Theologie im Umbruch

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3. Der Landesstreik 1918

Es waren diese Spannungen, die sich schliesslich im Landestreik entluden.129 Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg hatten auch Sozialdemokraten zusammen mit den bürgerlichen Parteien im sogennanten Burgfrieden die militärischen Massnahmen zur Verteidigung der Schweiz gutgeheissen und für die Dauer des Krieges auf politische und gewerkschaftliche Kampfmassnahmen verzichtet. Barth hatte schon zu Beginn des Krieges in seinen Vorträgen130 das «Versagen»131 von Christen und Sozialisten angeprangert, weil sie den Krieg nicht verhindert hatten. Dass nun das Nationale, also ein «nationaler Sozialismus» und ein «nationales Christentum»132 im Vordergrund stünden, habe Christentum wie Sozialismus pervertiert.

Es gelang der Schweiz, sich aus den Kriegshandlungen herauszuhalten. Das rohstoffarme, hochindustrialisierte Land war allerdings wirtschaftlich durch den Krieg stark betroffen. Bei Ausbruch des Krieges hatte der Bundesrat die Generalmobilmachung der Armee beschlossen und damit die ökonomische Situation der Arbeiterbevölkerung verschlechtert. Durch Verhandlungen mit beiden kriegführenden Parteien hatte man nur eine minimale Versorgung mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln sicherzustellen versucht. Trotzdem wurde keine Lebensmittelrationierung beschlossen. Eine Lohnausfallentschädigung während des Militärdienstes gab es nicht. Lohnkürzungen, unentschädigte Überstunden, Sonntags- und Nachtarbeit waren die Folge der Aussetzung des Fabrikgesetzes.

Der Graben zwischen Deutschschweiz und Westschweiz verstärkte sich, weil man in der Westschweiz die Deutschfreundlichkeit der Deutschschweizer fürchtete. Barth weist an anderer Stelle verschiedentlich auf diese Gefahr hin, betont die Wichtigkeit der Neutralität auch für den inneren Zusammenhalt der Schweiz.133 |60|

Der Militärdienst – das Warten an der Grenze, aber auch der Drill der Offiziere, die deutsches Militär zum Vorbild genommen hatten, als Schikanen wahrgenommen – drückte auf die Moral, der Ersatz der Männer durch Frauen in der Industrie ging nochmals zulasten der Familien. 1917 wurde der Burgfrieden von den Sozialdemokraten faktisch aufgekündigt. Die sozialen Probleme stärkten die Gewerkschaften und die sozialdemokratischen Parteien, deren Mitgliederzahlen stiegen. Seit November 1917 entluden sich die Spannungen in Form von gewaltsamen Unruhen, Streiks und Demonstrationen.

Der Landesstreik vom November 1918 gilt als Höhepunkt der politischen Konfrontation zwischen dem «Bürgerblock», den traditionellen liberalen und konservativen Kräften, und der Arbeiterbewegung. Im Juli 1918 hatte der Schweizerische Arbeiterkongress dem sogennanten Oltener Komitee die Vollmacht erteilt, einen Generalstreik auszurufen.

1918 wurden dem Bundesrat folgende konkrete politische Forderungen gestellt:

 Neuwahl des Nationalrates nach dem Proporzsystem

 Frauenstimmrecht

 Einführung einer Arbeitspflicht

 Beschränkung der Wochenarbeitszeit (48-Stunden-Woche)

 Reorganisation der Armee zu einem Volksheer

 Ausbau der Lebensmittelversorgung

 Alters- und Invalidenversicherung

 Verstaatlichung von Import und Export

 Tilgung der Staatsschulden durch die Besitzenden

 Staatsmonopole für Import und Export

Der Bundesrat reagierte auf diese Forderungen mit militärischen Drohungen. Das Aktionskomitee rief am 7. November 1918 zu einem Proteststreik auf, der am Samstag, 9. November, in 19 Industriezentren ruhig verlief. Die Arbeiterunion in Zürich setzte den Streik fort, der Bundesrat bot Militär auf, es kam am 10. November zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Militär, worauf das Oltener Aktionskomitee für den 12. November zu einem unbefristeten, landesweiten Generalstreik aufrief.

Am 11. November organisierten Arbeitnehmer und Sozialisten lokale Streiks und Blockaden. Schliesslich beteiligten sich gegen 400’000 Arbeitnehmer an den Bestreikungen ihrer Betriebe. Fabriken, öffentliche Verwaltung, Eisenbahnen und Zeitungsdruckereien standen in den meisten Orten der Schweiz still. Der Bundesrat forderte den sofortigen Streikabbruch und liess Zürich, Bern und weitere Zentren militärisch besetzen. Auch die Eisenbahn wurde militarisiert, d. h. durch Soldaten betrieben.|61|

Zum Einsatz kamen vor allem Angehörige von Bauernregimentern, etwa aus dem Emmental. An verschiedenen Orten kam es zu Zusammenstössen, in Grenchen wurden am 14. November drei Arbeiter erschossen.

Bald wurde allerdings sichtbar, dass die Streikparole nicht über die organisierten Arbeiter und Angestellten hinaus zu wirken vermochte, und das Komitee erkannte die Ausweglosigkeit der Aktion. Es befürchtete, dass aufgrund des militärischen Aufmarsches jedes Festhalten am Streik zu weiterem Blutvergiessen führen würde. Deshalb befahl es nach drei Tagen den Abbruch des Streiks mit der Formulierung: «Der Landesstreik ist beendet, der Kampf der Arbeiterklasse geht weiter.» Die Arbeiterschaft fühlte sich da allerdings um ihren Erfolg betrogen.

In einem öffentlichen Verfahren wurden die Hauptakteure des Oltener Aktionskomitees zu Gefängnisstrafen von vier Wochen bis sechs Monaten Dauer verurteilt.

Barth hatte sich in einem Referat im Arbeiterverein Safenwil zum Landesstreik geäussert, und diese Äusserungen hatten in der Kirchenpflege zu lebhaften Auseinandersetzungen geführt, auch weil sie wohl z. T. entstellt wiedergegeben wurden. Im Versuch der Richtigstellung heisst es dann: «Der Pfarrer hat den Generalstreik nicht verherrlicht, wohl aber die Ansicht vertreten, er sei eine notwendige Folge der allgemeinen Lage.» Barth hatte die Anwendung von Gewalt als «vom Bösen» bezeichnet, aber doch die Frage gestellt, wer denn zuerst Gewalt angewendet habe: «Die Freiheit, solche Erwägungen auszusprechen, wo es sei, kann sich der Pfarrer nicht beschneiden lassen»134.

Abschliessend kann man feststellen, dass die politischen Forderungen des Landesstreiks nach und nach fast alle erfüllt wurden, wenn auch z. T. erst 1948 (AHV) oder 1971 (Frauenstimmrecht). Seine politische Bedeutung ging weit über die Zwischenkriegszeit hinaus, waren doch die Massnahmen der Regierung im Zweiten Weltkrieg (rechtzeitige Lebensmittelrationierung, Erwerbsersatz für Soldaten) vielfach der Angst vor der Wiederholung bürgerkriegsähnlicher Zustände zu verdanken.

Was aber die soziale Lage weiter Kreise der Bevölkerung in der Nachkriegszeit angeht, so blieb sie weiterhin prekär, die Weltwirtschaftskrise brachte nochmals eine Verschlechterung. Der Graben zwischen Sozialdemokratie und den bürgerlichen Kräften war vertieft worden; man hat von einer Stigmatisierung der Linken gesprochen, auch wenn die bald folgende Einführung des Proporzwahlrechts auf nationaler Ebene das politische Kräfteverhältnis deutlich zu ihren Gunsten verändern sollte.|62|

Diese Polarisierung zwischen den politischen Kräften dürfte für die weitere Haltung Barths eine wesentliche Rolle gespielt haben und sie war auch Grundlage der Kritik, die bürgerliche Kreise dem «roten Pfarrer» entgegenbrachten.

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Neuer Bericht über Karl Barths «Sozialistische Reden»

Andreas Pangritz

1. Erinnerung

Der Titel des nachstehenden Beitrags soll an den «Ersten Bericht über Karl Barths ‹Sozialistische Reden›» erinnern, den vor mehr als dreissig Jahren Friedrich-Wilhelm Marquardt vorgelegt hat.135 In diesem Bericht hat Marquardt bereits reichlich Gebrauch gemacht vom jetzt im neuen Band der Karl-Barth-Gesamtausgabe dokumentierten Material. Er hatte ja seit 1971 an der Herausgabe der «Sozialistischen Reden» gearbeitet und seine Edition im Jahr 1976 abgeschlossen. Sie hat in dieser Form jedoch nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt.136 Marquardts editorische Arbeit ist – wie zuvor schon in den Band «Vorträge und kleinere Arbeiten 1909–1914»137 – nunmehr in den Band Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921138 eingeflossen.

Schon für das Wintersemester 1976/77 hatte Marquardt, der seit einem Jahr als Nachfolger Helmut Gollwitzers Systematische Theologie an der Freien Universität Berlin lehrte, gemeinsam mit seinem Assistenten Peter Winzeler eine Übung angekündigt unter dem Titel «Karl Barth, Sozialistische Reden im Zusammenhang des schweizerischen Religiösen Sozialismus und der Geschichte der schweizerischen Sozialdemokratie 1911–1919». Ich hatte mich im Sommer 1976 entschieden, von der Universität Tübingen, aus |64| der schwäbischen Provinz, zum Wintersemester 1976/77 an die Freie Universität Berlin, d. h. zu Gollwitzer und Marquardt, zu wechseln. Selbstverständlich nahm ich nicht nur an Marquardts erster Dogmatik-Vorlesung, sondern auch an der Übung zu Barths «Sozialistischen Reden» teil. Das hier zu diskutierende unveröffentlichte Material sollte nicht zuletzt dem Zweck dienen, umstrittene Thesen aus Marquardts Buch «Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths»139 zu überprüfen. Die Debatten auf dem Leuenberg um Marquardts Thesen im Jahr 1972 hatten nach Max Geigers Beobachtung ja erkennen lassen, «dass die Freunde und Schüler Barths unter sich keine geschlossene Einheit zu bilden vermögen», so dass man «so etwas wie die Bildung einer Barthschen ‹Rechten› und einer Barthschen ‹Linken›» erleben musste.140 Und Marquardt galt seither als der «Linksaussen» der Barthianer.

 

Nach Marquardts «Erstem Bericht» handelte es sich bei dem von Barth selbst mit dem Titel «Sozialistische Reden» versehenen Konvolut um 43 zum Teil ausgeführte Vortragstexte, teils nur stichwortartige Entwürfe aus den Jahren 1911–1919, also Barths Safenwiler Pfarramtszeit. Die Texte waren zum Vortrag in verschiedenen Arbeitervereinen, Ortsgruppen und Untergliederungen der Sozialdemokratischen Partei des Aargaus konzipiert.141 Gegenstand der Übung im Wintersemester 1976/77 waren nach meinen Notizen neben dem «Programm der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz» (Zürich 1904)142 Marquardts Rekonstruktionen von Barths Reden «Christus und die Sozialdemokraten» (25. 4. 1915)143, «Was heisst: Sozialist sein?» (16. 8. 1915),144 «Religion und Sozialismus» (7. 12. 1915),145 aber auch – als Kopie aus dem «Freien Aargauer» verteilt – «Jesus Christus und die soziale Bewegung» (17. 12. 1911)146 nebst öffentlicher Kontroverse in den Zeitungen, darunter Barths Antwort vom 6. Februar 1912 auf den Offenen Brief von Walter Hüssy vom 1. Februar 1912.147 |65|

2. Problemstellungen

«Karl Barth war Sozialist» – der in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts heftig umstrittene Eröffnungssatz des ersten Kapitels von Marquardts Buch «Theologie und Sozialismus» ist heute historisch unumstritten. Weiterhin umstritten sind jedoch die konkrete historische Bedeutung und die systematisch-theologische Tragweite dieses Satzes.

Max Geiger hat Marquardts Provokation aufgrund der Diskussionen im Sommer 1972 auf dem Leuenberg seinerzeit so zusammengefasst: Karl Barth sei «in den entscheidenden Jahren seines Werdens Sozialist» gewesen. Dies schliesse ein, dass «Barths Sozialismus … eine bewusste Entscheidung im Sinne einer Kampfansage an die nichtsozialistische Christenheit seiner Zeit» gewesen sei. So weit dürfte es heute Konsens sein. Schwieriger wird es schon beim zweiten Punkt: Dieser «Barthsche Sozialismus» sei nämlich «nicht nur als biographisches, sondern in eminenter Weise als theologisches Faktum zu würdigen». Dies schliesse ein, dass «für den Safenwiler Pfarrer … Revolution Gottes und sozialistisch-politische Revolution weithin zusammen» fielen. Bis heute höchst kontrovers dürfte der dritte Punkt sein: Der «im Sozialismus und im religiösen Sozialismus angelegte Denkansatz» habe sich in Karl Barths weiterer theologischer Entwicklung «durchgehalten». Dies schliesse ein Verständnis der Offenbarung Gottes in Jesus Christus ein, wonach es sich um einen «in die Welt und ihre Strukturen eingehenden, sie verändernden und erneuernden Gott» handelt148. Zur Klärung der mit diesen Thesen verbundenen Streitfragen können die nunmehr veröffentlichten Vorträge und kleineren Arbeiten, insbesondere die darunter befindlichen «Sozialistischen Reden» aus Barths Safenwiler Zeit, einiges beitragen.

Mit Marquardt möchte ich als Epochenschwellen für die Periodisierung von Barths «Sozialistischen Reden» die historischen Einschnitte des Beginns des Ersten Weltkriegs im August 1914 und der Russischen Revolutionen vom Februar und Oktober/November 1917 benennen. Daraus ergeben sich drei Phasen in Barths frühem sozialistischem Engagement, die Marquardt auch inhaltlich unterschieden hat, indem er für die Jahre 1911 bis 1914 von einem durch neukantianische Ethik geprägten religiösen Sozialismus redete,149 für die Jahre 1914 bis 1917 von einer «Radikalisierung» des «Begriffs von Sozialismus» im Sinne der damals noch revolutionären Sozialdemokratie150 und für die Jahre 1917 bis 1919 schliesslich von der Suche nach |66| einem Mittelweg zwischen (sozialistischer) Zweiter und (bolschewistischer) Dritter Internationale.151

In meinen Ausführungen werde ich die Safenwiler Anfangsjahre vernachlässigen, da die einschlägigen Texte aus dieser Phase bereits vor bald 20 Jahren in einem früheren Band der Gesamtausgabe veröffentlicht worden sind.152 Stattdessen werde ich mich weitgehend auf die beiden Zeiträume nach Beginn des Ersten Weltkriegs und nach der Russischen Revolution beschränken. Nur am Anfang und im Fazit werde ich Aspekte aus den Jahren vor dem Weltkrieg einbeziehen. Ich beginne mit der Frage, wie es eigentlich zu Barths Eintritt in die Sozialdemokratische Partei der Schweiz gekommen ist.

3. Sozialistische «Persönlichkeit» und sozialistischer «Glaube»

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 bedeutete für Barth bekanntlich eine doppelte Enttäuschung über das Christentum einerseits, über den Sozialismus andererseits.153 Aus dieser doppelten Enttäuschung hat er jedoch überraschenderweise die Folgerung gezogen: «Ein wirklicher Sozialist muss Christ sein u. ein wirklicher Christ muss Sozialist sein.» So jedenfalls formuliert Barth im Vortrag «Krieg, Sozialismus und Christentum» vom 6. Dezember 1914.154 Der Beitritt zur Sozialdemokratischen Partei |67| am 26. Januar 1915 erfolgte also nicht aus Begeisterung für den Sozialismus, sondern als Kampfansage an die bürgerliche Gesellschaft angesichts der Verbürgerlichung, Nationalisierung und Militarisierung von Christentum und Sozialismus, wie sie im Versagen der theologischen Lehrer und der sozialistischen Parteien beim Ausbruch des Krieges zum Ausdruck gekommen waren.

Barth hatte sich schon länger mit dem Gedanken getragen, der sozialdemokratischen Partei beizutreten. Nachdem ihm die Mitgliedschaft von einer Arbeiterdelegation im Juni 1913 angetragen worden war, hatte er diese nach einer vierwöchigen Bedenkfrist schliesslich am 9. Juli 1913 abgelehnt, «nicht prinzipiell, sondern vorläufig». Ein «theologisches Hindernis» schien ihm «nicht vorzuliegen, im Gegenteil», aber er fühlte sich «der Unternehmung noch nicht gewachsen», und zwar «1. hinsichtlich der politischen Kenntnisse u. Gewandtheiten, die dazu nötig sind, 2. hinsichtlich der Vereinigung dieser Aufgabe mit denen des Pfarramts …»155 Das umfangreiche Dossier zur «Arbeiterfrage» aus dem Herbst 1913, das bereits in einem früheren Band der Karl-Barth-Gesamtausgabe dokumentiert ist, scheint u. a. dazu gedient zu haben, den Mangel an politischen Kenntnissen zu beheben.156

Eine Woche nach dem Beitritt zur Sozialdemokratischen Partei hat Barth seine Entscheidung in einem Brief an Eduard Thurneysen wie folgt begründet:

«Gerade weil ich mich bemühe, Sonntag für Sonntag von den letzten Dingen zu reden, liess es es mir nicht mehr zu, persönlich in den Wolken über der jetzigen bösen Welt zu schweben, sondern es musste gerade jetzt gezeigt werden, dass der Glaube an das Grösste die Arbeit und das Leiden im Unvollkommenen nicht aus- sondern einschliesst.»157|68|

Ähnlich heisst es im Vortrag «Religion und Sozialismus» vom 7. Dezember 1915 in einer Art von «persönlichem Bekenntnis»: «… weil ich mit Freuden Pfarrer bin u. nicht etwa mit offenem od. geheimem Überdruss, bin ich Sozialist u. Sozialdemokrat geworden.»158 Und dann:

«Ich bin auf eine sehr einfache Weise Sozialist geworden u. ich bin es auf eine sehr einfache Weise. Weil ich an Gott u. sein Reich glauben möchte, stelle ich mich dahin[,] wo ich etwas von Gottes Reich zum Durchbruch kommen sehe. Glauben Sie nicht, dass ich mir dabei vom Sozialismus ein Idealbild zurecht gemacht habe. Ich meine die Fehler des Sozialismus u. seiner Bekenner sehr deutlich zu sehen. Aber noch deutlicher sehe ich in den Grundgedanken, in den wesentlichen Bestrebungen des Sozialismus eine Offenbarung Gottes, die ich vor Allem anerkennen u. an der ich mich freuen muss.»159

Nach dem Beitritt zur Sozialdemokratie scheint Barth seine Hauptaufgabe innerhalb der Partei zunächst in der Bildung «sozialistischer Persönlichkeiten» gesehen zu haben. In verschiedenen Vorträgen vor Arbeitervereinen findet sich das neukantianisch motivierte Plädoyer für einen «ethischen Sozialismus», der v. a. auf «neue», und das heisst: «bessere Menschen», setzt. Dabei ist diese ethische Orientierung nicht als Beschwichtigung des Kampfgeistes gedacht, sondern im Gegenteil als dessen Radikalisierung. Denn, wie es im Vortrag «Christus und die Sozialdemokraten» vom 25. April 1915 gleich eingangs heisst: Jesus begegnet uns als «der Schöpfer neuer Menschen». Er war «nicht Reformer, sondern Revolutionär». Er will «in uns die Sehnsucht erwecken nach einem Leben ohne Moral, weil es Leben in d. Wahrheit ist.»160 Daraus folgt dann «für uns Sozialdemokraten»: «Unser Ideal muss rein bleiben … Unser Kampfmittel ist die Wahrheit unsrer Sache … Unsere nächsten Ziele sind nicht Wahlerfolge, sondern sozialistische Persönlichkeiten.» Und dann mit einer Formel, die in diesem Jahr öfters begegnet: «Zuerst erlöste Menschen, durch diese dann erlöste Verhältnisse.»161 Im August 1915 setzt Barth gegen den «Kriegssozialismus u. Profitsozialismus» auf die «innere Zukunft» der Sozialdemokratie, den «sozialistischen Geist, der kommen muss, wenn es anders werden soll».162 Jetzt |69| wird die Rede von den «erlösten Menschen» in die innermarxistische Auseinandersetzung um die Bedeutung des «historischen Materialismus» eingeführt, wobei Barth beansprucht, die «Gründer des Sozialismus» besser zu verstehen, als dies im Ökonomismus Karl Kautskys und der offiziellen Parteilinie der Fall sei: «Der historische Materialismus im Sinn von Marx hat nicht den Sinn eines rein ökonomischen Ablaufs, sondern gerade des Selbständigwerdens der lebendigen Menschen gegenüber der Materie.»163 In diesem Sinn gelte dann: «Nur Erlöste können erlösen. Der neue Mensch muss geschaffen werden.»164 Dass diese Parole nicht antimarxistisch gemeint ist, macht Barth nur wenige Tage später im Vortrag «Was heisst: Sozialist sein?» vor dem Arbeiterverein Safenwil deutlich: «Der Sozialismus zielt auf den freien Menschen, die Persönlichkeit. … Nur Erlöste können erlösen.» Aber das darf doch nicht gegen die Verbesserung der Verhältnisse ausgespielt werden. Vielmehr gilt: «Nicht: zuerst bessere Menschen, dann bessere Zustände / Nicht: zuerst bessere Zustände, dann bessere Menschen», sondern: «Beides mit- und ineinander.»165

Theologisch kann Barth den sozialistischen «neuen Menschen» durch eine erstaunliche sozialistisch-soteriologische Interpretation des reformatorischen Prinzips sola fide begründen.166 So heisst es – noch vor dem Parteieintritt – schon im Dezember 1914: «Der rechte Sozialist lebt ‹allein durch den Glauben› [Röm. 3,28]», ohne dass in diesem Zusammenhang Jesus Christus auch nur erwähnt würde.167 Im Vortrag «Christus und die Sozialdemokraten» vom April 1915 wird dieser sozialistische Glaube dann mit |70| Christus zusammengedacht: Christus sei «Antwort auf die Welträtsel, so auch Quelle u. Kraft unsrer Bewegung»,168 d. h. der Sozialdemokratie. Über «Christus, was er war u. was er wollte», hören wir dann in säkularer Interpretation: Die

 

«ewige Güte der andern Welt nennt Jesus den Vater im Himmel. … Wo die Menschen aus seinen Kräften leben u. ihr Leben u. die Welt gestalten[,] da ist das Himmelreich. Und das Himmelreich kommt, wo wir glauben[.] Gl[auben] heisst auftun. Die Erkenntnis Gottes … schafft eine neue innere Stellung zum Leben, die mit Notwendigkeit … Alles … verwandelt.»169

Wenn die Sozialdemokraten trotz ihres Versagens angesichts des Krieges dem Sozialismus treu blieben, dann deshalb,

«weil uns in der soz[ialen] Bewegung ein Glaube entgegentritt, der das Tiefste in uns in Anspruch nimmt u. uns in seinen Dienst zwingt. Und sofort fühlen wir uns bei diesem Glauben an Χρ erinnert u. empfangen von ihm neue Kraft zum Glauben.»170

Dieser Glaube sei ja der Weg zu Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden als den Zielen des Sozialismus: «Das soz[ialistische] Programm» sei allerdings «nur ein kleiner Ausschnitt aus Jesu Programm: dein Reich komme!» Doch: «Weil wir an die andre Welt glauben, die Χρ uns eröffnet[,] müssen wir trotz Allem uns am Soz. freuen u. dafür arbeiten.»171 Ähnlich heisst es dann noch einmal im Vortrag über «Die innere Zukunft der Sozialdemokratie» vom August 1915, wo Barth eine «neue sozialistische Gesinnung» propagiert: Der «Inhalt des Sozialismus» sei «Gerechtigkeit für die Menschheit … ‹Allein durch den Glauben› [Röm. 3,28]. Die Leidenschaft für die Gerechtigkeit ist unsre wirkliche Stärke nach innen und aussen.»172

Es wird also nicht nur der Sozialismus von Jesus Christus her verstanden, sondern auch umgekehrt: Vom sozialistischen «Glauben» her wird verstanden, was Jesus Christus war und wollte. |71|

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