Theologie im Umbruch

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Während Barths «neue Theologie» um 1915 durch einen kritischen Bezug auf den institutionellen Sozialismus geprägt sei und systematisch mit einer spezifischen Form des «Realismus», einer spezifisch modernen, objektiven Theozentrik sowie theologischer Religionskritik einhergehe, sei es insbesondere die kaum ausgebaute Christologie, die den Unterschied der Blumhardt’schen Eschatologie zur paulinischen Apokalyptik der späteren Phase markiere. Diese Ablösung gehe im Tambacher Vortrag auch mit dem Wegfall der organischen Metaphorik einher, die noch die Erstfassung des «Römerbriefs» prägte. An deren Stelle trete die Auferstehung als Gravitationszentrum der Theologie Barths, die es ihm auch erlaube, eine neue Fassung des Begriffs der «Unmittelbarkeit» zu entwickeln. Die Zweitfassung des «Römerbriefs» sei schliesslich von einer voll entwickelten paulinischen Apokalyptik geprägt – wobei McCormack auf den ursprünglichen, offenbarungstheologischen Wortsinn rekurriert und die Auferstehung Christi in den Mittelpunkt einer in erster Linie kosmologischen Apokalyptik rückt. Gerade hierin habe Barths Auslegung auch der gegenwärtigen englischsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft einige, durchaus schulbildende Impulse gegeben, obgleich sie, hinter den soteriologisch-apokalyptischen Ausführungen der «Kirchlichen Dogmatik» noch zurückstehe. |18|

Welchen zeitdiagnostischen und zeittherapeutischen Sinn solche an Katastrophensemantiken orientierten Barth- und Bibellektüren vor dem Hintergrund aktueller sozialer, kultureller und kirchlich-religiöser Auseinandersetzungen in den heutigen USA haben könnten, ist insbesondere von aussen schwer zu beurteilen.

Wenn es für die USA zumindest sehr wahrscheinlich ist, solche Zusammenhänge anzunehmen, muss bezüglich vieler anderer Länder diesbezüglich nicht spekuliert werden. Gut begründet dürfte die Vermutung sein, dass die Tatsache, dass Barths Theologie sich in intensiver Auseinandersetzung mit weitreichenden und tiefgehenden Modernisierungskrisen entwickelt hat, für Theologinnen und Theologen in vielen Ländern und Weltgegenden, die – anders als West- und Mitteleuropa – von massiven Schüben solcher Krisen auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis in die unmittelbare Gegenwart hinein massiv geschüttelt wurden, einen wichtigen Grund oder Hintergrund für ihr Interesse an gerade dieser Theologie bildet.

In diesem Sinne exemplarisch für eine solche kontextuelle Lektüre von Karl Barths früher dialektischer Krisentheologie steht in diesem Band der Beitrag des südafrikanischen Theologen Dirk Smit. Sein Beitrag wendet sich am Beispiel seines eigenen Landes und dessen konfliktreicher jüngerer Geschichte direkt den Lektüremöglichkeiten der «Krisentheologie Barths in Kontexten radikaler Transformation» zu. Dabei weist er ausdrücklich auf die verschiedenartigen Schwierigkeiten hin, der die Rede von einer Barthrezeption ausgesetzt ist.

Smit unterscheidet vier Krisen, welche die südafrikanische Gesellschaft im 20. Jahrhundert durchlebt habe, und weist auf die sehr unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Weisen hin, wie in jeder dieser Perioden auf Barth zugegriffen wurde: im Widerstand gegen die Etablierung der Apartheid, im Kampf gegen die Apartheid, im Übergang zum demokratischen Rechtsstaat sowie in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise. Diese Differenzierung ist daher unerlässlich, weil erst die Aufmerksamkeit auf den jeweiligen engeren Rezeptionskontext es erlaube, den Modus der Rezeption in einer funktionalen Perspektive zu betrachten. Zugleich ermögliche der Durchgang durch die bisherigen Barthrezeptionen, die Frage nach der werkgeschichtlichen Kontinuität in Barths Denken neu aufzurollen – und, mit Blick auf die Gegenwart, den Zugriff auf die neu veröffentlichten Texte aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg in den Modus kritischer Selbstreflexion zu überführen.

Obwohl die Niederlande mit Südafrika geschichtlich eng verbunden sind, könnten die beiden Länder hinsichtlich ihres gegenwärtigen gesellschaftlichen Modernisierungs-, insbesondere auch hinsichtlich ihres Säkularisierungsgrades (um den Begriff für einmal ganz cum grano salis zu gebrauchen) gewiss |19| kaum unterschiedlicher sein. Vor diesem Hintergrund leuchtet es unmittelbar ein, dass der niederländische Systematische Theologe Cornelis van der Kooi, Mitherausgeber der neuen Edition von Barths zweitem «Römerbrief», dieses «Jahrhundertbuch» vor allem als theologische Antwort auf eine tiefgehende und gesamtgesellschaftliche Säkularisierungserfahrung deutet.

Die in den Niederlanden seit den 1960er Jahren noch einmal dramatisch fortgeschrittenen Säkularisierungs- bzw. Entkirchlichungsprozesse betrachtet er darum auch als Kontrastfolie für die aus seiner Sicht zumindest in Teilen erstaunlich positive Rezeption der Neuedition der Zweitfassung des Römerbriefkommentars in der weltlichen Presse seines Landes. Auf der Basis solcher Eindrücke geht er der Frage nach, warum insbesondere dieses Buch Barths eine so vergleichsweise breite aussertheologische Rezeption erfahren habe. Neben manchen Gemeinsamkeiten, welche die gegenwärtigen mit den historischen Rezeptionsbedingungen verbänden, legt van der Kooi Nachdruck auf Barths Beitrag zur Schärfung der hermeneutischen Fragestellung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts sowie seine Bedeutung für die Formulierung einer alteritätstheoretisch orientierten Theologie.

Im Unterschied zu van der Kooi verfolgt der in Essen lehrende Systematische Theologe Folkart Wittekind, wenn das plakative Labelling erlaubt ist, nicht eine säkularisierungs-, sondern eine individualisierungstheoretische Interpretation der modernen Theologie, insbesondere derjenigen von Karl Barth. Seine zahlreichen eindringlichen früheren Analysen der Theologie Karl Barths führt er im vorliegenden Beitrag durch eine Studie weiter, die, wie bereits erwähnt, Barths zweiten «Römerbrief» in die kunsttheoretischen Debatten seiner Zeit, näherhin in die Debatten um religiöse Kunst, einordnet. Dies ist bisher, so weit wir sehen, noch nirgends unternommen worden.

Als Beleg für einen expliziten Brückenschlag zwischen den religionsphilosophischen und den kultur- und kunsttheoretischen Diskursen der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs zieht Wittekind zunächst Paul Tillichs Überlegungen zu den Möglichkeiten einer Kulturtheologie heran, um Barths Text daraufhin vor dem Hintergrund der kunstphilosophischen Ausführungen Georg Simmels nach seinen religionsphilosophischen Implikationen zu befragen. Während für Tillich die Expressionismusdebatte von unmittelbarer Bedeutung für die Entwicklung seiner religionsphilosophischen Formel des «Gott über Gott» geworden sei, sei für Georg Simmel die Kunstphilosophie einer derjenigen Rahmen, innerhalb derer er seine Theorie religiöser Individualität illustrieren und präzisieren konnte.

Massgeblich ist für Wittekind dabei die Funktion der Inhalte der Kunst, die ihrerseits als Interpretament der Geltung (religiöser) Gewissheit zu stehen kämen. Barths Religionsbegriff stelle sich vor diesem Hintergrund als Steigerung der Reflexionshöhe des religionsphilosophischen Diskurses dar, |20| der in der Betonung der Alterität des Gegenstandes religiöser Sprache die reflexive Funktion des Objektbezugs für den Ausweis der Geltung der Struktur des religiösen Bewusstseins als genuin theologischen Beitrag zum Religionsdiskurs und zugleich als dessen Modernisierungsprogramm in Stellung bringe.

Damit leistet Wittekind einen Beitrag zu einer kulturtheoretischen Barthdeutung, der vom Objektbezug religiöser Sprache abstrahiert und diese als Ausdruck des reflexiven Umgangs mit ihren Produktionsbedingungen interpretiert. Barths Theologie wird damit ansichtig als in hohem Masse reflexiver Ausbau neukantianischer Theorieelemente, die in ihrer kritischen Wendung des Religionsbegriffs gerade auf dessen Überbietung abziele. Aufzuklären, inwieweit diese ebenso anspruchsvolle wie luzide Interpretation dem «biblischen Realismus», der – unerachtet ihrer kunstvollen dialektischen Reflexionslogik – die Phänomenalität des «Römerbriefs» wie auch all seiner späteren Texte bestimmt, gerecht wird, muss weiterer Forschung vorbehalten bleiben.

Abgerundet, oder besser: über den Tellerrand des Untersuchungszeitraums hinaus geöffnet wird der Band durch den Beitrag des Saarbrücker Systematischen Theologen Michael Hüttenhoff. Seine Ausführungen über die «Kirchliche Opposition im Streit» beschäftigen sich mit Barths Verhältnis zur Bekennenden Kirche und ihren führenden Vertretern. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Vorworte, die Barth für die «Theologische Existenz heute!» 1933 und 1934 schrieb. Anhand der Äusserungen Barths zur Lutherfeier 1933 analysiert Hüttenhoff die umstrittene Stellung Barths innerhalb der kirchlichen Opposition und seine Reaktionen darauf. Dabei stehen Barths Kritik an der Theologie (die Hüttenhoff auf der Linie seiner Polemik gegen die natürliche Theologie bzw. den Neuprotestantismus interpretiert) sowie der s. E. unrechtmässigen Übernahme der Kirchenleitung durch die Deutschen Christen im Vordergrund, die ihn zugleich in eine kritische Position gegenüber der Jungreformatorischen Bewegung, aber auch innerhalb des Pfarrernotbunds brachte. Hüttenhoffs konzise Mikroanalyse zeigt Barths Dialektische Theologie in der dramatischen Phase der gesamtgesellschaftlichen und humanitären Krise, die der nationalsozialistische Staat zu diesem Zeitpunkt noch nur Deutschland brachte. Sie zeigt die «Dialektische Theologie in Scheidung und Bewährung» (Walter Fürst). Ob die Scheidungen, die Barth in dieser Phase oft auch gegenüber engeren Weggefährten aus grundsätzlichen theologischen Erwägungen meinte vornehmen zu müssen, der politischen und ethischen, aber auch theologischen Bewährung seiner Theologie in allen Fällen wirklich dienlich waren, – dies zu beurteilen muss, wie vieles andere auch, ebenfalls der weiteren Forschung vorbehalten bleiben. |21|

 

3. Dank

Die Herausgeber danken zunächst der Autorin und den Autoren dafür, dass sie ihnen ihre Beiträge für diesen Band überlassen und dabei teilweise einige Geduld bewahrt haben.

Dass die betreffenden Anlässe, aus denen der Grossteil der Beiträge hervorgeht, möglich wurden, ist vor allem der Förderung und Unterstützung der Karl Barth-Stiftung und namentlich ihrem Präsidenten, Dr. iur. Dr. theol. h. c. Bernhard Christ, zu danken. Ihm bzw. ihr danken wir auch für einen namhaften Beitrag zur Deckung der Druckkosten des vorliegenden Bandes. Ebenfalls danken wir dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) für einen Beitrag zur Förderung der Tagung vom November 2012.

Die redaktionelle Bearbeitung dieses Buchs ist grossenteils von Tanja Manz, Julia Vitelli sowie Paul Schalck geleistet worden, denen für ihre vielfältigen Mühen und beständige Unterstützungsbereitschaft besonders gedankt sei. Schliesslich, aber nicht zuletzt danken wir dem Theologischen Verlag Zürich in der Person von Lisa Briner sowie von Stephan Landis, deren geduldige Begleitung und freundliche Kritik dem Text viel Gutes getan und diesem Buch nun endlich zu seiner Veröffentlichung verholfen haben. Sie bewahren auch in dieser Hinsicht aufs Beste das Erbe ihrer Vorgängerin, der so früh verstorbenen Marianne Stauffacher, der wir auch an dieser Stelle noch einmal in grosser Dankbarkeit und Anerkennung gedenken möchten.

Basel, im Oktober 2014

Georg Pfleiderer und Harald Matern

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I.

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«Abwechselnd über der Zeitung und dem Neuen Testament brütend». Themen und Probleme in Barths «Vorträgen und kleineren Arbeiten 1914–1921»

Hans-Anton Drewes

Die Dramaturgie des Symposiums, in dem der nachstehende Beitrag seinen Sitz im Leben hatte, hatte für das erste Referat eine Einführung in Barths «Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921» vorgesehen, denen die Konferenz insgesamt gewidmet war.12

Wenn wir uns zum Vergleich an den Studienbetrieb der Hohen Schulen des Mittelalters erinnern, die doch ein bleibendes Modell der universitas magistrorum et scholarium darstellen, wäre meine Aufgabe also die des baccalaureus, der zu einer quaestio disputanda Fragen und Antworten, traditionelle und womöglich auch neue, zusammenzutragen und zu ordnen und das Für und Wider dieser oder jener Problemlösung zu besprechen hatte, um so die determinatio magistralis vorzubereiten. |26|

I.

Gewiss wird es heute mehrere solche determinationes magistrales geben. In jedem Fall hat die vorbereitende Sammlung von Perspektiven und Aspekten jetzt mit der Formulierung der Disputationsfrage zu beginnen, die in unserem Fall also wohl hiesse: «Utrum doctrina Barbae in tempore Safenviliensi sit doctrina dialectico-theologici socialismi.»13 Und die erste Angabe, der erste Schritt zur Beantwortung dieser Frage müsste traditionsgemäss lauten: «Videtur quod non», es scheint so, dass Barths Denk- und Lehrform in der Safenwiler Dekade nicht die Denkform eines dialektisch-theologischen Sozialismus gewesen sei.

Als einen ersten Beleg für diesen Eindruck möchte ich, um gleich mitten in die Sache zu springen, den kurzen Text anführen, den Barth mit «Sozialismus und Kirche» überschrieben hat. Barth sagt hier einerseits, er sei «mehr Pfarrer als Sozialist», andererseits, er sei «auch Sozialist wenigstens». Die Stichworte, die Barth sich wohl für eine Aussprache im Safenwiler Arbeiterverein notiert hat, erläutern dieses «mehr» und dieses «auch wenigstens» so: Das «Unausgesprochene» im Sozialismus ist gerade das Wesen des Sozialismus, und deshalb ist hinter und über dem Parteiprogramm von der Bibel zu reden – von der Bibel, die aber in der kirchlichen Tradition entleert worden ist; deshalb ist im gleichen Vorgang ebenso umgekehrt von der Bibel, von der Theologie her auf den Sozialismus Bezug zu nehmen, um die einseitig geistige, die einseitig moralische, die insgesamt zu wenig radikale Auffassung und Wahrnehmung der Bibel zu korrigieren.

Friedrich-Wilhelm Marquardt, dessen ich auch an dieser Stelle mit aufrichtigem Dank gedenken möchte, hat diese Notizen in den Zusammenhang der thematisch ähnlichen Vorträge über «Religion und Sozialismus», «Krieg, Sozialismus und Christentum» und über «Christus und die Sozialdemokraten» gestellt und entsprechend in die Jahre 1915/1916 eingeordnet. Das ist gewiss sehr erwägenswert. Trotzdem stellt sich hier eine Frage: Denn zum einen ist das Schriftbild z. B. der Ausführungen über «Krieg, Sozialismus und Christentum» vom 14. Februar 1915 doch deutlich anders als das der Notizen über «Sozialismus und Kirche».14 Zum andern aber und vor allem: Die Stichworte über «Sozialismus und Kirche» sind auf der Rückseite eines Textentwurfs notiert, dessen Schrift ebenso wenig oder noch weniger |27| der von 1915/1916 gleicht.15 Die Gedankenmotive in diesem Textfragment erinnern an die Predigt, die Barth am 26. Oktober 1919 gehalten hat.16 Das gibt uns einen Orientierungspunkt.

Gemeinsam ist dem Textfragment und der Predigt die Unterscheidung von drei bzw. vier Zeiten: Das Textfragment unterscheidet sie deutlich als erste, zweite und dritte Zeit. Soviel aus den wenigen Zeilen – in Barths an Thomas von Aquins «littera inintelligibilis» erinnernder Schrift – zu entnehmen ist, sind sie im Blick auf die Frage unterschieden, «die verborgen im Herzen der Menschen lebt»; die dritte Zeit, «in der wir daran denken müssen», wird der ersten gegenübergestellt, in der wir daran denken – vielleicht akzentuiert Barth: «noch daran denken» –, und der zweiten, in der wir nicht daran denken – vielleicht: nicht daran denken wollen. Vermutlich hatte Barth zuvor, auf der nicht erhaltenen oberen Blatthälfte, davon gesprochen, dass wir in Beziehung auf die Lebensfrage auch in der ersten und der zweiten Zeit leben. «Die gegenwärtige Zeit» ist, «aufs Ganze gesehen», jedoch «jedenfalls dritte Zeit»: «die Zeit der offenen, der brennenden Frage», in der «viel Sicherheit, viel Befriedigung, viel Gerechtigkeit» dahin ist; aber gerade da «fängt das Leben an».

Wenn es sich hier wirklich um ein Fragment aus dem ersten Anlauf zur Predigt vom 26. Oktober 1919 handelte, dann wäre er wohl kassiert worden, weil Barth die Kennzeichen und das Verhältnis der drei Zeiten noch genauer ausarbeiten wollte. In der Predigt, wie sie dann gehalten wurde, kehren viele Motive aus dem Textfragment wieder: «Die grosse, brennende Frage unserer Zeit, die wie ein Erdbeben durch alle Herzen hindurchgeht», die nun bestimmter gefasst wird als die Frage: «Wo ist Gott in der Menschenwelt?»17; die Menschen, die «sehnsüchtig» geworden sind18, die «erwacht sind und nun wachen müssen»19, über die die «Unruhe» gekommen ist20, die «ganz am Anfang des Lebens stehen».21 Vor allem kehrt die Unterscheidung der Zeiten wieder – nun aber zunächst konzentriert auf den Gegensatz von unserer Zeit22 und der Zeit vor dem Krieg23, der jedoch charakteristisch differenziert wird: zunächst durch die Feststellung, dass in der |28| Vorkriegszeit Gott «überflüssig» wurde, indem die Menschen dieser Zeit und des in ihr sich zusammenfassenden Zeitalters, die «im Grossen Ganzen mit sich selbst und mit dem Leben fertig» waren, «allerdings auf die Frage kommen» mussten, «ob es einen Gott gibt»24. Aus der Zeit eines nicht problematisierten Glaubens geht also die Zeit des Zweifels an Gott hervor.25 «Unsere heutige Zeit» ist aber nicht nur durch einen «Rest» «in uns allen» mitbestimmt, «in dem wir auch noch vor dem Krieg sind»26. Sie ist auch, in einer gegenüber dem Fragment genauer zu unterscheidenden Analyse, als die Zeit gesehen, die von der Frage nach «Gott in der Menschenwelt» «bewegt ist oder doch im Begriff steht, nun an diese Frage heranzukommen»27. Sie steht vor der Entscheidung, das «Rätsel» jener Frage ernst zu nehmen. «Von dieser Entscheidung wird es dann abhängen, ob der Verheissung, die wir heute unzweifelhaft haben, die Erfüllung folgen kann.»28 Es sind also vier Zeiten, die in verschiedener Aktualität, in Potenz und Latenz, die Gegenwart von 1919 bestimmen: die Zeit des Glaubens, die Zeit des Zweifels, die Zeit der Verheissung (die in der offenen Frage gegeben ist) und die Zeit der Erfüllung. Die Zeit der Erfüllung ist noch nicht Gegenwart. Aber sie «wird kommen». «Denn wenn es mit der Frage: Wo ist Gott? wieder ernst werden wird unter uns, dann wird auch die Antwort da sein.»29 Wenn die Antwort aus der Frage selber entspringt, dann ist klar, dass schon in dieser dritten Zeit «Ungläubige» wie «Gläubige», die «drinnen» und die «draussen» – eben in der offenen, brennenden Frage – in einer seltsamen bedeutungsvollen Weise zusammengehören.30

Der genauere Blick auf das Textfragment und auf die Predigt vom 26. Oktober 1919 war nicht nur für den Versuch einer chronologischen Einordnung der Stichworte über «Sozialismus und Kirche» notwendig. Er war |29| auch schon ein erster Schritt in den Ideenzusammenhang, in den sie gehören. Wenn der Text auf der Rückseite von «Sozialismus und Kirche», wie ich vermuten möchte, aus einem ersten, dann verworfenen Anlauf zur Predigt vom 26. Oktober 1919 stammt, dann gehören die Notizen über «Sozialismus und Kirche» in die Zeit nach Ende Oktober 1919 – also vielleicht in den November 1919, in dem Barth am 18. einen Diskussionsabend im Arbeiterverein Safenwil hatte und am 29. November in Suhr die Ansprache zur Novemberfeier des Grütlivereins hielt. In dieser Rede weist Barth unter dem Titel «Vom Rechthaben und Unrechthaben» den Sozialisten die stellvertretende Rolle derer zu, die prinzipiell «unrecht haben», weil sie «das grosse Unrecht der Welt, der Gesellschaft, der Menschen» in sich haben «wie ein Feuer»31. Deshalb sind sie «unruhige, unbefriedigte Menschen», «die immer murren und klagen müssen gegen das, was jetzt ist», «die immer nach etwas fragen und suchen müssen, was es in der Welt offenbar gar nicht gibt»32. Den für den Sozialismus, den er ihm Blick hat, wesentlichen Bezug auf das Ungesagte, Unaussagbare macht Barth in einem Bild klar, das sich tief einprägt:

«Wir meinen ja eigentlich gar nicht das, was in den Forderungen unseres Programmes steht, wir meinen viel mehr als das. Unsere sozialistischen Forderungen […] sind ja nur die paar ersten Worte einer fremden Sprache, die wir unablässig wiederholen müssen, weil wir die übrigen noch nicht wissen.»33

Die «unmögliche Hoffnung», die in der Welt, wie sie ist, immer Unrecht haben muss, entspricht der «Notwendigkeit der geschichtlichen Stunde, in der die Menschheit heute steht»34. Deshalb dürfen die Sozialisten «nicht aufhören, die zu sein, die immer unrecht haben. Wir müssen Sozialisten bleiben.»35 «Um der Bürgerlichen selbst willen dürfen wir nicht bürgerlich werden.»36

«Wir müssen das Opfer bringen, die zu sein, die immer Unrecht haben. Denn erst wenn der Mensch weiss, dass er im Unrecht ist, kann der Tag des Rechtes anbrechen auf der Erde, der Tag des Advents, der Zukunft des neuen Menschen, |30| des Menschensohnes [vgl. Lk. 17,22], der das Unmögliche möglich macht – der Tag, dessen wir warten.»37

 

Insbesondere im Licht dieser Schlussworte des Suhrer Vortrags erscheint Barths Sicht- und Denkweise doch kaum als ein «dialektisch-theologischer Sozialismus», sondern eher als eine negative Theologie, die Sozialismus und Christentum in der Negation, in der Bezogenheit auf das Unausgesprochene und Unaussprechliche, auf das «ganz andre»38 zusammenschliesst.