Theologie im Umbruch

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II.

So weit das erste «Videtur quod non». Als getreuer und beflissener baccalaureus muss ich dem freilich sofort eine Unterscheidung folgen lassen, die den Gesichtspunkt herausstellt, unter dem die Bezeichnung «dialektisch-theologischer Sozialismus» doch einen bestimmten guten Sinn hat. Haec ratio procedit de distinctione prioris Barbae formae doctrinae. Natürlich hat Barth in der Deutung des Sozialismus in den zehn Jahren seines Pfarramts in Safenwil eine deutliche Entwicklung vollzogen: Vom Fortissimo-Auftakt 1911 im Vortrag «Jesus Christus und die soziale Bewegung» mit der Identitätsbehauptung: «Jesus ist die soziale Bewegung und die soziale Bewegung ist Jesus in der Gegenwart»39 bis zum «Generalbericht» von 1921, in dem Barth sozusagen dem «fahrenden Platzregen»40, d. h. dem einen Augenblick, der unwiederbringlichen Möglichkeit, den «göttlichen Sinn dieser Frage, dieser Not, dieser Hoffnung [sc. im Sozialismus] zu erkennen», hinterherblickt und feststellt: «Heute ist diese Gelegenheit, dem Göttlichen im Menschlichen zu dienen, versäumt und vorbei.»41

Man kann in dieser Dekade – ähnlich wie es schon Marquardt getan hat42 – wenigstens drei Phasen unterscheiden: |31|

 die Phase des Sympathisanten, die – nach den nicht zu unterschätzenden Anregungen im Elternhaus und in der Studienzeit, vor allem aber nach den sozialen Erfahrungen in Genf, durch die Barths Calvin-Lektüre eine bestimmte Richtung bekam43 – 1911 beginnt, als Barth «durch Safenwil mit dem Sozialismus bekannt und zu genauerem Überlegen und Studieren der Sache getrieben» wurde44. Ihr folgt

 die Phase, in der Barth sich aktiv – bald auch als Mitglied – in der Sozialdemokratie engagierte. Sie beginnt merkwürdigerweise ausgerechnet mit der Niederlage und dem Auseinanderfallen der internationalen sozialistischen Bewegung zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914. Am 25. Januar 1915 erfolgte der Eintritt in die Partei. Diese Phase, die man, iuxta modum, mit dem Stichwort «dialektisch-theologischer Sozialismus» benennen könnte, endete, was Zugehörigkeit und Tätigkeit in der Partei angeht, erst mit Barths Abschied aus Safenwil: Noch im März 1921 lehnte es Barth zwar ab, für den Aargauer Grossen Rat zu kandidieren, griff aber «in einer vielstündigen Sitzung des Arbeitervereins» dann doch «energisch in die Verhandlungen» ein, «was sehr nötig war, denn der Sumpf bei den Sozialisten ist gross»45.

 Während dieser Phase verantwortlicher Mitarbeit «im Hause der gottlosen Sozialdemokratie»46 veränderten sich jedoch Barths Auffassung von der sozialistischen Idee und seine Stellung zum Sozialismus so, dass wir die Zeit ungefähr von 1917/1918 an als eine besondere Phase ansehen müssen. Das tritt etwa zutage, wenn Barth im Oktober 1920 erklärt, es sei nicht ratsam, ihn auf die offizielle Rednerliste der Partei zu setzen, weil er «zum Sozialismus eine zu gebrochene Stellung einnehme», und dem anfragenden Parteigenossen «als Beleg, wo mein Bolschewismus anfange und hinziele», den Aarauer Vortrag «Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke» beilegt47. Wie diese auf den ersten Blick sehr seltsame Dedikation andeutet, verlief Barths Entwicklung im Verhältnis zum Sozialismus parallel zu seinem Weg in der Theologie: Die Leitbegriffe Gerechtigkeit und Solidarität veränderten sich im Kraftfeld des «Unmittelbaren», das als solches freilich keine politische Kategorie ist, von |32| dem aber auch die Spitzensätze im ersten «Römerbrief» (1919) über «die sozialistische Kirche in einer sozialistisch gewordenen Welt»48 Begründung und Prägung erfahren. Es ist offensichtlich, dass wir mit einer dritten Phase zu rechnen haben – oder, um ein bedeutungsvolles Wort aus der politischen Diskussion jener Jahre aufzugreifen, das auch in der Interpretation der Barth-Texte noch eine bedeutsame Rolle spielt: mit einer «zweieinhalbten» Phase, in der zunächst eben das «Unmittelbare» und dann, wie vorhin berührt, das Ungesagte und Unaussagbare in den Mittelpunkt rückt, das in beiden, im Sozialismus wie im Christentum, das Entscheidende ist, in dem sie sich verbinden und zusammengehören – aber freilich nur, sofern jede ihrer Aussagen auf das Ungesagte darin bezogen bleibt.

III.

Barth hat den besonders interessanten Übergang innerhalb der ersten Phase von der allgemeinen positiven Würdigung der sozialen Bewegung zur aktiven Sympathie in «genauerem Überlegen und Studieren» in Briefen aus dem Dezember 1913 anschaulich gemacht. An Wilhelm Loew schreibt er am 15. Dezember 1913:

«Der Sozialismus hat dies Jahr, zunächst in mir selbst, stark überhand genommen. Ich kann dir nicht ausführen, wie es so gekommen ist, ich spüre nur, dass eine innere Konsequenz mich dieser Sache zuführt. Die Verhältnisse in meiner Gemeinde tragen mehr indirekt dazu bei, ausschlaggebend ist mir das, was ich langsam erstudiere auf diesem weiten Gebiet. Du würdest mich von einer kuriosen Literatur umgeben finden hier. Die Theologie schiebt sich bedenklich in den Hintergrund; ich fürchte, die Sache über die Persönlichkeit Gottes, die jetzt dann einmal in der Z. Th. K. erscheinen soll49, wird für längere Zeit mein letztes derartiges Wort sein. Im Sommer las ich Troeltschs Soziallehren, sonst nur noch Gelegentliches und Zeitschriften. Auch da werfe ich auf Neujahr noch Ballast über Bord, das biedere ‹Kirchenblatt› und die schweizer. theol. Zeitschrift. Dafür bin ich nun Leser der ‹Gewerkschaftl. Rundschau›, des ‹Textilarbeiters›, eines Konsumvereinsblattes u. einer Bauernzeitung.» |33|

«Dass ich die Gemeinde nun mit entsprechenden Predigten überschwemme, das brauchst du deshalb nicht zu befürchten. Immerhin wurde die Haltung entschiedener, in Verbindung mit etwas lebhafterer Abstinenzpropaganda noch dazu. (Wir hatten am 24. August einen kantonalen Abstinententag mit ca. 1200 Besuchern hier, der viel Rumor machte.50) Leider wurde das in den freisinnigen Kreisen der Gemeinde unangenehm empfunden, stärker als ich es mir vorstellte. Vor 4 Wochen etwa brach der Sturm los». «Unseligerweise standen gerade die Wahlen in die Ortskirchenpflege und in die Synode bevor. Da entstand nun ein grosses Getümmel, das noch nicht einmal beendigt ist. Zunächst hielt ich eine Predigt, in der ich beschrieb, was eine Kirchenpflege sein u. leisten sollte.51 Gegenchoc: Bildung eines freisinnigen Ortsvereins, der dem Anschein nach neutral sein sollte, in dem aber gleich in der ersten Sitzung die Arbeiterpartei wüst majorisiert wurde, sodass ich mit dieser protestierend das Lokal verlassen musste.52 Nun bildeten sich im Nu zwei Gruppen: Ortsverein, Lehrer, Wirte, Fabrikanten etc. gegen Arbeiter, Abstinenten, Pfarrer!»

«Die dadurch bewirkte Geisterscheidung war wie ich glaube, nötig u. nützlich; es musste nun einmal der hinterste Mann in der Gemeinde Stellung nehmen und es hat mich gefreut, dass ausser den Arbeitern auch Bauern und Handwerker offen auf unsre Seite getreten sind. Es war trotz Allem Kleinlichen u. Lächerlichen, das natürlich mitunterlief, doch ein Kampf um eine Idee, der aufweckend gewirkt hat, wenn auch etwas viel Konflikte aufs Mal zum Platzen gekommen sind. Wie schwer es für mich ist, in diesen Gegensätzen, an denen ich so stark beteiligt bin, als Pfarrer die gerade Linie beizubehalten – […] – das kannst du dir denken.»

Ich habe diesen Brief, dem andere Briefe und autobiographische Bemerkungen zur Seite zu stellen wären, etwas ausführlicher zitiert, weil in ihm deutlich wird, wie eng für Barth – und gewiss nicht nur für ihn – in dieser Zeit die Abstinentenbewegung und die soziale Bewegung verzahnt waren. Auslöser für Barths aktive Beteiligung am sozialistischen Kampf war offenbar zunächst die Reaktion der Freisinnigen auf die Agitation der Abstinenten. Ebenso auffällig ist, dass der politische Kampf für die Sache der Arbeiterpartei zunächst in Auseinandersetzungen um die Kirchenwahlen ausgetragen wurde. Das sind ungemein wichtige gegenseitige Abhängigkeiten und Beeinflussungen, von denen sich einiges in den Texten des vorliegenden Bandes spiegelt, vor allem in den Artikeln und Aufrufen zur Spielbankenfrage, die dadurch zusätzliches Gewicht bekommen. |34|

IV.

Diese Interaktionen und Interferenzen, die eine genauere Untersuchung verdienten, spiegeln die grosse grundsätzliche Korrelation, auf die auch die Formulierung meines Themas mit dem Bild aus Barths Brief an Thurneysen vom 11. November 191853 vom abwechselnden Brüten über der Zeitung und über dem Neuen Testament anspielt. Fragen wir, ob sich auf dem kirchlich-theologischen Feld eine ähnliche Entwicklungslinie zeichnen lässt wie auf dem politischen, so ist zunächst festzuhalten, dass Barths theologische Produktion nicht versiegte, wie er es im Brief an Loew jedenfalls für eine gewisse Zeit in Aussicht stellte. Freilich: Der Doppelschlag misslang, mit dem er im November 1915 auf die Sackgasse aufmerksam machen wollte, in die nach seinem Urteil Kirche und Theologie geraten waren: Der «Antrag betr. Abschaffung des Synodalgottesdienstes» vom 11. November 1915 wurde nur von wenigen verstanden, der besonders gegen den Repräsentanten der Schweizer liberalen Theologie Paul Wernle gerichtete Basler Vortrag «Kriegszeit und Gottesreich» vom 15. November 1915 erwies sich als «Schlag an die Wand»54, wie Barth es selbstkritisch ausdrückte. Aber es ist doch deutlich, dass Barth in diesem Vortrag mit den zwei Sätzen «Welt ist Welt»55 und «Gott ist Gott»56 den Ausgangspunkt und den Ariadnefaden für die weitere theologische Arbeit gefunden hatte57, die sich offenbar nicht |35| zuletzt im Blick auf das sozialistische Engagement als notwendig erwies und die zu den programmatischen Vorträgen und Aufsätzen der Folgejahre und zu den beiden Auslegungen des Römerbriefes führte.

 

Gerade im durchgängig polemisch gegen Wernle gerichteten und ganz im Gegensatz zu ihm entwickelten Vortrag «Kriegszeit und Gottesreich» macht Barth klar, dass alle anerkannten Wertinstanzen: Philosophie, Ethik, Staat, Sozialismus, Pazifismus und auch das Christentum, wie im Weltkrieg auf bittere Weise manifest wurde, deshalb keine überlegene schöpferische Position darbieten und eröffnen können, weil sie auf das Denken und Handeln im Gegensatz und in Gegensätzen fixiert sind und fixieren. Darin erweisen und vollziehen sie alle ihre sterile unfruchtbare Wahrheit: Welt ist Welt. Gott ist jedoch nicht aus einem Gegensatz zu begreifen, sondern nur aus seiner eigenen souveränen schöpferischen neuen Wirklichkeit: Gott ist Gott. Darauf kommt alles an, das ist die letzte Not und die letzte Aufgabe, dass wir uns unter und über und in allen Gegensätzen dem sich selbst setzenden, sich selbst beweisenden, d. h. sich selbst offenbarenden Ursprung zuwenden. Diese nicht leere, sondern in sich erfüllte, lebendige Tautologie «Gott ist Gott» erkennen und bekennen – das heisst: Glauben. Und «je wirklicher unser Glaube wird, desto weniger fragen wir überhaupt, wie wir uns morgen u. übermorgen halten sollen […]. Wir denken u. reden u. handeln dann einfach von Schritt zu Schritt so, wie wir müssen.»58

Kein Zweifel: Hier hatte Barth, in wenige Sätze zusammengefasst, die Grundlage, den Quellpunkt gefunden, von dem aus nun eine neue Hermeneutik, Theologie und Ethik zu entwickeln waren, die gerade nicht zu einer «Apokalyptik schroffster dualistischer Art» gerieten, wie Wernle als Hörer des Vortrags meinte.59 Die «Vorträge und kleineren Arbeiten 1914–1921» dokumentieren, wie Barth diese Aufgabe Schritt für Schritt in Angriff genommen hat, obwohl er von solchen «Expeditionen» wie der Rede in Basel zunächst Abstand nehmen wollte.60 |36|

V.

Der erste dieser Schritte liegt im Vortrag «Die Gerechtigkeit Gottes» vom 16. Januar 1916 vor. Barth hat den Einsatz, den er hier beim Gewissen nimmt, später als verfehlt bezeichnet.61 Dennoch bleibt der Text ein eindrucksvolles Manifest dessen, worauf Barth nun – und man kann wohl sagen: für alle seine weitere theologische Arbeit – hinauswollte.62 Wenn wir glauben, d. h., wenn wir «still werden und Gott mit uns reden lassen», dann bekommt das Leben «seinen Sinn wieder, das Leben des Einzelnen und das Leben im Ganzen»:

«Wirkliche Liebe, wirkliche Wahrhaftigkeit, wirklicher Fortschritt werden möglich, ja Moral und Kultur, Staat und Vaterland, sogar Religion und Kirche werden jetzt möglich, jetzt, erst jetzt! Eine weite Aussicht tut sich auf für die Zukunft.»63

Mit diesen Bemerkungen werden manche Kontroversen der Folgejahre – insbesondere wichtige Punkte in der Barth-Harnack-Kontroverse von 1923 – von vornherein überholt. Ebenso bedeutsam erscheinen mir die Schlusssätze, weil sie den ja vorhin schon berührten Gedanken der unterschiedlichen Zeiten in der Geschichte Gottes mit den Menschen anschlagen, der Barth in allen Stadien seiner theologischen Arbeit grundlegend wichtig gewesen ist:

«Es wird sich zeigen, ob die Erschütterung des Turmes von Babel, die wir jetzt durchmachen, stark genug ist, um uns dem Weg des Glaubens ein klein wenig näher zu bringen. Eine Gelegenheit dazu ist jetzt da. Es kann sein, dass es geschieht. Es kann aber auch sein, dass es nicht geschieht. Früher oder später wird es geschehen. Einen anderen Weg gibt es nicht.»64 |37|

Noch bestimmter und konkreter ist dieser Gedanke der Unterscheidung der Zeiten in Barths Vortrag «Religion und Leben» vom 9. Oktober 1917 zu greifen. Barth führt da aus – und die Namen der unterschiedenen Zeiten sind hier nun ebenso wichtig wie diese Unterscheidung selber: Es hat «auch ganze Zeiten» gegeben: «Pauluszeiten, Franziskuszeiten, Lutherzeiten, wo es wie der Schimmer von einem grossen, allgemeinen Merken durch ganze Völker lief. Und es ist mir, gerade die heutige Zeit müsste nun eigentlich viele aufrichtige Menschen förmlich zwingen zum Merken und Merkenwollen.»65 Es wäre ein lohnender Gegenstand einer determinatio magistralis, darzulegen und «festzulegen», wie die Unterscheidung der Zeiten Barths Theologie im Ganzen sachlich und methodisch prägt. Videant magistri!

Der Vortrag über «Religion und Leben» ist für uns aber auch deshalb besonders wichtig, weil hier der Schlüsselbegriff dieser Phase zentral entfaltet und in dem im Titel angedeuteten Gegensatz erhellt wird: der Begriff «Leben». Das Verhältnis von Religion und Leben wird als kontradiktorischer Gegensatz begriffen, wenn es heisst: «Der Fluch ist die völlige Lebensfremdheit dessen, was man Religion heisst. Die Erlösung ist das Leben selbst.»66 Damit ist freilich noch kein Ausweg aus der Aporie der Gegenwart gezeigt, sondern eine Aufgabe gestellt – die Aufgabe, darum zu ringen,

«das Leben (das Leben in der Welt und das Leben in der Bibel!) selber erst zu sehen, zu verstehen, zu begreifen. Die Not der Welt so anzuschauen, dass ich davon reden kann als von meiner eigenen Not, und den Sieg und die Freude in der Bibel so, dass ich davon zeugen kann als Einer, der nicht nur davon gelesen, sondern der sie als Wahrheit gehört und gesehen hat.»67

Mit der Aufgabe dieser «inneren Arbeit» ist jedoch auch schon die Verheissung verbunden: «Wir werden das Leben sehen, und wir werden dann auch einmal vom Leben zeugen dürfen.»68 Fast im Gestus der Propheten (Jes 9,1!) spricht Barth seinen Zuhörerinnen und Zuhörern Trost und Mut zu: «Ich sehe von weitem ein grosses Licht. Wir brauchen uns nicht zu fürchten.»69 |38|

VI.

In dem im gleichen Jahr 1917 zu Weihnachten erschienenen Predigtband von Barth und Thurneysen, der unter den sachlich höchst bezeichnenden Titel «Suchet Gott, so werdet ihr leben!» gestellt war, ist die zugleich «ontologische und axiologische Grundkategorie»70 «Leben» immer präsent, so wie sie dann auch durchgehend den ersten «Römerbrief» bestimmt, der zu Weihnachten 1918 herauskam. Allein im fünften Kapitel kommt dort Leben als Verb und als Substantiv mehr als 60-mal vor. In der Auslegung von Röm 5,1 schreibt Barth: «In Jesus ist die ursprüngliche, für uns aber neue Natur der Dinge in Gott wieder erschienen, bricht auf, quillt, überströmt, teilt sich mit, will Alles, was ist, hineinziehen in den Rhythmus der ewigen Lebensbewegung, von Gott her, zu Gott hin. […] Kraft dieser ewigen Bewegung, die in Jesus aktuell geworden ist, die aber alle Vorgänge des natürlichen und geschichtlichen Lebens diagonal durchschneidet als das Leben im ‹Leben›, wird jene neue Ordnung, der ‹Friede mit Gott› geschaffen.»71

Die Herkunft des hier in Anführungszeichen gesetzten «Lebens», d. h. aber des «natürlichen und geschichtlichen Lebens», das vom emphatisch so zu nennenden ursprünglichen Leben «diagonal durchschnitten» wird, erklärt Barth in seiner Auslegung von Röm 5,12 ganz in den Bahnen Hermann Kutters so:

«Es gibt nur eine Sünde: Das Selbständigseinwollen des Menschen Gott gegenüber. Aus der Unmittelbarkeit des Seins mit Gott fällt der Mensch heraus. […] Er stellt sich betrachtend und beobachtend neben das Leben. […] Er steht nun wirklich neben dem Leben, ausser Gott und darum nicht mehr unter der Ordnung des göttlichen, sondern unter der ebenso systematischen und folgerichtigen Unordnung des widergöttlichen Daseins.»72

Diese Unordnung, dieses in Anführungszeichen zu setzende «Leben» durchschneidet die ewige, in Jesus aktuell gewordene Lebensbewegung als «das Leben im ‹Leben›». |39|

VII.

Es ist dieser Gedanke des ursprünglichen Lebens im natürlichen Leben, des Unmittelbaren im abgeleitet Vermittelten, in dem sich für Barth in dieser Phase Christentum und Sozialismus selbstverständlich begegnen sollten und finden müssten – so fraglos-selbstverständlich, eins in einer Sache, wie Barth es so weder in den vorangehenden noch in den folgenden Jahren ins Auge gefasst und behauptet hat. In den umfassenden Darlegungen über «Die Zukunft des Christentums und der Sozialismus» vom Sommer 1917 führt Barth aus: Im Urteil über den Sozialismus sind nicht entscheidend die Ideen, die Menschen, die erreichten Erfolge. Entscheidend ist vielmehr: Hier brachen «Kräfte» «auf u. wurden wirksam, die das moderne Christentum aller Schattierungen nicht hat», die aber, «wie wir aus dem NT wissen[,] gerade das Wesentliche im Reiche Gottes» sind.73

«Nur ein Seufzen u. Schreien ist eigentlich das Wesen des Sozialismus, ein hilfloses Ringen des Menschen mit den unpersönlichen Mächten dieser Welt, weil er ein Mensch sein[,] weil er leben möchte der tötlichen Umklammerung des Mammon u. einer mammonistischen Gesellschaftsordnung zum Trotz, ein unpraktisches, ratloses, phantastisches Hungern u. Dürsten nach Gerechtigkeit [vgl. Mt. 5,6] […]. Das ist der Sozialismus – nicht mehr als das – aber das ist er.»74

«Dieses Unmittelbare im Sozialismus, […] das ist seine Kraft»75 – seine göttliche Kraft, müssen wir präzisieren. Denn «das Unmittelbare, das wir darin spüren», ist «der göttliche Stoss, der da wieder einmal aus der Tiefe gekommen ist ganz abseits von allem religiösen Wesen»76, aber innerlich zusammengehörig mit dem Evangelium, das als «Kraft Gottes» (Röm 1,16) «ein Stoss aus der Tiefe» ist «gleichsam, zur Erneuerung u. Errettung der Kreatur, geführt von dem Gott[,] der sich selber u. darum auch seiner Welt treu bleibt»77. Dass dieser Stoss im gegenwärtigen Christentum anders als im Sozialismus nicht als Kraft spürbar ist, hat seinen Grund darin, dass die Christenheit das Anklopfen des Gottesreiches

«einfach nicht verstand, sondern sich schleunigst allerhand selbstgestellten Privat- u. Spezialproblemen zuwandte, die an sich wohl wichtig u. nötig wären[,] |40| aber nicht für sich[,] sondern nur im Zusammenhang der Gesamterneuerung des Lebens u. der Welt aus den Kräften Gottes, die der Sinn des Evangeliums ist»78.

Diese Kritik an der Desorientierung der Christenheit hat neben dem spezifischen auch noch einen generellen Sinn, den wir notieren müssen, weil er die für Barth entscheidend wichtige Umkehrung des Paradigmas betrifft, in dem Theologie und Kirche gewöhnlich das Verhältnis von Gott und Welt begriffen haben. Barth bringt die Umkehrung, die er den beiden Blumhardts verdankt, 1919 anlässlich der Gegenüberstellung von Friedrich Naumann und Christoph Blumhardt in einem Doppelnekrolog so zum Ausdruck:

«Die kirchliche Auffassung [sc. von der Naumann ausging], dass die Welt im Grossen und Ganzen im Argen liege [vgl. 1Joh 5,19] und liegen bleibe, während allerdings im einzelnen durch die Religion manches gemildert, erleichtert und verbessert werden könne, kehrten sie [sc. die Blumhardts] gerade um: Es gibt im einzelnen auch ohne Religion viel Gutes und Hoffnungsvolles, viele Gleichnisse des Göttlichen in der Welt, sie bedarf und harrt aber im Ganzen einer durchgreifenden Erlösung und Neuordnung, nicht durch Religion, sondern durch die realen Kräfte Gottes.»79

 

Die Hoffnung, die in dieser Umkehrung der herkömmlichen Vorstellung von Gott und Welt wirksam ist, würde Robert Spaemann vielleicht auch einen «fast schon ruchlosen Optimismus»80 nennen. Ohne diese Hoffnung ist Barth aber nicht zu denken. Deshalb musste davon hier die Rede sein.