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Ist diese Art der Textproduktion eurer Beobachtung nach angekommen bei den Theatermacher*innen und Zuschauer*innen?

»Ich habe das Gefühl, dass das in vielen Fällen eine Generationenfrage ist. Wenn ich mich mit jüngeren Theatermacher*innen unterhalte, ist es gar keine Frage, ob man das eine über das andere priorisiert. Viele Wege führen nach Rom: Da kann man den klassischen Textweg oder den kollektiven Weg gehen. Es gibt immer noch Leute, die demgegenüber eine Grundskepsis und ein sehr traditionelles Theaterverständnis haben. Das wird sich auch nicht rapide ändern, aber gerade für jüngere Theatermacher*innen und die Freie Szene ist das doch toll, dass so eine Leuchtturminstitution wie das Theatertreffen mehr Platz schafft und Staatstheater und Freie Szene nicht konsequent auseinanderhält.«

Habt ihr eine Definition für die Texte und Projekte, die bei euch eingereicht werden können?

»Bis zu einem gewissen Grad ist das sehr offen. Da wir aber Kollektive oder Theatermacher*innen und nicht Regisseur*innen fördern wollen, schauen wir an dieser Stelle etwas genauer hin. Wenn sich jemand mit einem Projekt bewirbt, aber eigentlich Person x den Text geschrieben hat und gar nicht unbedingt in diesem Projekt involviert ist, würde das rausfallen, dann würden wir Regieförderung betreiben.«

Wie findet die Auswahl statt, wie geht ihr vor bei einer so großen Offenheit?

»Wir haben eine sehr diverse Jury, die sowohl mit ›klassischen‹ Autor*innen aber auch Künstler*innen aus dem Performancebereich besetzt ist. Die Jury berufe ich in Absprache mit meinen Kolleg*innen. Es geht uns darum, dass verschiedene Disziplinen vertreten sind und dass sich die weltweite Öffnung in der Jury spiegelt. Verschiedene Blickachsen und Disziplinen sollen für eine möglichst diverse Diskussion sorgen.«

Ihr habt nach der Öffnung für Projekte viel Kritik erhalten –

»Ein häufiger Kritikpunkt ist die Vergleichbarkeit: Man könne ja nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Ich sage aber: Warum sollte man das eine über das andere priorisieren? Wir suchen ja nicht das perfekte Stück oder die perfekte Performance, sondern wollen spannende Künstler*innen entdecken, die das Potential zeigen, auch langfristig interessante Arbeiten zu kreieren. Und da diese Potentiale und Künstler*innen sinnvoll gefördert werden sollen – wir vergeben einen Werkauftrag – stellt sich für mich die Frage gar nicht so, wie man das eine mit dem anderen vergleichen kann.«

Spiegelt sich eine Veränderung in der Textproduktion in den Einsendungen, die euch erreichen?

»Vor der weltweiten Öffnung wurden tatsächlich mehr Texte und deutlich weniger Projekte eingereicht, das hat sich jetzt geändert: 2017 waren es z. B. 201 Texte und 85 Projekte, die uns erreicht haben. 2018 waren es 181 Texte und 82 Projekte. Das hat sich durch die weltweiten Einreichungen erstmals gewandelt, jetzt überwiegen die Projekte: 2019 gab es 168 Texte und 193 Projekte, für 2020 wurden 178 Texte und 183 Projekte eingereicht. Neben Deutschland ist der angelsächsische Raum noch relativ stark vertreten mit dem ›klassischen‹ Textprozess, aber sonst ist der prozessuale Vorgang in vielen Theaterkulturen eher der vorrangige, das hat man an den Einsendungen gemerkt.«

Bernd Isele, Dramaturg und Leiter der Autorentheatertage, Deutsches Theater Berlin

Bernd Isele, der als Dramaturg u. a. schon am Luzerner Theater und am Schauspiel Stuttgart arbeitete, ist seit 2018/19 Leiter der Autorentheatertage am Deutschen Theater in Berlin, über die wir uns in der Kantine des DT unterhalten.

Wie laufen die Autorentheatertage ab? Gibt es einen Begriff von Autor*innenschaft, der eurer Auswahl zu Grunde liegt?

»Die Autorentheatertage teilen sich in verschiedene Segmente. Das erste ist der Wettbewerb, wo jede*r Stücke einreichen kann. Dabei handelt es sich in aller Regel um einen zu Papier gebrachten Text. Wie dieser Text aussieht, wie er entstanden ist und wie viele Autor*innen er hat, ist für uns erst mal egal, d. h. es gibt da keine Kriterien, die irgendwas verbieten oder präferieren. Es ist auch so, dass sich dieser Wettbewerb nicht nur an etablierte Autor*innen/Theatermacher*innen richtet. Aus den Einsendungen ergeben sich dann drei Uraufführungen.«

Wie trefft ihr die Auswahl?

»Die Auswahl der Uraufführungen liegt in der Hand einer Jury. Natürlich gibt es so etwas wie eine objektive Auswahl nicht, niemand ist in der Lage, die drei ›besten Stücke‹ auszuwählen. Das ist immer subjektiv und mit der Auswahl der Jury definiert man eine Auswahl mit. Dieses Jahr (2020) ist die Dramatikerin Dea Loher Chefjurorin und Schauspielerin Nina Hoss und Dramaturg und Übersetzer David Tushingham sind Co-Juror*innen. Die drei Partnertheater, die das dann produzieren, haben kein Mitspracherecht, d. h. denen fällt dann irgendwas auf den Tisch, und das ist dann die Aufgabe, die man lösen muss. Das kann eben auch ein Text sein, den sie nicht erwartet haben. Manchmal ist es schön, die Dinge aufeinanderprallen zu lassen und zu schauen, was sich entzündet. Das setzt andere Energien frei, bei der letzten Festivalausgabe hat das prima funktioniert.

Dea Loher hat es interessanterweise dieses Jahr so gemacht, dass sie die 170 Einsendungen gelesen und davon 30 ausgewählt hat, die an die Mitjuror*innen gingen. Sie hat dabei versucht, alle Aspekte, die im Pool waren, abzubilden. Da waren also Stücke dabei, die vor allen Dingen sehr unterschiedlich waren. Auf der Long- und Shortlist waren auch Stücke, die sich von der klassischen Autor*innenschaft ziemlich weit entfernen, in der Endauswahl ist dieses Jahr z. B. ein Stück von Rosa von Praunheim (Hitlers Ziege und die Hämorrhoiden des Königs), das im Grunde eher ein Vorschlag für eine politische Performance ist.«

Ihr ladet auch Gastspiele ein –

»Ja, das zweite Segment sind die Gastspieleinladungen, die wir aussprechen können, das sind im deutschsprachigen Raum jedes Jahr ungefähr zehn. Da ist es auch ein Anliegen, verschiedene Arten von Autor*innenschaften zu präsentieren, weil wir davon ausgehen, dass Autor*innenschaft erst mal nicht nur bedeuten kann, dass ein Mensch einen Text schreibt, den abgibt und acht Wochen später sieht, was ein anderer Mensch daraus gemacht hat. Das ist eine Form von Autor*innenschaft, die ich zwar auch weiterhin für möglich halte, aber die für uns überhaupt nicht die einzig relevante ist. Wenn ich mir Stücke für das Festival anschaue, spielt es für mich keine Rolle, wo der Text herkommt. Ich suche mit großem Fokus auf genuinen Theatertext, aber nicht auf eine bestimmte Autor*innenschaft.

Das dritte Segment der Autorentheatertage ist dann das Rahmenprogramm, vor allem die Autor*innensalons. Im letzten Jahr waren 14 Autor*innen zu Gast, mit denen wir uns über die Frage unterhalten haben: Was ist dieses Autor*innentheater eigentlich? Das Festival heißt ja auch so, weil das damals noch klarer war, heute ist dieses Feld in Bewegung. Die Autorentheatertage möchten diese Bewegungen mitbegleiten. Und wenn man mit diesen 14 Leuten über die gleichlautende Frage spricht, was eigentlich Autor*innenschaft bedeutet, ist das natürlich sehr interessant. Ich habe z. B. eine Stunde mit Boris Nikitin gesprochen, der das für sich vollständig anders definiert als Moritz Rinke oder Rebekka Kricheldorf. Ich fand das toll, mich mit denen hinzusetzen und zu diskutieren. Es gibt eine Menge Festivals, die Theaterhäuser oder junge Regie einladen. Ich finde den fast schon altmodischen Impuls zu sagen, dass das hier das Festival der Autor*innen ist und es in erster Linie um die geht, wirklich gut. Weil ich sonst gar nicht das Gefühl habe, dass sie im Mittelpunkt stehen oder eine Lobby haben. Es ist ja immer die Frage, wo hängt es gerade durch? Ich finde, dass es auf Autor*innenseite durchhängt, die haben eine schlechte Position in dieser Theaterverwertungskette, und man hört ihnen nicht immer gut genug zu.«

Was genau hängt denn gerade durch?

»Ich denke über das Festival hinaus als Dramaturg viel über Autor*innentheater nach. Eine Sache, die mich interessiert und die man in den Theatern besser pflegen muss, ist die Frage danach, wie früh man Menschen im Prozess zusammenbringen kann. Auch viele Verlage und Agenturen denken darüber nach, z. B. haben Sabine Westermaier und Dorothea Lautenschläger mit der rua. Kooperative für Text und Regie genau den Versuch gemacht: Dinge früh in den Austausch bringen, früh Pakete schnüren, die Vorstufe der Dramaturgie auf Agenturebene. Das ist eine Sache, über die es sich nachzudenken lohnt.8«

Pina Bergemann, Schauspielerin, Theaterhaus Jena

Pina Bergemann (*1987) habe ich in meinem ersten Studienprojekt an der Hamburger Theaterakademie kennengelernt. Nach dem Studium ging sie als Schauspielerin an das Theater Kiel, dann ans Schauspiel Leipzig und ist nun Ensemblemitglied am Theaterhaus Jena, das seit der Spielzeit 2018/19 vom niederländischen Kollektiv Wunderbaum geleitet wird. Im Theatercafé sprechen wir über ihre Erfahrungen mit der Arbeitsweise von Wunderbaum.

Kannst du eure Arbeitsweise an einem Beispiel erläutern?

»Das erste Stück, was ich hier mitgemacht habe, war der Thüringen Megamix, den haben wir ohne Regie geprobt.9 Wir haben uns mit dem Draufschauen abgewechselt, jede*r war mal draußen. Wunderbaum ist seit 18 Jahren ein Kollektiv, die haben viel Erfahrung damit. Es funktioniert sehr unhierarchisch, man kann alles sagen und Einfluss nehmen, die haben das Motto: Die beste Idee setzt sich durch. Es gab zu Beginn nur den Titel Thüringen Megamix. Das war unser Einstand hier. Die Arbeitsweise von Wunderbaum ist, dass wir gemeinsam Acts machen. Man stellt sich Aufgaben, die man vorbereitet. Man schläft eine Nacht drüber und schreibt Texte. Ich war am Anfang sehr gestresst davon. Eine Sorge war, dass wir alle aus dem Westen kamen, wir wohnten seit zwei Monaten hier, wie sollten wir jetzt über Thüringen reden? Wir haben dann Acts produziert und im Anschluss darüber gesprochen, gesammelt, gebastelt und dann kamen immer wieder Leute von außen und haben Feedback gegeben: Was funktioniert, was nicht, was könnte eine Form sein? Die Texte sind alle selbst geschrieben oder improvisiert.«

 

Es gibt also keine Textinstanz, die alles zusammenbastelt?

»Nein, wir haben meistens ein open word Dokument, da machen wir alles selbst. Ich habe aber auch gemerkt, dass eine andere Verantwortung entsteht. Da kommt nicht irgendwann jemand und bringt alles in Ordnung. Wenn ich das nicht selber mache, dann passiert auch nichts.«

Es gibt bei jedem Projekt ein Ausgangsthema, wie wird das festgelegt?

»Da habe ich mich sehr eingesetzt, dass wir eine gemeinsame Themenfindung machen. Denn sobald mich das Thema nicht interessiert und ich keinen Zugang dazu finde, ist es schwierig. Wenn man das weiterdenkt, müssten wir alle von Anfang an hinter dem Thema stehen. Wir haben jetzt angefangen, uns immer wieder zu treffen, um uns für die nächste Spielzeit Themen auszudenken. So können wir besser in den Prozess reingehen; ansonsten versucht man, sich das Thema anzueignen, was produktiv sein, aber auch schiefgehen kann.«

Es ist wahrscheinlich von Vorteil, dass Wunderbaum als Niederländer*innen nicht so im deutschen Theatersystem verhaftet sind –

»Für sie gibt es diese Auseinandersetzung mit dem Kanon nicht, das ist denen herzlich egal und sie verstehen das auch gar nicht. Warum spielt man immer nur alte Stücke? Warum macht man nichts Neues? Sie verstehen sich eben als Theatermacher*innen, die Grenzen der jeweiligen Arbeitsfelder sind viel fließender. Ich finde das sehr anders und radikal und habe das Gefühl, das funktioniert schon deswegen einfacher, weil sie das deutsche Stadttheater nicht kennen. Das ist alles nicht in ihren Köpfen verhaftet. Ich habe hier auch erst gemerkt, wie eng ich in vielen Fragen denke.«

Das Theaterhaus Jena ist ein kleines Theater, aber es gibt Werkstätten usw. Auch wenn man hier Experimente gewöhnt ist, liegen da Verständigungsschwierigkeiten in der Arbeitsweise?

»Zum einen ist das Spontane der Arbeitsweise von Wunderbaum sicher eine Herausforderung für die Gewerke. Zum anderen wirft diese Art zu produzieren auch Zuständigkeitsfragen auf. Wunderbaum sind daran gewöhnt, alles selbst zu machen, z. B. die Requisite und Kostüme einzurichten. Und im deutschen System ist man an eine klare Aufgabenteilung gewöhnt. Das ist nicht immer leicht, diese Denkweisen zusammenzubringen. Oder wer mit den Gewerken kommuniziert, ist auch oft eine Frage. Bei einer Inszenierung hatten wir ganz verschiedene Acts und Szenen, da sind wir selbst oft die Spezialist*innen für eine Szene, d. h. man arbeitet selbst noch weiter dran und ist der/die beste Ansprechpartner*in für den Musikeinsatz usw. Die Gewerke sind dagegen eine klare Kommunikationskette über Regie und Assistenz gewöhnt. Das verändert sich eben auch mit dem Wegfallen von Hierarchie. Solche Vorgänge und Kommunikationswege werden unübersichtlicher.«

Würdest du dich als (Mit-)Autorin der Abende bezeichnen?

»Ja, aber ich begreife das gar nicht so richtig als fertige Texte. Die endgültige Fassung ist auf meinem Computer und ich kann damit machen, was ich will. Wir schreiben immer ›von und mit‹ und es gibt manchmal die Kategorie ›Endregie‹, also jemand, der die letzten zwei Wochen von außen draufguckt.«

Sind bei euren Abenden denn Umbesetzungen möglich?

»Das Thema habe ich gerade wegen meiner anstehenden Elternzeit, außerdem ist ein Kollege an ein anderes Theater gewechselt, sodass wir jetzt zwei Positionen im Stück Nackt umbesetzen müssen. Wir konnten uns das zunächst gar nicht vorstellen, das war ein sehr intimer Prozess, in dem wir auch die Texte selbst geschrieben haben. Aber es war toll, dass wir gefragt wurden. Zwar schon mit der Bitte, dass wir es ermöglichen, aber wenn wir das nicht gewollt hätten, wäre es nicht weitergespielt worden. Dadurch, dass man in die Verantwortung kommt, das zu entscheiden, merkt man: Die Alternative ist, dass wir es gar nicht mehr spielen. Wie geht man damit um, mit diesen sehr persönlichen Texten oder Momenten, wie gibt man die weiter? Das ist das Großartige, aber eben auch eine Verantwortung; ich kann nicht mehr sagen, dass ich die Umbesetzung oder den Spielplan blöd finde, sondern ich muss selbst mit etwas kommen. Mich lockt das aus meiner Komfortzone. Ich muss wirklich Verantwortung übernehmen. Das ist doch seltsam, dass das bei uns in den Köpfen sonst nicht stattfindet, dass man auch als Spieler*in Verantwortung übernehmen und gemeinsam Theater machen kann.«

1Wallenstein – Eine dokumentarische Inszenierung, von: Rimini Protokoll, Leitung: Helgard Haug/Daniel Wetzel, Premiere: 5. Juni 2005, 13. Internationale Schillertage, Probenzentrum Neckerau, Mannheim.

2Dreileben – Ein Projekt übers Sterben, Regie: Gernot Grünewald, Theaterakademie Hamburg 2011.

3Lesbos – Blackbox Europa. Ein Projekt von Gernot Grünewald und Ensemble, Regie: Gernot Grünewald, Premiere: 26. Januar 2017, Deutsches Theater Berlin (Box), Berlin.

4Hereroland. Eine deutsch-namibische Geschichte, Regie: David Ndjavera/Gernot Grünewald, Premiere: 19. Januar 2020, Thalia in der Gaußstraße, Hamburg.

5Salome, nach Oscar Wilde, Autor*in: Thomaspeter Goergen/Orit Nahmias, Regie: Ersan Mondtag, Premiere: 1. Dezember 2018, Maxim Gorki Theater, Berlin.

6Third Generation – Next Generation, Autor*in: Yael Ronen und Ensemble, Premiere: 9. März 2019, Maxim Gorki Theater, Berlin.

7Situation Rooms. Ein Multi Player Video-Stück, von Rimini Protokoll, Leitung: Helgard Haug/Stefan Kaegi/Daniel Wetzel, Premiere: Ruhrtriennale 2013.

rua. Kooperative für Text und Regie steht für eine inhaltliche und sich beständig neu definierende Theaterarbeit, welche immer im Diskurs und Austausch über Themen und Ästhetik ist. Text und Inszenierung werden als sich gegenseitig inspirierende Theaterpraktiken gesehen. Neben der klassischen Verlags- und Agenturarbeit wird die vernetzte Zusammenarbeit von Autor*innen und Regisseur*innen gestärkt und praktiziert.« Vgl: https://ruakooperative.de/wir. [abgerufen am 25. Juni 2020].

9Thüringen Megamix, von: Wunderbaum, Premiere: 13. Dezember 2018, Theaterhaus Jena, Jena.

Stefan Tigges

Stückentwicklungen
Szenische Diskurspotentiale und dramaturgische Transformationen

Stückentwicklungen, so mein Ausgangspunkt, rücken sowohl in der künstlerischen Ausbildungspraxis, d. h. in Schauspiel-, Regie- und Dramaturgiestudiengängen, als auch in der Aufführungspraxis seit einigen Jahren verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit. So stellen Stückentwicklungen im Schauspiel gegenwärtig längst keine ästhetische Randerscheinung mehr dar, sondern gehören selbstverständlich zu dessen Repertoire. Noch selbstverständlicher als in Stadttheatern treten Stückentwicklungen in der Freien Szene auf, da diese ästhetisch noch experimentierfreudiger operiert, was sich ebenso in der Vielfalt der Formen von Stückentwicklungen abbildet, die wiederrum unmittelbar mit den spezifischen Produktionsweisen zusammenwirken beziehungsweise aus diesen resultieren.

Einen Sonderfall bilden das Kinder- und Jugendtheater sowie an Theatern angegliederte, zumeist pädagogisch ausgerichtete Jugendklubs oder Bürgerbühnen, in denen Stückentwicklungen aufgrund der stark partizipativ ausgerichteten Spielästhetiken und des emanzipatorischen Selbstverständnisses spätestens seit Ende der sechziger Jahre eher die Regel als eine Ausnahme darstellen.1 Gleiches gilt – wenn auch unter ganz anderen ästhetischen Rahmenbedingungen und Spielregeln – spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert für den Tanz, den Jazz sowie kurz danach für die sich begründende Performancepraxis, da kollektive Stückentwicklungen in diesen Kunstformen de facto die künstlerische DNA bilden.

Die zunehmende Bedeutung von Stückentwicklungen zeigte sich ebenso beim Mülheimer Dramatikerpreis, der 2007 an Rimini Protokoll für Karl Marx. Das Kapital. Erster Band ging. Oder beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens, der 2014 nach 35-jähriger Tradition als Plattform junger Dramatik radikal neu ausgerichtet, d. h. für theatrale Formen verschiedenster Art wie Projekte, Performances und damit auch für Stückentwicklungen geöffnet wurde. Entsprechend werden hier die Begriffe Drama/Text sowie Autorschaft neu definiert, indem diese zugunsten von neuen Narrativen aus ihrer zentralperspektivischen, d. h. ihrer fixen Autor-Subjekt verhafteten Verankerung gerissen, kollektiviert und in deren Prozessualität betont werden.2

Exemplarisch für diese Entwicklung ist u. a. die Position des Autors/Regisseurs Falk Richter:

Seit Beginn meiner Arbeit als Dramatiker beschäftigt mich die Frage, wie ich den Textbegriff, den Autorbegriff erweitern kann, welche Möglichkeiten es gibt, die Definition davon beziehungsweise das Verständnis dafür, was ein Text, was ein Stück, was Autor*innen für das Theater sein können, weiter zu fassen und immer wieder mit jeder Arbeit neu zu definieren.3

Das Startmoment für Richters Stückentwicklungen bilden von ihm geschriebene Texte, mit denen er zu Probenbeginn die Schauspieler*innen/Performer*innen oder/und Tänzer*innen konfrontiert, um seine Spielvorlagen im nächsten Schritt kollektiv über- oder weiterzuschreiben und gegebenenfalls neu zusammenzusetzen. Richter präzisiert:

In den letzten Jahren schreibe ich vor allem Materialsammlungen, die ich dann als Ausgangspunkt für meine Inszenierungen nehme. […] In meinen Materialsammlungen versuche ich, mich mit einer Vielzahl von unterschiedlichen dramatischen Schreibweisen einem Thema anzunähern. Ich kann es von unterschiedlichen Perspektiven und mit immer wieder anderen Analysewerkzeugen und mit wechselnden Qualitäten von Sprache und in einem immer anderen Genre untersuchen. Das Thema, das Anliegen, das Stück, der Text befreien sich aus der einen, festen dramatischen Struktur. Es gibt Ansätze von Figuren, Handlung und Geschichten. Vor allem aber geht es um ein Absuchen des Wirklichkeitsraumes: Wie verhält sich das Individuum heute zur Gesellschaft? Wer bestimmt die Diskurse?4

Richter, der seine Stücke in der Regel als Autor ästhetisch präfiguriert, diese am Ende (noch) mit seinem Namen zeichnet und publiziert, weswegen diese prinzipiell auch nachspielbar sind – beansprucht damit eine stärkere individuelle Autoridentität als Künstler(-kollektive), die ihre Stückentwicklungen mit gemeinsamen Recherchen beziehungsweise einer Art Feldforschung einleiten, um daraus (Text-)Material zu generieren und dieses szenisch weiterzuentwickeln. Damit kristallisieren sich zwei Grundtypen von Stückentwicklungen heraus, deren Differenz mit dem jeweiligen Startmoment zusammenhängt: Stückentwicklungen mit einem konkreten Textangebot oder einer Materialsammlung, d. h. einer mehr oder weniger brüchigen, bewusst unfertigen/offenen Spielvorlage. Und Stückentwicklungen, die lediglich durch eine Themensetzung und gegebenenfalls im Vorfeld bestimmte Methodik, wie z. B. eine spezifische Recherchestrategie oder formbewusste Dokumentartechnik, grundabgesichert sind, d. h. programmatisch von einem stärkeren ästhetischen Nullpunkt/Nullstand starten und eine möglichst prägnante kollektive Autorschaft mit einem oftmals signifikanten autobiographischen/autofiktionalen Grad anstreben, die sich szenisch fortschreibt/fortsetzt. Dabei können ebenso eigene wie fremde Texte ins Spiel kommen, wobei, so meine Wahrnehmung, der Anteil von eigenen Texten zunehmend steigt.

 

Jedoch wird der ästhetisch zu Recht sehr breit gefasste Begriff, von dem ein verstärktes Authentizitäts- und Aktualitätsversprechen des Theaters auszugehen scheint und dem ein Spannungsverhältnis von Theater und Literatur innewohnt, selbst wenn die (dramatische) Literatur eine untergeordnete oder keine Rolle mehr spielt, zu beliebig und undifferenziert verwendet.