachmanns Lebensende bedichtet wird mit den Worten: ›Der Tod kam nachts. Sie hatte Beruhigungsmittel genommen. Legte sich ins Bett. Allein. Mit einer brennenden Zigarette. Das Bett fing Feuer. Das Nachthemd fing Feuer. Ingeborg Bachmann ist verbrannt.‹ Nein, das ist nicht biographisch, auch nicht biographistisch, sondern schlicht Tratsch. Man könnte auch sagen: Schriftstellerlebensgeschichtskitsch, und zwar auf Kosten von Lebenden, Toten und auf Kosten der seriösen Literaturkritik. (Hartwig 2006)

Die Trennlinie, die gezogen wird, und zwar von beiden Seiten des Grabens aus, ist also die zwischen Seriosität und Unterhaltsamkeit. Selbst wohlmeinende Kritiker von Weidermanns Buch kommen nicht umhin, auf dem Wege der Popularisierung Substanzverlust festzustellen. So lobt Volker Hage im Spiegel, der Autor wage »Meinungen, klare, kräftige Urteile« und sein Buch lese sich gut. Seine Absage an Abstraktion und Begrifflichkeit sei aber doch bedenklich (Hage 2006). Tatsächlich tritt Weidermann mancherorts die Flucht des Kritikers nach vorn, in die Sprachlosigkeit an. Da heißt es bei ihm etwa über einen Roman von Undine Gruenter: »ein so zartes und leises Buch, dass alle Begriffe, die es zu fassen versuchen, so klotzig und schwerfällig wirken« (Weidermann 2005, S. 250). Und über Judith Hermanns Debüt Sommerhaus, später: Was da alles drinstecke, »das kann man eben nicht heraustragen in einen Zeitungsartikel hinein« (ebd., S. 259).

 

Man könnte sagen, Volker Weidermann geriert sich als mimetischer, ja mehr noch: als symbiotischer Kritiker, im Grunde eine contradictio in se. Er hat nicht nur ein Faible für Autorinnen mit dem Image eines zerbrechlichen Fräuleins, sondern auch für Autoren mit dem Image des zornigen jungen Mannes, mögen sie auch, wie Wolf Wondratschek und Maxim Biller, in die Jahre gekommen sein. Sie bieten dem Kritiker die Identifikationsfläche für sein überbordendes Ego, ihnen eifert er nach, ihnen nähert er sich an, auch stilistisch. Das Ziel ist, im Sinne der historischen Rollenverteilung zwischen dem Kritiker und dem Dichter oder der Dichterin, die Vereinigung des Parasiten mit dem Wirt.

Volker Weidermann platzierte seine Antwort auf den Aufstand der »Seriösen« just im seriösen Schwesterblatt FAZ und verfestigte im Grunde nur die im Feuilleton-Streit bereits herausgebildeten Fronten. Schon der Titel Das Lesen ist schön legte mit dem suggerierten Gleichklang von »Lesen« und »Leben« ein Bekenntnis zu dem Weidermann unterstellten Kult des Vitalismus ab. Der kritisierte Kritiker erklärt die Frage nach der Legitimität von Leidenschaft bei der Ausübung des Rezensentenhandwerks für müßig. Es sei das gute Recht derer, die das wollten, unter sich zu bleiben. Und es sei das gute Recht der anderen zu sehen, »wie man das oftmals trockene Geschäft der Literaturkritik populärer machen kann, wie man die eigene Begeisterung für die Literatur vermitteln kann, ohne immer nur unter sich zu bleiben. Das ist doch das Geheimnis! Das ist doch das Ziel! Denn erst die Leidenschaft macht den Literaturkritiker sehend« (Weidermann 2006).

Nur als Enthusiast (von griechisch »entheazo«, gottbegeistert, verzückt sein) hat der Literaturkritiker demnach Anteil am göttlichen Funken, der den Dichter entzündet. Die Motivation dessen, den seine Leidenschaft »sehend« gemacht hat, ist, auch jenen die Augen zu öffnen, die noch mit Blindheit geschlagen sind. Im Falle von Volker Weidermann sind es die, die der deutschen Literatur der Nachkriegszeit – genauer: bestimmten ihr zuzurechnenden Autorinnen und Autoren – nicht die gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden ließen: »Dieser Blindheit gegenüber der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit, gegenüber so großartigen Autoren wie W.G. Sebald, Gert Ledig, Hubert Fichte, Undine Gruenter und vielen, vielen anderen wollte ich begegnen, indem ich die Geschichte der deutschen Literatur als Lebensgeschichte ihrer Protagonisten […] geschrieben habe« (ebd.).

Auch was die grundsätzliche Abwertung der Theorie betrifft, macht Weidermann die Schreibenden zu Verbündeten des enthusiastischen Kritikers: Der Erfolg der neuen deutschen Literatur habe sich erst eingestellt, »seit viele deutsche Autoren die Theorie des Erzählens nicht mehr als Selbstzweck und unter Ausschluß möglichst vieler Leser betreiben, sondern den theoretischen Hintergrund als selbstverständliche Basis ihrer neuen Erzählfreude betrachten« (ebd.). Weidermann versteht sich auch ausdrücklich als einer, der sich, anders als andere Autoren von Literaturgeschichten, den lebenden Schriftstellern stellt und ihre Kanonisierung wagt. Hierin erweist sich eine erstaunliche Verwandtschaft mit Walter Benjamin, der die Trennung zwischen Kritiker und Literarhistoriker postuliert hat: »Der Kritiker hat mit dem Deuter von vergangenen Kunstepochen nichts zu tun.« Und: »Die Nachwelt vergißt oder rühmt. Nur der Kritiker richtet im Angesicht des Autors« (Benjamin 1972, S. 108). Auch Benjamins »Stratege im Literaturkampf« (ebd.) müsste Aktivisten vom Schlage eines Volker Weidermann im Lichte eines Plädoyers für das Populäre gefallen. So verstanden wird die Kritik zum Schreibakt, zur Einmischung in das gesellschaftliche Leben. Ihr Ort ist eben nicht der Elfenbeinturm der Theorie.

Die in der Debatte um Lichtjahre aufgestellte Behauptung, der Streit zwischen »Emphatikern« und »Gnostikern« stehe für einen Generationskonflikt, lässt sich leicht durch einen Hinweis auf Marcel Reich-Ranicki widerlegen. Er ist das erklärte Vorbild für Volker Weidermann in Sachen Leidenschaft – auch als Gegenpol zum üblicherweise abgewerteten »germanistischen Seminar« – und er hat umgekehrt, naturgemäß in den höchsten Tönen, dessen Unternehmen gelobt, genauso wie auch Elke Heidenreich, Reich-Ranickis legitime Nachfolgerin in der literarischen TV-Predigt (Hage 2006). Nach den Gesetzen der Fernsehästhetik muss der Wahrnehmungsvorsprung des Kritikers rasch wettgemacht sein. Was er sieht, soll den Zuschauern unmittelbar einleuchten: Sein Urteil muss augenfällig sein.

Auch das ist wohl typisch für den Stand der Diskussion: Marcel Reich-Ranicki wird als inzwischen mythische Instanz, die dem Publikum die Mühen des Verstehens abnimmt, indem sie es mit fertigen Urteilen versorgt (Schuh 2000, S. 66f.), von den »fortschrittlichen Kräften« im Literaturbetrieb schon seit längerem nicht mehr angegriffen, sondern akklamiert. Seinerzeit kam die Kritik an ihm sowohl von Seiten der Autoren, etwa von Franz Josef Czernin (1995), als auch von Seiten der Germanistik (vgl. Arntzen 1989).

4. Conclusio

Ist Literaturkritik heute, im Zeitalter der Internetforen und User-Rezensionen, als herrschaftsfreier Raum vorstellbar? Lässt man die skizzierten Typen und Rollenverständnisse von Kritikerinnen und Kritikern Revue passieren, erscheint die Frage ein wenig realitätsfremd.

Hier sei an einige Kriterien erinnert, die Jürgen Habermas (vgl. Habermas 1973) für die Ermöglichung eines »herrschaftsfreien Diskurses« aufgestellt hat:

Kein äußerer Zwang darf das Gespräch behindern.

Geltung hat das beste Argument.

Jeder hat die gleiche Chance zur Beteiligung am Gespräch.

Keiner hat Vorrechte aufgrund von Alter, Erfahrung, Autorität usw.

Jeder soll jederzeit mit jedem zum Rollentausch bereit sein.

Diskutiert wird so lange, bis ein Konsens erreicht ist.

Das ist also für das Feld der Literaturkritik wohl noch Zukunftsmusik. Und wahrscheinlich auch gar nicht erstrebenswert. Wenn aber der Literaturbetrieb und sein Diskurs nicht herrschaftsfrei sind, so stellt die Literatur selbst ja doch die Utopie eines herrschaftsfreien Raumes dar. Heines oder Kafkas Werk hat seine Kritiker ebenso überlebt wie das der Marie von Ebner-Eschenbach die seinen. Freilich: herrschaftsfrei bedeutet nicht kampflos. Adorno hat in Minima Moralia von einem Agon der Kunstwerke gesprochen, von denen jedes für sich immer die Idee des Schönen ungeteilt für sich beanspruche. Man könne bekanntlich Äpfel nicht mit Birnen vergleichen: »So viel ist wahr, vergleichen lassen sie sich nicht. Aber sie wollen einander vernichten« (Adorno 1951, S. 92).

(Ver)Führungen: Der Titel dieses Bandes hat einen Beigeschmack, den man je nachdem entweder als sexy oder als unsittlich empfinden kann. Das Verführen hat immer ein Moment des verdeckt gewaltsamen Überwindens von Widerstand. Ist es die Aufgabe der Kritik, zum Lesen guter Bücher zu verführen? Womöglich schwieriger, sperriger, leicht zu übersehender Bücher? Klaus Nüchtern hat gemeint, man müsse »nicht gleich in Depressionen verfallen, wenn die Leser den Argumentationsund Verführungskünsten der Kritiker die kalte Schulter zeigen« (Nüchtern 2007). Und dann gibt es eben auch Literatur, die schlicht nicht vermittelbar ist, vor der man nur warnen kann und soll. Die Literaturkritik ist historisch das Erbe der Aufklärung, im Idealfall geht es ihr um Erkenntnis, sie ist keine Lektürepartnervermittlung.

Wenn ich mir zum Schluss eine ketzerische persönliche Bemerkung erlauben darf: Ein gewisses Maß an Selbstgenügsamkeit, ja sogar Egoismus tut beim Kritisieren ganz gut. Letzten Endes ist die Kritikerin eine Leserin, allein mit dem Buch. Und der Impuls, es zu »vermitteln«, ist nicht der vordringlichste im Leseglück. Schon gar nicht im Leseunglück.

Anmerkungen

1 Wenn hier und anderswo die männliche Form bevorzugt wird, dann hat dies zum einen seinen Grund in der Tatsache, dass die Literaturkritik bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine nahezu ausschließlich männliche Angelegenheit war, grammatische Zweigeschlechtlichkeit die Geschichte also glatt verfälschen würde. Zum anderen liegt es am Eigensinn der Verfasserin, die sprachästhetischen Gesichtspunkten gegenüber sprachpolitischen den Vorzug gibt – und sich ungern Sprachregelungen unterwirft, mag das Diktat auch im Namen noch so ehrenwerter antiautoritärer Bestrebungen erfolgen.

2 Bei Löffler ist übrigens immer von dem Kritiker die Rede, auch wenn sie ausdrücklich sich selbst meint.

Literatur

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ARNTZEN, HELMUT (1989): Literaturkritik? Annotierte Zitate aus einem Buch von Marcel Reich-Ranicki. In: Horstmann, Ulrich; Zach Wolfgang (Hg.): Kunstgriffe. Auskünfte zur Reichweite von Literaturtheorie und Literaturkritik. Festschrift für Herbert Mainusch. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 27–33.

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