Theologie im Umbruch

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VIII.

Doch zurück zum «Leben im ‹Leben›», auf das diese Hoffnung hofft. Es ist für unser Verständnis der Explikationslinie, auf der sich Barths Theologie in diesen Jahren entfaltet, ausserordentlich aufschlussreich, dass wir dem Gedanken vom «Leben im Leben» – wenn nun auch in eine andere, durch den Austausch mit dem Bruder Heinrich Barth bestimmte Tonart transponiert – im Herbst 1919 wieder begegnen: Im Tambacher Vortrag «Der Christ in der Gesellschaft» vom 25. September 1919, den Georg Pfleiderer |41| zutreffend als die «Initialzündung der einflussreichsten theologischen Bewegung des 20. Jahrhunderts» bezeichnet hat.81 Im zweiten Teil des Vortrags, der den Standort feststellen soll, an dem sich Barth mit seinen Zuhörern befindet, wird die Formel vom «Leben im Leben» wieder aufgenommen: «einmal des Lebens im Leben bewusst geworden»82, schauen wir aus «nach einem wurzelhaften, prinzipiellen, ursprünglichen Zusammenhang unseres Lebens mit jenem ganz andern Leben» Gottes83. Es kann nicht anders sein: «der lebendige Gott», der uns nötigt, «auch an unser Leben zu glauben», bringt uns damit zum Leben – zum «Leben» in Anführungszeichen – «in kritischen Gegensatz».84 Unsere Seele ist «erwacht […] zum Bewusstsein ihrer Unmittelbarkeit zu Gott, d. h. aber einer verloren gegangenen und wieder zu gewinnenden Unmittelbarkeit aller Dinge, Verhältnisse, Ordnungen und Gestaltungen zu Gott»85. Eben dieses nie nur individuelle, immer auch soziale Erwachen der Seele ist «die Bewegung im Leben aufs Leben hin»86 – im Erstdruck hiess es noch kräftiger: «die Bewegung aufs Leben im Leben hin»87. Das Movens dieser Bewegung ist die Notwendigkeit, alles Leben «am Leben selbst zu messen»88. Damit und darin geschieht «die Revolution des Lebens gegen die es umklammernden Mächte des Todes»89, gegen «die tödliche Isolierung des Menschlichen gegenüber dem Göttlichen»90. An einer Stelle beschreibt Barth die Bewegung, die aus dem «kritischen Gegensatz zum Leben»91 entspringt – gemeint ist natürlich: aus dem kritischen Gegensatz zum Leben als «Abstraktum»92 –, als «Bewegung des Lebens in den Tod hinein und aus dem Tode heraus ins Leben»93.

Das scheint sich nun aufs engste zu berühren mit einer Aussage im Aarauer Vortrag «Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke» vom 17. April 1920. Barth spricht dort vom «eigentümlichen Rhythmus des Fortschritts: |42| aus dem Leben in den Tod – aus dem Tode in das Leben!, der uns im Mittelpunkt der Bibel entgegentritt»94. Die Verwandtschaft ist offensichtlich. Doch wir müssen genauer zusehen. Diese Aussage im Aarauer Vortrag bezieht sich ja zurück auf die Formulierung, die wie eine Devise, musikalisch gesprochen, die grosse Coda des Vortrags einleitet: «Aus dem Tode das Leben!»95 Schon wenn bei der Reprise in dieser Devise nur noch «Aus dem Tode das Leben!»96 hervorgehoben ist, wird klar, dass der Gedanke aus dem Tambacher Vortrag im Aarauer Vortrag wirklich eine Umwandlung erfährt. Das wird vollends dadurch deutlich, dass dieses Kernmotiv von den beiden Sätzen eingerahmt wird: «Die eine einzige Quelle unmittelbarer realer Offenbarung Gottes liegt im Tode.» Und:

«Das menschliche Korrelat zu der göttlichen Lebendigkeit heisst weder Tugend, noch Begeisterung, noch Liebe, sondern Furcht des Herrn, und zwar Todesfurcht, letzte, absolute, schlechthinnige Furcht.»97

Es ist deutlich: Das Wort Tod meint hier in seiner Grundbedeutung den Tod als radikales Ende, als wirklichen Tod. Tod meint nicht mehr, so wie Barth in Tambach in analoger Sprache ausgeführt hatte, «ein selbständiges Leben |43| neben dem Leben», das als solches eben «nicht Leben, sondern Tod» ist. Was Barth in Tambach einhämmerte, bleibt zwar wahr:

«Tot ist alles Nebeneinander von Teilen […]. Tot ist ein Innerliches für sich, ebenso wie ein Äusserliches für sich. Tot sind alle ‹Dinge an sich› […]. Tot sind alle blossen Gegebenheiten. Tot ist alle Metaphysik.»98

Aber jetzt in Aarau geht es nicht mehr um die vorauslaufenden Schatten des Todes, jetzt geht es – reduplicative, wie die Scholastiker sagen – um den Tod selber, es geht um «Gethsemane und Golgatha»99.

Es liegt danach auf der Hand, dass hier in Aarau mit dem gleichen Vokabular, ja mit den gleichen Sätzen etwas Neues, vielleicht sogar etwas «ganz Anderes» gesagt wird als ein halbes Jahr zuvor in Tambach. Man ist an das Bild von einem Handschuh erinnert, der umgestülpt worden ist: Es ist der gleiche Handschuh, aber er zeigt nun in den gleichen Umrissen eine ganz andere Gestalt – die Innenseite der Aussenseite als Aussenseite.

IX.

So stellt sich hier zum Schluss eine doppelte Frage:

Zum einen nach rückwärts: Ist das, was wir in Aarau 1920 hören, wirklich die verborgene Innenseite dessen, was wir bis zur Jahreswende 1919/1920 gehört haben, bis nämlich Barth Anfang 1920 Franz Overbeck100 und dessen «Todesweisheit»101 entdeckt und ihn als seinen «Melchisedek»102 erkannt hatte? Anders ausgedrückt: War das Initiationserlebnis der Lektüre von Overbecks «Christentum und Kultur»103 eine Hilfe zur exakteren, unmissverständlicheren Formulierung eines Barth seit 1915/1916 beschäftigenden und bewegenden Gedankens? Oder kam hier durch die Vermittlung |44| des «überaus merkwürdigen und selten frommen»104 Overbeck ein ganz neuer Gedanke ins Spiel, der sich während der Arbeit am zweiten «Römerbrief» noch radikalisierte105 und nur mühsam in einer Kontinuität mit dem tu,poj didach/j z. B. des «Römerbriefs» von 1919 auszudrücken war?

Und zum anderen nach vorwärts: In welcher Kontinuität steht z. B. die «Christliche Dogmatik», die «Kirchliche Dogmatik» mit der Overbeck-Besprechung und mit dem radikalen biblisch-hermeneutischen Manifest von 1920? Barth hat in seinen späteren Jahren wiederholt den inneren Abstand zur Römerbriefzeit zum Ausdruck gebracht106 und, nebenbei bemerkt, einmal einen Hörerschein für seinen zweiten Aufsatzband, an dessen Eingang |45| programmatisch die «Unerledigten Anfragen» Overbecks stehen, nur mit der ausdrücklichen Weisung ausgestellt: «Das sollen Sie aber nicht lesen, Sie sollen die Kirchliche Dogmatik lesen!»107 Doch eben in der letzten Vorlesung zur «Kirchlichen Dogmatik» von 1961 steht – im Zusammenhang einer nachdrücklichen Berufung auf das für Barth entscheidende Reich-Gottes-Verständnis der beiden Blumhardts – die ausdrückliche Bekräftigung des Bildes, das emblematisch die Prägung der Theologie Barths in der Phase des zweiten «Römerbriefes» ausdrückt: «Ich würde aber noch jetzt und vielleicht mit noch grösserer Bestimmtheit [sc. als 1920] sagen», man müsse Overbeck, «um ihn recht zu würdigen, gleichsam Rücken an Rücken mit seinem Zeitgenossen, dem jüngeren Blumhardt, sehen»108, worin doch eingeschlossen ist: den jüngeren Blumhardt Rücken an Rücken mit Overbeck! Es wäre also auch zu fragen: Gibt es ein sachliches Kontinuum zwischen 1920 und 1961? Aber diese Fragen sind nun wirklich Sache einer determinatio magistri!109 |46|


Manuskript «Sozialismus und Kirche»

(Originalgrösse 11,7 × 12 cm) |47|

Transkription

Sozialismus u. Kirche

Warum als Soz[ialist] Pfarrer?, mehr Pf[arrer] als Soz.! //

Leben im Soz[ialismus]

a) wen klagen wir ein[?]? N[euer] Mensch //

b) mit was kämpfen wir? N[euer] Geist //

c) was wollen wir? N[eue] Welt //

Gerade das Unausgesprochene ist das Wesen d. Soz.: die //

grosse Not u. Sehnsucht d. M[enschen] dem Unendlichen gegenüber. //

Hinter u. über dem Programm wäre von der Bibel zu reden

_____

Warum als Pf[arrer] Soz[ialist]? auch Soz. wenigstens! //

Weil die Bibel entleert worden ist //

a) zu einseitig geistig Leiblichkeit //

b) zu moralisch Gerechtigkeit G[otte]s //

c) zu wenig radikal Jenseits //

Die Kirche hat da viel versäumt, auch die Ref[ormation]. Hier ist //

mehr als Soz[ialismus]. Christen gesucht, die für den Leib[?] empfinden

 

|48|


Manuskript «Krieg, Sozialismus und Christentum», S. 1

(Originalgrösse 11 × 18)

|49|


Fragment auf der Rückseite von «Sozialismus und Kirche»

(Originalgrösse 18 × 5 cm)

Transkription

Beziehung[?] auch in der ersten Zeit, wo wir noch[?] daran denken oder in der zweiten Zeit, wo wir nicht daran [denken wollen?]. //

Aber nichtwahr, wir wissen Alle auch etwas von der dritten Zeit, wo wir daran denken müssen. Die gegenwärtige Zeit //

aufs Ganze gesehen, ist jedenfalls dritte Zeit u wir sind darum ein so unruhiges, bewegtes, zerrissenes Geschlecht, //

weil wir Alle an die Frage, die verborgen im Herzen der Menschen lebt, denken müssen. Wehe den M., die in der dritten //

Zeit heranwachsen! müsste man sagen, denn wir wissen: viel Sicherheit, viel Befriedigung, viel Gerechtigkeit ist dahin, //

wenn die dritte Zeit, die Zeit der offenen, der brennenden Frage anbricht. Aber nichtwahr, wenn wir uns selbst recht //

verstehen, dann wissen wir: nur da heissts umgekehrt gerade: wohl den M, denen die Augen aufgehen; denn //

da fängt das Leben an. Das sind die M. in denen etwas offen u wach, sehnsüchtig u verlangend wird. Das //

sind die M. die im Ernst nach Trost fragen. |50|


Anfang der Predigt vom 26. Oktober 1919

(Originalgrösse 18 × 11 cm)

|51|

Der Anfang des 20. Jahrhunderts und die Schweiz: Versuch einer historischen Situierung der Schriften von Karl Barth

Regina Wecker

Um die politischen Rahmenbedingungen und die Zeit näher zu bringen, in der Barth die jetzt in seinen «Vorträgen und kleineren Arbeiten 1914–1921» versammelten Texte verfasste, – und so möchte ich die Aufgabe dieses Beitrags verstehen – habe ich drei Ereignisse ausgewählt: die Landesausstellung 1914, das Fabrikgesetz von 1914/1920 und den Landesstreik 1918. Ereignisse von nationaler Bedeutung und Ausstrahlung, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die zwar in kurzen Abständen, doch in völlig veränderter politischer Landschaft stattfinden. Sie sind Ausdruck der Zeit und ermöglichen einen Einblick in die politische Lage, aber auch in die Befindlichkeit der Schweiz. Die Auswahl von Fabrikgesetz und Landesstreik bedarf keiner weiteren Legitimation, sie gelten als wichtige Einschnitte der Schweizer Geschichte, und zudem hatte Barth sich mit beiden ausführlich auseinandergesetzt.110 Allerdings habe ich diese beiden Ereignisse doch eher aufgrund ihrer Aussagekraft für die Geschichte der Schweiz ausgewählt als in Bezug auf die vielfältigen Schriften von Barth. Die Landesausstellung hingegen dient mir als Folie und Gegenpol, als Ausdruck des politischen Klimas der Schweiz und der Präferenzen der Behörden bei politischen Entscheidungen.

1. Landesausstellung 1914

Landesaustellungen haben Tradition in der Schweiz.111 Nach der Zürcher und der Genfer Ausstellung 1883 und 1886 war die Ausstellung in Bern die |52| dritte ihrer Art. Das Ziel bestand gemäss den Vorstellungen des Bundesrates darin, «ein vollständiges Bild der Leistungen des Schweizervolkes» zu bieten. Damit war natürlich vor allem die Leistungsfähigkeit der Schweizer Industrie gemeint. Die Schweiz gehörte zu den am frühesten und am stärksten industrialisierten Ländern Europas: 1910 waren etwa 44 Prozent der Erwerbstätigen im industriellen Sektor tätig. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Landwirtschaftssektor entsprechend an Bedeutung verloren und hatte nur noch gerade einen etwa gleich grossen Anteil wie der aufstrebende Dienstleistungssektor. Die Ikonographie der Ausstellung wies allerdings nicht auf die Bedeutung der Industrie hin: Das Plakat zeigt Reiter und Ross vor einer bäuerlich-idyllischen Landschaft, als Logo dient eine Ähre. Auch die Presse verwies weniger auf die Landesausstellung als Ort der Präsentation der wirtschaftlichen Leistung und der Innovationskraft der Schweiz. Vielmehr warb sie mit dem Charme der Schau, bei der ein traditionelles Unterhaltungsprogramm geboten werden sollte. Der Austragungsort war das «Dörfli» auf dem Berner Ausstellungsgelände, eine einheitliche architektonische Konzeption mit Kirche, aufgeteilt in reformierten und katholischen Teil.

Die Ausstellung sollte ursprünglich schon 1913 auch als Feier der Eröffnung der Bern-Simplon-Lötschberg-Strecke der Eisenbahn dienen. Damit ist nun wiederum auf die Zielsetzung der Zelebrierung der technischen Errungenschaften hingewiesen: Der Ausbau des Schweizer Eisenbahnnetzes war für die Industrialisierung ein wichtiger Faktor. Allerdings hatte es beim Bau des Lötschbergtunnels einen folgenschweren Unfall mit 25 Toten gegeben, der zur Verzögerung der Eröffnung der Strecke führte und damit auch die Verschiebung der Ausstellungseröffnung auf 1914 nötig machte. Das war aber nicht das einzige Problem. Es hatte im Vorfeld der Ausstellung einige für Landesausstellungen ungewöhnlich scharfe Auseinandersetzungen gegeben, die deutlich auf Probleme der Schweiz in dieser Zeit hinweisen. Die Westschweizer hatten sich nicht nur über das «Spinatross» lustig gemacht, ein anderes Logo verlangt und auch erhalten, sondern sie hielten sich auch darüber auf, dass die deutschen Aussteller zu stark vertreten waren und die Ausstellung in ihrem Stil zu stark auf die Deutschschweiz, ja mit dem «Style de Munich» auf Deutschland ausgerichtet sei. Einige Industrielle hatten einen Boykott erwogen, als der Auftrag zum Bau eines zweiten Simplontunnels an ein ausländisches Unternehmen ging. Zudem hatte der Konflikt zwischen dem auf Tradition bedachten Gewerbe und |53| der «profitorientierten» Industrie zu dieser skeptischen Haltung beigetragen. Schliesslich kritisierten Industrieunternehmer die «einseitige» Sozialpolitik des Bundes zugunsten der Arbeiterschaft, die in der Revision des Fabrikgesetzes zum Ausdruck gekommen sei, und die finanzielle Unterstützung, die der Auftritt des Arbeiterbundes erhalten sollte.

Hier werden also bereits Probleme sichtbar, die später in bei weitem heftigerer Form ausbrechen werden. Die Eröffnungsrede des Bundesrates versuchte diese Konflikte zu beschwichtigen: Bundespräsident Arthur Hoffmann wählte in seiner Eröffnungsrede «Lernen wir uns kennen!» als «Wahlspruch für unsere innerpolitischen Verhältnisse». Zielgerichteter drückte sich Bundesrat Gustav Ador aus, als er sich wünschte, «das ganze Volk» solle in der Landesausstellung erfahren, «dass man alles daran wenden muss, um den Antagonismus der Klassen zu vermeiden»112. Die Ausstellung wurde am 15. Mai eröffnet. Bei Beginn des ersten Weltkriegs und der Mobilmachung der Schweizer Armee wurde sie nicht abgebrochen, sondern nur für zwei Wochen unterbrochen und dann Mitte Oktober planmässig geschlossen. Hier wollte man sich nicht vom Krieg stören lassen.

Anders beim Fabrikgesetz. Die «Vermeidung des Klassenantagonismus» schien bei Ausbruch des Krieges nicht mehr so wichtig. Die Revision des Fabrikgesetzes, von den Unternehmern schon unmittelbar nach der Verabschiedung kritisiert, aber doch nicht durch ein Referendum infrage gestellt, also rechtsgültig, wurde bis nach dem Ende des Weltkrieges ausgesetzt und erst 1920 umgesetzt. Hier wird die Absicht des Bundesrates sichtbar, den Zusammenhalt der Bevölkerung eher durch eine Ausstellung der nationalen Errungenschaften zu erhöhen, als konkret die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Fabrikarbeiterschaft zu verbessern.

2. Das Schweizer Fabrikgesetz von 1914

1877 hatte das erste Schweizer Fabrikgesetz die Arbeitszeiten und die Arbeitsbedingungen in den Fabriken geregelt. Es galt als international richtungsweisend für die Arbeitsgesetzgebung, weil es die Arbeitszeit auf 11 |54| Stunden festlegte, und zwar für Frauen und Männer, und damit den kantonalen Vorläufern Glarus und Basel folgte.113 Die Fabrikgesetze anderer Länder, z. B. von England, hatten jeweils nur die Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen von Frauen und Kindern geregelt. Die Begründung war, dass man nicht in die Vertragsfreiheit der Männer eingreifen sollte. Das blieb auch für Deutschland so, obwohl man das Schweizer Gesetz zum Vorbild nahm.114

Karl Barth hatte die Revision von 1914 zum Thema eines Vortrags gemacht,115 und zwar am 19. April, also noch vor der Verabschiedung des Gesetzes in Nationalrat und Ständerat. Das Gesetz wurde dann am 17. und 18. Juni einstimmig von beiden Räten verabschiedet. Ein Referendum wurde nicht ergriffen. Damit erhielt das Werk Gesetzeskraft. Barth referierte beim Grütliverein116 Suhr. Der Grütliverein war eine sozialliberale Arbeiterorganisation und Handwerkervereinigung, die 1901 mit der Sozialdemokratischen Partei fusioniert hatte, aber die selbständige Organisation beibehalten hatte. Barth war diesen sozialen Bewegungen eng verbunden. Er hatte sich bereits mit seiner Bewerbungspredigt zur Pfarrwahl in Safenwil mit der Beziehung zwischen Christentum und Sozialismus beschäftigt und war nach seiner Wahl zum Pfarrer in Safenwil an der Gründung dortiger Gewerkschaftsorganisationen beteiligt. Der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz117 (SPS) trat er dann 1915 bei.118

Aus den Notizen geht hervor, dass Barth zwar eine schärfere Gesetzgebung, insbesondere bessere Konditionen für die Arbeiter gewünscht hätte119, insgesamt warb er aber für den Kompromiss. Da noch nicht klar war, ob das Referendum ergriffen würde, war für eine allfällige Abstimmung die Unterstützung der Arbeiterschaft wichtig. |55|

Das erste Fabrikgesetz von 1877 und seine späteren Revisionen waren ein Erfolg der Gewerkschaftsbewegung. Das heisst allerdings nicht, dass es von den Arbeitern einhellig unterstützt wurde. Sie hatten Angst, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit eine Verkürzung des Lohnes nach sich ziehen würde, und auch das Verbot von Kinderarbeit in den Fabriken wurde gefürchtet, weil die Familien auf das Einkommen angewiesen waren. Das Fabrikgesetz wurde 1877 nach einem heissen Referendumskampf nur äusserst knapp angenommen. Wie schon bei den kantonalen Vorläufern der Gesetze waren Lehrer, Ärzte und auch Pfarrer für die Gesetzgebung eingetreten; Lehrer, weil ihre Schülerinnen und Schüler, wenn sie in der Fabrikarbeit eingespannt waren, im Unterricht den verpassten Schlaf nachholten, Ärzte, weil sie die gesundheitlichen Schäden bei Jugend und Erwachsenen feststellten, und Pfarrer, weil sie um die religiöse Bildung und Bindung fürchteten, und auch aus philanthropischen Erwägungen. Insgesamt war man in der Schweiz vom Wert guter Allgemeinbildung überzeugt, da man davon ausging, dass nur der gebildete Bürger auch in der Lage war, die im politischen System notwendigen Entscheidungen zu treffen.

Zu den Voraussetzungen der Schweizer Industrialisierung gehörten die vergleichsweise ungünstigen Standort-Rahmenbedingungen: keine Rohstoffe und keine direkte Verbindung zu den Weltmeeren. Die hohen Transportkosten glichen die Unternehmer durch die niedrigen Löhne aus. Typisch für die Schweizer Entwicklung war die dezentrale Industrialisierung, da die Wasserkraft genutzt werden konnte; d. h. aber auch, dass keine – etwa mit England vergleichbaren – Ballungszentren entstanden und Arbeitskräfte im ganzen Land verfügbar waren. Auch diese Konkurrenzsituation unter den Arbeitern und Arbeiterinnen erlaubte, die Löhne tief zu halten. Die frühe und lange Zeit einzige Leitindustrie der Schweiz war die Textilindustrie. Maschinenindustrie und chemische Industrie waren Folgeindustrien, die erst gegen 1900 langsam an Bedeutung gewannen. Die Textilindustrie beschäftigte traditionellerweise sehr viele Frauen, die in den Fabriken ähnliche Arbeiten verrichteten wie zuvor in der Verlagsindustrie oder im eigenen Haushalt. Sie brachten gute Materialkenntnisse, Erfahrungen und Qualifikationen mit, konnten aber – auch hier kann man sagen, traditionellerweise – schlecht bezahlt werden. Zunächst war also die Mehrheit der Fabrikarbeiterschaft weiblich, mit der Zunahme der Zahl der Arbeitskräfte ging der Anteil der Frauen zurück. In der Maschinenindustrie waren dann schon von Anfang an mehr Männer als Frauen beschäftigt. Was aber blieb, waren vielfach die niedrigen Frauenlöhne und zunächst auch das schlechte gesellschaftliche Ansehen der Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen. Allerdings war es für die Entwicklung der Schweizer Wirtschaft typisch, dass häufig beide |56| Erwerbsformen, Landwirtschaft und Fabrikarbeit, – je nach Saison – nebeneinander ausgeübt wurden. Der Arbeiter und die Arbeiterin galten weniger als die Bäuerin und der Bauer, und das Selbstverständnis der Schweiz blieb das eines agrarischen Landes.

 

Hier setzten nun die Gewerkschaften an, und zwar an beiden Punkten, Lohn und Ansehen, wohl wissend, dass sie zusammenhingen. Das Image des Fabrikarbeiters musste verbessert werden, seine Leistungen für die Gesellschaft betont, seine Rolle als Familienvater gestärkt. Die gewerkschaftliche Organisation war wichtig, das ermöglichte Druck und Streik, um so Lohnerhöhungen und die Verkürzung der Arbeitszeit durchzusetzen. Frauen waren da im Weg. Sie waren Konkurrentinnen, wurden als Lohndrückerinnen eingesetzt und waren meist nicht organisiert. Fabrikarbeit für Männer konnte man aufwerten, indem die Wichtigkeit für Volkswirtschaft und Gesellschaft betont wurde. Frauenarbeit aber, insbesondere die Arbeit verheirateter Frauen, sollte unnötig werden, wenn der Mann einen Familienlohn erhielt, einen Lohn, mit dem er ohne den sogennanten Zuverdienst eine Familie unterhalten konnte. Das war das Ziel, danach wurde die Gewerkschaftspolitik ausgerichtet. Dies wird auch in der Revision des Fabrikgesetzes sichtbar. Allerdings war es für die meisten Arbeiterfamilien bis in die 1950er-Jahre eine Illusion, von einem Einkommen leben zu können, ganz abgesehen davon, dass diese Politik junge Frauen in eine Warteposition bis zur Heirat verwies.

Barths Vortragsnotizen beziehen sich – wie gesagt – auf den Entwurf des Gesetzestextes, der nach heftigen und langandauernden Verhandlungen als Kompromiss im Parlament zustande gekommen war. Die Ergebnisse: Die 59-Stunden-Woche, maximal 10 Stunden pro Tag, ein Fortschritt gegenüber dem 11-Stunden-Tag des Fabrikgesetzes von 1877. Eine weitere Veränderung war die deutliche Ausweitung des Frauenschutzes: ein Verbot der Beschäftigung von Frauen in bestimmten Industriezweigen, Sonderbestimmungen zur Nachtruhe von Frauen, eine Verkürzung des sogennanten Wöchnerinnenschutzes auf 6 Wochen; vorher waren 8 Wochen möglich. Wöchnerinnenschutz bedeutete, dass Frauen in dieser Zeit nicht arbeiten durften, eine Erwerbsausfallentschädigung war nicht vorgesehen, hingegen immerhin ein Kündigungsschutz für Frauen während der 6 Wochen. Es wurde verboten, Frauen, «die ein Hauswesen zu besorgen hatten» zu Hilfsarbeiten ausserhalb der Arbeitszeit einzusetzen. Zudem sollten sie dann in 5 Jahren, also 1919, den Samstagnachmittag frei nehmen dürfen.

In Barths an sich sehr knappen Notizen, die den genau aufgeführten Gesetzesparagrafen folgten oder beigefügt waren, fällt auf, dass er einerseits die Verkürzung der Arbeitszeit unzureichend fand, zumal sie nur auf ein Niveau gesenkt wurde, das – wie er notierte – in 65 Prozent der Betriebe |57| bereits eingeführt war120. Mehr Freizeit sei infolge der immer anstrengender werdenden Fabrikarbeit nötig. Mit «freie Zeit wird nicht versoffen»121 reagiert Barth offensichtlich auf entsprechende gegnerische Argumente. Auch frühere Zeitverkürzungen seien nur unter Protest der Fabrikanten zustande gekommen (1914/15), obwohl die Arbeitsleistung durch eine Verkürzung grösser werde und die «grösste Unfallgefahr in den letzten zwei Stunden» zu verzeichnen sei.122

Was den Frauenschutz angeht, so gehörte Barth zu den vehementen Befürwortern. Seine Argumente, die er stichwortartig aufführte: die «schwächere Konstitution», Verdienst der Frauen sei meist nur Zuverdienst, geringe Organisationsfähigkeit.123 «Gründe dagegen seitens der Frauenrechtlerinnen nicht stichhaltig», schreibt er.124 Hier bezieht er sich wohl darauf, dass insbesondere ausländische Frauenbewegungen gegen Sonderbestimmungen für Frauen opponiert hatten. Sie erkannten die Ambivalenz dieses Frauenschutzes, der zwar das Los der doppelt und dreifach belasteten Fabrikarbeiterin erleichterte, die keineswegs nur Zuverdienerin war. Gleichzeitig machte er aber Frauen als Arbeitnehmerkategorie minderwertig, hielt sie zum Teil von besser bezahlten Arbeiten fern und legitimierte niedrigere Frauenlöhne. Nur ein Beispiel: Das Nachtarbeitsverbot des ersten Fabrikgesetzes, das für Männer in den Revisionen nach und nach durch Ausnahmeregelungen aufgeweicht wurde, galt für Frauen weiterhin absolut. Sie verloren daher in der Druckerei und Setzerei, in der sie bisher verhältnismässig gut bezahlte, qualifizierte Arbeiten verrichtet hatten, ihre Arbeit. Zudem war dieses Verbot ein Vorwand für die Gewerkschaften, die Ausbildung von Setzerinnen überhaupt zu unterbinden.125

Barth forderte zudem lapidar «bessere Männerlöhne». Damit übernahm er hier die Vorstellungen der Gewerkschaften, die sich über die Forderung des Familienlohnes des Mannes für die Besserstellung der Arbeiterschaft einsetzten. Dass viele Frauen – und Fabrikarbeit war auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz zu einem beträchtlichen Teil Frauenarbeit – |58| nicht «Zuverdienerinnen» waren, sondern als Ledige sich selbst unterhielten und die Herkunftsfamilie unterstützten bzw. als Witwen oder Geschiedene ebenfalls nicht vom Familienlohn eines Mannes profitieren konnten, blieb unberücksichtigt. Das Konzept der Zuverdienerin und die Vorstellung, dass es für die Familien besser wäre, wenn die Frauen nicht erwerbstätig wären, verhinderten weitgehend, dass die Gewerkschaften sich für eine Verbesserung der Frauenlöhne stark machten. Zudem führten sie dazu, dass Frauenarbeit «versteckt» wurde, war sie doch der Beweis, dass es ein Mann nicht «geschafft» hatte, wenn die Familie auf den Verdienst der Frau angewiesen war.126

Hier trafen sich aber die bürgerlichen Vorstellungen, die das Haus als Wirkungsstätte der Frau sahen, und die der Gewerkschaften, auf deren Seite Barth in dieser Frage stand. Er hätte auch gern noch den Schutz der jungen Frauen verstärkt – er befürwortete einen Arbeitsbeginn der Mädchen als «Mütter der Zukunft» mit 15 statt mit 14, wie für die Knaben; «das non possumus der Arbeitnehmer ist nicht so ernst zu nehmen»127. Abschliessend bezeichnete Barth das Gesetz als «unter Achselzucken annehmbar», eine weitere Verbesserung müsste durch den Ausbau der gewerkschaftlichen Organisation «zur weiteren Selbsthilfe» erfolgen.128

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden jedoch nicht nur die Verbesserungen der Arbeitssituation sistiert, also die Inkraftsetzung des Gesetzes ausgesetzt, sondern insgesamt auch das bisher geltende Fabrikgesetz ausser Kraft gesetzt. Hier begann eine Entwicklung, die die städtischen Arbeitskräfte belastete, die zudem durch steigende Mieten, die schlechte Versorgungslage und die steigenden Lebensmittelpreise stärker betroffen waren als die Landbevölkerung, insbesondere als die Bauern. Zudem war offensichtlich, dass es neben den Verlierern diejenigen gab, die aus dieser Situation enorme finanzielle Gewinne zogen, sei es in der Rüstungsindustrie oder durch Erhöhung von Lebensmittelpreisen. Der Antagonismus Stadt – Land wurde dadurch akzentuiert. |59|