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Z serii: ide-extra #19
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4. Zusammenschau und Ausblick

Die vorgeschlagenen Herangehensweisen sind alters- und situationsbezogen unterschiedlich. Leseförderung und Literaturvermittlung sind nicht streng voneinander zu trennen, ja bedingen einander. Während die Beispiele frühkindlicher Leseförderung dem Ansatz des erlebenden Lernens verpflichtet sind und die haptische, körperliche Dimension des Bücherlesens betonen (Stichwort: »Lesen mit allen Sinnen!«), ist der Fokus beim vorgestellten Frauenprojekt auf die Schaffung geeigneter Räume gerichtet, die ein konzentriertes, hingebungsvolles Lesen erst ermöglichen. So anachronistisch dies klingen mag: Virginia Woolfs Forderung nach einem »room of one’s own« (Woolf 2001, 9–125) ist auch heute noch nicht obsolet geworden – im Gegenteil. Gemeinsam ist den Projekten der kommunikative Aspekt: sei es die Einbeziehung der Eltern in die Leseförderung, sei es der Austausch Erwachsener über Lesegewohnheiten und Lesebiografien. Das niedrigschwellige Angebot (kein Eintritt, kein Konsumzwang) macht etwa die Stadtbibliothek in Lehen für Kinder und Jugendliche auch zum Platz, wo sie aufgrund ihrer beengten Wohnverhältnisse Hausübungen machen können (vgl. Burgstaller 2011). Lernen und Lesen gehen hier ineinander über. Die strenge Trennung von öffentlich und privat wird hier ebenfalls aufgehoben (vgl. Schroer 2006). Das Vorleseprojekt für Väter wiederum versucht über männliche role models die Zuschreibung, dass Lesen »weiblich« sei, zu durchbrechen. Diese Imagekorrektur ist in Hinblick auf die Tatsache, dass bei den Buben bereits über ein Viertel zur so genannten »Leserisikogruppe«17 (vgl. PISA 2006) zählt, von großer Bedeutung (vgl. Schönbaß 2010, S. 66–82).

Die vorgestellten Beispiele aus der Praxis weisen aber auch auf Forschungsdesiderate der Literaturdidaktik hin. Sowohl die Lesesozialisation von Kleinkindern als auch das Leseverhalten der Altersgruppe 30+ sind bislang kaum beachtet worden. Auf Letzteres hat Sigrid Thielking mit ihrem Konzept der »Lebensspannendidaktik und Seneszenzforschung« (Thielking 2009, S. 27–31) zu Recht hingewiesen. Selbstverständlich sind alle diese Initiativen auf ihre Nachhaltigkeit hin zu überprüfen. Und selbstverständlich können sie nicht Leseförderung im familiären Umfeld und im schulischen Kontext ersetzen. Die Bibliotheken sind auch keine »Konkurrenten« zu anderen Bildungseinrichtungen, sondern »Bildungspartner« (Vodosek 2011, S. 212).18 Sie verfügen über den entscheidenden Vorteil, »freier« zu sein als andere Institutionen, indem sie »nicht-formale und informelle Lernumgebungen« anbieten können Vodosek 2011, S. 212). Dieser Vorteil kann und soll auch für die Vermittlung von Literatur genützt werden. Die Bibliotheken sollten daher nicht in erster Linie als Konkurrentinnen im Feld der literaturvermittelnden Institutionen wahrgenommen werden, sondern als strategische Partnerinnen. Denn Bibliotheken zählen zu den am stärksten frequentierten kulturellen Institutionen überhaupt, mit einem hohen Bevölkerungsanteil in allen Altersgruppen, unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlichem Bildungshintergrund.

5. Postskriptum

Dass der große Stellenwert der außerschulischen Leseförderung und der Beitrag der öffentlichen Bibliotheken zur Leseförderung und Literaturvermittlung auch innerhalb der Scientific community der Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik immer noch zu wenig Beachtung finden,19 hat auch mit den strukturellen Gegebenheiten in Österreich (und etwas anders gelagert in Deutschland) zu tun. Zwei Drittel aller Länder der Europäischen Union verfügen über Bibliotheksgesetze. Nur zehn Länder haben überhaupt keine eigenständige Bibliotheksgesetzgebung vorzuweisen. Dazu gehören Bulgarien, Frankreich, Deutschland, Irland, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Österreich, Portugal und Zypern. Widerstand gegen eine gesetzliche Regelung kommt häufig von Seiten der Kommunen, die neue finanzielle Verpflichtungen eingehen müssten und um ihr lokales Recht auf Selbstbestimmung fürchten. Selbstredend löst eine gesetzliche Verankerung nicht alle Probleme, dennoch spiegelt sich auch darin der politische Wille eines Staates, Bibliotheken zu fördern. Dies bedeutet, die Existenz der Bibliotheken im Rahmen der Informationsund Meinungsbildungsfreiheit durch eine staatliche Finanzierung zu sichern sowie deren Basisleistung für die BürgerInnen kostenfrei zur Verfügung zu stellen (vgl. Schleihagen 2009, S. 14–22).

In Österreich geschieht außerschulische Leseförderung überwiegend auf Basis ehrenamtlicher Arbeit. Die Initiative für die Errichtung einer Bibliothek geht oftmals nicht auf die sogenannten TrägerInnen, wie Gemeinden und Pfarren zurück, sondern auf engagierte BürgerInnen.20 Welche Rolle dabei die vor allem im englischsprachigen Raum etablierten »Buchgruppen« spielen, müsste für Österreich eingehender untersucht werden (vgl. Novak 2007). Schulbibliotheken können, so gut ausgestattet sie auch sein mögen, den Bildungsauftrag von öffentlichen Bibliotheken nicht übernehmen. Um diesen Zustand zu ändern, braucht es – um mit dem Schriftsteller Drago Jančar zu sprechen – einen »Aufstand der Leser/innen« (Jančar 2001), also der mündigen BürgerInnen.

Anmerkungen

1 Das Motiv der Bibliothek in der Literatur des 20. Jahrhunderts ist von Günther Stocker eingehend untersucht worden (vgl. Stocker 1997).

2 Von diesen Veränderungen sind alle Bibliotheksformen (öffentliche wie wissenschaftliche Bibliotheken) gleichermaßen betroffen.

3 Diesem Bauboom steht allerdings die Schließung vieler kleiner Bibliotheken gegenüber.

4 Die Bibliothek als Veranstaltungsort begibt sich damit auch in Konkurrenz zu anderen literaturvermittelnden Einrichtungen, z.B. Literaturhäusern.

5 Im Falle der Stadt:Bibliothek Salzburg in der Neuen Mitte Lehen ist das Konzept aufgegangen. Gegenüber dem letzten Volljahr 2007 am alten Standort im Schloss Mirabell konnten die Entlehnzahlen in Lehen um ein Drittel gesteigert werden. Im ersten Jahr (2009) gab es knapp 1.035.000 Entlehnungen. Im zweiten Jahr (2010) waren es sogar 1.100.000 Entlehnungen, eine Zahl, die 2011 nochmals leicht gesteigert werden konnte. Täglich sind zwischen 1.000 und 1.200 BesucherInnen im Haus. Eine Befragung, die von 19. bis 30. September 2011 durchgeführt wurde, zeigt eine hohe Kundenzufriedenheit. 54 Prozent der LeserInnen besuchen die Stadt:Bibliothek monatlich, 35,6 Prozent wöchentlich, 1,3 Prozent täglich. Fast drei Viertel der Volksschulkinder der Stadt Salzburg haben die Stadt:Bibliothek bereits besucht. Jugendliche ab der neunten Schulstufe kommen vor allem wegen Schule und Ausbildung in die Bibliothek (45,3 Prozent), gefolgt von Freizeit und Unterhaltung (32,4 Prozent). Bei den jüngeren SchülerInnen steht die Freizeitnutzung im Vordergrund (41,4 Prozent), noch mehr bei den Erwachsenen (71,3 Prozent). Die NutzerInnen der Bibliothek kommen aus der Stadt Salzburg und den Umlandgemeinden, aus Oberösterreich und dem südlichen Bayern. Die altersmäßig am stärksten vertretene Gruppe sind die 20 bis 35-Jährigen. Was die Art der Entlehnungen betrifft, so fällt in der Stadt:Bibliothek Salzburg – im Unterschied zu anderen vergleichbaren Bibliotheken – der hohe Anteil an Belletristik auf. – Herrn Direktor Helmut Windinger danke ich für zahlreiche Informationen.

6 Auch architektonisch wird auf mittelalterliche Kloster- und Kirchenbauten angespielt (z.B. Jacobund-Wilhelm-Grimm-Zentrum in Berlin, Hachioji Library der Tama Art University in Tokio), ja diese werden sogar in Bibliotheksbauten integriert wie z.B. bei der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden (vgl. Leiß 2011, S. 229).

7 Zu den wichtigsten Funktionen einer Bibliothek zählen das Sammeln, Erschließen und Vermitteln von Medien (vgl. Gantert 2008, S. 54).

8 www.bifie.at.

9 Vgl. zum Folgenden: Ulrike Tanzer u. Werner Wintersteiner: Editorial. In: ide 33 (2006), S. 5ff.

10 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman [1930/32]. Neuausgabe 1978. Reinbek: Rowohlt 1987, Bd. 1, S. 16.

11 Ein großer Teil der Projekte ist übrigens teils aus EU-Geldern, teils aus nationalen Förderquellen drittmittelfinanziert.

12 Anfänge: der Zauber des Beginns. Studientagung des Österreichischen Bibliothekswerks. 4./5.11.2011, Heffterhof, Salzburg.

13 Die Stadtbibliothek in Salzburg verlangt im Unterschied zu anderen öffentlichen Bibliotheken in Österreich keine Einschreibgebühr.

14 Vgl. www.stadt-salzburg.at/bibliothek.

15 Der Leiterin, Dr. Christina Repolust, sei an dieser Stelle herzlich für die Überlassung der Fotos gedankt.

16 Ergebnisse der empirischen Sozialforschung legen einen Zusammenhang von Bücherlesen und psychischem Wohlbefinden nahe (vgl. Muth 1996).

 

17 Das sind SchülerInnen, die nicht Sinn erfassend lesen können.

18 Dies wurde etwa in dem Strategiepapier für das Projekt Bibliothek 2007, initiiert nach dem PISASchock im Jahr 2000 und finanziert von der Bertelsmann-Stiftung, festgehalten (Bertelsmann-Stiftung 2004, S. 15).

19 Als Institutionen der Literaturvermittlung werden meist Literaturkritik, Buchhandel und Verlage, Archive, Literaturunterricht in Schulen und Einrichtungen wie Literatur- und Dichterhäuser angeführt (vgl. Neuhaus 2011).

20 Ein in mehrfacher Hinsicht interessantes Beispiel dokumentierte die Journalistin Barbara Denscher in ihrem Radiobeitrag Döner und lesen. Wie Familie Aksit zur größten deutschsprachigen Bibliothek der Türkei kam (Tonspuren v. 15.11.2010, ORF-Ö1).

Literatur

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Julia Danielczyk
Literatur im Schaufenster
Über die (Un)Möglichkeit, Literatur auszustellen

Was können und wollen Literaturausstellungen? Die Beantwortung dieser Frage hängt letztlich davon ab, wie die beiden Begriffe »Literatur« und »Ausstellung« definiert werden. Die höchst unterschiedlichen Stellungnahmen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Literaturausstellungen bringen sowohl widerstreitende Vorstellungen von Literatur zutage als auch divergierende Zielsetzungen in Bezug auf Ausstellungen. »Wir alle wissen«, so der Philologe und Archäologe Max Kunze, »dass Literatur im eigentlichen Sinne nicht ausstellbar ist« (Kunze 1989, S. 223). Ähnlich argumentiert Wolfgang Barthel, der die (Un)Ausstellbarkeit von Literatur theoretisch mit dem Diktum »Literatur und literarische Prozesse können in der literaturmusealen Ausstellung weder aus- noch dargestellt werden« (Barthel 1989, S. 11) begründete. Die Grundlage dieser Argumentation bringt vor allem eine Vorstellung von Literatur zutage, die sich nur über kontemplative, hermeneutische Interpretation erschließt. In diesem Sinn stellt auch Hans-Otto Hügel fest, Literatur lasse sich nicht ausstellen, »weil sie strenggenommen im materiellen Sinn nicht existiert« (Hügel 1991, S. 13). Literatur bedarf also der Lektüre, sie stellt als Phänomen eine »immaterielle Größe« (Barthel 1989, S. 11) dar, die sich nicht (vor-)zeigen lässt.

Literaturausstellungen arbeiten jedoch in gleicher Weise mit der Materialität literarischer Erscheinungsformen wie mit dem Anspruch, Literatur mit ihren narrativen Strängen und ästhetischen Formen zugänglich zu machen. Der Blick auf materielle Aspekte eröffnet historische, soziale, ökonomische und politische Dimensionen, die Literatur nicht nur sichtbar, sondern auch hörbar und greifbar machen. So werden dem Konzept »Ausstellung« weitere Ebenen der Wahrnehmung hinzugefügt, die über den Blick, das Sehen, hinausgehen.

In den folgenden Ausführungen stelle ich drei Herangehensweisen an Literaturausstellungen vor, die unterschiedliche Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Materialität und Immaterialität von Literatur aufzeigen, und zwar Literaturausstellungen im Sinn der Übersetzung, des Schaufensters und der Inszenierung. Um die Entwicklung und Bedeutung von Literaturausstellungen nachvollziehen zu können, wird den Fallbeispielen eine sozialgeschichtliche und politische Kontextualisierung vorangestellt.

1. Von der Buchausstellung zur Literaturausstellung

Ein Blick auf historische Prozesse rund um Literaturausstellungen führt zunächst zur Feststellung, dass diese Form noch verhältnismäßig jung ist: Im Gegensatz dazu war das Zur-Schau-Stellen von Büchern bzw. Buchrollen seit der römischen Antike Brauch, etwa weil sie als Zimelien oder Kultgegenstände galten oder weil sie in einer öffentlichen Saalbibliothek aufbewahrt wurden und die Bände dadurch ohnehin stets präsent waren (vgl. u.a. Poll 1994; Naumann 1994). Bücher und Bibliotheken als Orte ihrer Aufbewahrung lassen sich im Sinne der Begründung, Bewahrung und Gewährleistung von Tradition beschreiben, sei es im religiösen oder staatlichen Kontext. Eindrucksvolle Demonstrationen großer Bibliotheken bietet bis heute etwa das Stift Admont, wo an die 200.000 Bände in der Saalbibliothek aufgestellt sind; auch die Österreichische Nationalbibliothek demonstriert ihren Besitz mit den ca. 300.000 Büchern aus der Bibliothek von Prinz Eugen, die im Prunksaal zu sehen sind.

Das Format »Literaturausstellung« existiert hingegen erst seit dem 19. Jahrhundert. Bibliotheken nahmen sowohl durch die Säkularisierung als auch Ökonomisierung von Kirche und Staat einen neuen gesellschaftlichen Stellenwert ein, und das »Kulturgut Buch« (und in der Folge auch literarische Dokumente, wie Briefe und Werkmanuskripte) stieg zum Repräsentationsmerkmal einer bürgerlichen, metropolitanen Kultur auf, über das nicht zuletzt nationale Identitäten verhandelt wurden.1 Räumlicher Ausdruck der damit einhergehenden Öffnung von Bibliotheken ist die Trennung in die Bereiche Magazin, Verwaltung und Öffentlichkeit (Lesesäle und Schauräume). Damit entzogen sich die Bücher dem öffentlichen Blick und wurden in – für BesucherInnen nicht zugängliche – Magazinspeicher ausgelagert, wo sie allerdings (zumeist) bessere klimatische Bedingungen vorfanden. Genau zu dem Zeitpunkt, da sich Bibliotheken einem immer weiteren Publikum öffneten, verschlossen sie ihre Bestände. Damit fand einerseits jene selbstverständliche Art des Zur-Schau-Stellens bzw. des einfachen Zugriffes auf Literatur ein Ende. Andererseits erfuhren literarische Nachlässe und Archive, vor allem im Zusammenhang mit der sich neu etablierenden Fachdisziplin der Germanistik, eine wesentliche Neubewertung, die zur Folge hatte, dass Literatur als nationales Identitätsmerkmal unter den unterschiedlichsten Blickwinkeln und Fragestellungen diskutiert wurde. Die Etablierung eigenständiger Literaturarchive und -museen (heute existieren ca. 250 Literaturmuseen im deutschsprachigen Raum) zeigt jedenfalls deutlich die Bestrebungen im 19. Jahrhundert, ein neues nationales Selbstverständnis zu schaffen. Vor allem ab der Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 gewannen literarische Archive und Museen unter identitätsstiftender Perspektive neue Bedeutung, da das Nationale nicht nur über geografische, sprachliche und politische, sondern auch kulturelle Werte definiert werden sollte.2

 

Als erste deklariert literarische Ausstellung gelten die Unternehmungen der Hofund Staatsbibliothek München aus dem Jahr 1843. Zehn Jahre später wurde Gotthold Ephraim Lessing eine Ausstellung gewidmet, die den Zusammenhang zur historisch-kritischen Lessing-Ausgabe (aus den Jahren 1838–40) unterstreicht.3 Als zentrale Orte für diese Forschungs- und Editionsarbeiten gewannen Bibliotheken neue Bedeutung, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch als Sammelstätten für Nachlässe und sogenannte literarische Archive dienten. 4

Innerhalb der Nationalismus-Frage im 19. Jahrhundert gewannen nun Zusammenstellung, Arrangement und Auswahl von Texten/AutorInnen-Biografien neue kulturpolitische Bedeutung. Auch die Internationale Ausstellung für Musik und Theaterwesen im Jahr 1892 in Wien zeigt die kulturell-nationalen Hierarchisierungen an: Zum einen galt es, die Vormachtstellung der deutschsprachigen Nationalität innerhalb der Monarchie zu behaupten, zum zweiten die führende Rolle des Habsburgerstaates im europäischen Kontext herauszustreichen, um drittens Europas Dominanz gegenüber der nicht-europäischen Welt zu erklären. Der deutschsprachigen Literatur kam damit im eigens erbauten Ausstellungsgebäude eine bedeutende Rolle zu. Gezeigt wurden literarische Texte, (gezielt eingeworbene) Dramen-Manuskripte, Figurinen, Briefe und Bilder, die das Bild der Kulturstadt verfestigen sollten, das Wien für sich in Anspruch nahm. Allein architektonisch zeigt sich hier eine frühe Verbindung zwischen Ausstellung und Inszenierung: Neben der eigens errichteten monumentalen Ausstellungshalle reichte die Spannbreite zwischen historischen Alt-Wien-Rekonstruktionen über ein chinesisches Schattentheater, ein »Théâtre tîntamaresque« (Zwergtheater), ein Ausstellungstheater, einen Musikpavillon für Freilichtkonzerte bis hin zu einem Phonographen von Edison und einem Panorama. Ausstellungen und Inszenierungen folgten ähnlichen Prinzipien und verbanden sich zu einer lebendigen Leistungsschau von Literatur und Theater.

Parallel dazu bedingte die rasante Entwicklung von historisch-kritischen Editionsunternehmungen auch die Einrichtung von Literaturarchiven und -museen (vgl. Danielczyk 2008, S. 102ff.). Im Sinne einer nationalen Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung suchte man also geeignete Orte, die »Objekte« – welche als »Nationalliteratur« definiert wurden oder sich als Literatur des Genius loci anboten und damit »auf die Nation selbst zu wirken anfangen« (Telesko 2006, S. 314) – für ein kulturelles Gedächtnis Österreichs beherbergen und auch zeigen sollten.5 Häufig sind Literaturarchive und -museen im Geburts-, Wohn- und/oder Sterbehaus einer bekannten Schriftstellerin bzw. eines bekannten Schriftstellers beheimatet.6 Dichterhäuser geben der Literatur eine »Gestalt, einen Körper« (Wißkirchen 2009, S. 100f.) und machen sie für die LeserInnen zum Ort der Begegnung, manchmal zur ersten Kontaktstelle mit Literatur. Sie sind in diesem Sinne optimal geeignet, quasi am »Tatort«, am Originalschauplatz, über die Entstehungsbedingungen von Literatur bzw. über die Lebensumstände der Autorin oder des Autors Auskunft zu geben. Zumeist bieten Gedenkstätten dauernde Ausstellungen mit Briefen, Manuskripten und persönlichen Gegenständen der NamenspatronInnen, stellen häufig das Arbeitszimmer nach, zeigen Schreibtisch, Schreibwerkzeug und persönliche Gegenstände des/r Dichters/in und bilden so das Umfeld nach, sind also aufgrund der räumlichen Situation weniger auf sogenannte »Flachware«7 angewiesen.

Bei Gedenkausstellungen liegt es aber zumeist in der subjektiven Fähigkeit der einzelnen BesucherInnen, diese Konzepte aufzugreifen. Bis heute sind solche Präsentationen vor allem für SpezialistInnen gewinnbringend. Für BesucherInnen hingegen, die mit dem Thema nicht besonders vertraut sind bzw. eine Annäherung an das literarische Werk erhoffen, erschließen sich solche Ausstellungen meist nicht im erwünschten Ausmaß. Außerdem handelt es sich zumeist um eher konventionelle Ausstellungen, bei denen Fragen zur Biografie, zur regionalen Verortung von Literatur bzw. zu den (damaligen) äußeren Umständen dominieren. Dabei werden dann oft Originalgegenstände gezeigt, um eine Vorstellung über die Zeit oder eine bestimmte Lebensart zu liefern. So zeigt etwa das Kleist-Museum in Frankfurt an der Oder Pistolen, die der Dichter verwendet haben könnte, um sich selbst und Henriette Vogel zu töten. Die Waffen aus der Zeit unterstützen somit eindrucksvoll die Vorstellungen über den dramatischen Tod der beiden. Über Literatur bzw. literarische Zusammenhänge machen solche Ausstellungen allerdings nur marginal Aussagen. Sie erschließen höchstens einen Weg »ins Grenzland der Literatur« (Gfrereis 2007, S. 81).