TEXT + KRITIK 227 - Lukas Bärfuss

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Judith Gerstenberg

Trotzdem Laudatio zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2019 an Lukas Bärfuss 1

»Das Abenteuer«, schrieb der heute zu Ehrende vor vielen Jahren, »das Abenteuer ist es, ein Leben zu leben. Die Vereinzelung, die Absonderung passiert früh genug, von sich aus, ohne Zutun. Doch jetzt gilt es, mit dieser menschlichen Gesellschaft zu koexistieren und das heißt: Ich muss die Gesellschaft studieren. Nur was man nicht kennt, schmerzt.«

Jemand, der sich diese Aufgabe stellt, weiß um den Abgrund, er spürt die Angst, dass das Abenteuer, ein Leben zu führen, misslingen könnte. Lukas Bärfuss notierte die eben zitierten Sätze vor zwanzig Jahren in einem Brief, gerichtet an die damalige künstlerische Leitung des »Theater Basel«. In ihm ließ er der Verzweiflung eines jungen Autors freien Lauf, der nicht wusste, wovon er leben sollte, wenn sein Stipendium ausläuft und auch seiner Empörung über den Totenkult, mit dem sich seinerzeit die Kulturspalten der Zeitungen füllten, den Totenkult um eine Selbstmörderin, eine Dramatikerin seines Jahrgangs. Die Nachrufe, die man lesen konnte, labten sich am lustvollen Schauder, der Menschen ergreift, wenn sie erkennen, noch einmal davon gekommen zu sein. Da hatte jemand, der dem Schmerz und der Gewalt auf der Bühne Ausdruck gegeben hatte, seine Glaubwürdigkeit mit dem Tod bezahlt.

Diesen Opfergang wollte Lukas Bärfuss nicht antreten. Er wäre wohl auch ohne Wirkung geblieben. Er räsonierte: »Hätte ich mich in diesem Landhaus, wo die Stipendiatswohnung untergebracht war, aufgeknüpft, hätte es vielleicht eine Notiz in der Lokalzeitung gegeben, und die Empörung sich darin erschöpft, dass es nicht meine Wohnung und ich dort nur Gast, und: ein Stock tiefer ein Kindergarten war.« So ungleich, ahnte er, wären Pathos und Prosa verteilt. Er entschied sich den Weg in die Gegenrichtung anzutreten und schreibend in der Welt anzukommen.

Seine ungeheure Produktivität – er veröffentlichte seither 26 Theaterstücke, drei Romane, zwei Essaybände, Erzählungen, Hörspiele, Reden, Artikel – kommt nicht von ungefähr. Das Schreiben ist ihm Instrument, die Welt zu greifen, ihre Zusammenhänge zu erkennen, Orientierung zu finden – vielleicht dadurch auch Halt. Er ändert dafür immer wieder den Rahmen, die Genres, spielt virtuos mit verschiedenen Stilen, doch die Suchbewegung ist die gleiche, sie richtet sich darauf, den Abgrund zu überbrücken, die deutlich empfundene Differenz zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft.

Dem von mir erwähnten Brief war eine Skizze beigelegt, für die Lukas Bärfuss auf einen Stückauftrag hoffte. »Meienbergs Tod« sollte der Titel lauten, der nicht zufällig an einen Titel desjenigen erinnert, zu dessen Ehren heute der Preis vergeben wird.

Das Thema dieser Skizze war überraschend, wie so oft bei Lukas Bärfuss. Es lag nicht in der Luft und wartete darauf erlöst zu werden. Doch schon damals merkten wir – und das lag an diesem Brief –, dass man dem analytischen Blick dieses Autors für Stoffe unbedingt folgen sollte. Er sieht früher als andere, was uns beschäftigen müsste. Und: Das Thema, das er jeweils in ihnen findet, ist selten das, was man selbst vermuten würde, zeigen sie sich doch an ihrer Oberfläche harmlos, alltäglich. Erst durch seine Hinwendung öffnet sich die eigentliche Dimension, die beunruhigt, weil sie tiefer an das eigene Selbstverständnis rührt, als man wahrhaben oder auch zulassen möchte. Denn Lukas Bärfuss misstraut dem Umstandslosen, er ist ein scharfer Beobachter, begabt mit einer außerordentlichen Sensibilität für offene Situationen. Mit seinem bisherigen Werk hat er bereits eine umfangreiche Topografie der unbeantworteten und unbeantwortbaren Fragen unserer Zeit erstellt. Er ist auf der Suche nach Wahrhaftigkeit, nicht ohne gleichzeitig die Sorge durchblicken zu lassen, dass er dem, was er finden würde, womöglich nicht gewachsen ist. Doch zunächst zurück zu jener Skizze, jenem Stückentwurf »Meienbergs Tod«, den er nach Basel sandte und in dem sich ein Thema ankündigte, das Bärfuss durch sein Leben begleiten wird.

Der titelgebende Niklaus Meienberg war die Schweizer Ikone des investigativen Journalismus. Er war ein Störer in der Öffentlichkeit, ein Begehrender im Privaten, ein berserkerhafter Regel- und Selbstverletzer, dessen auffahrendes, autoritäres Gehabe seinen propagierten Überzeugungen gänzlich zuwiderlief. Er hatte sich schon zu Lebzeiten demontiert, wund gekämpft, litt am Ende unter psychotischen Schüben. Schließlich schluckte er Rohypnol. Zum Zeitpunkt von Bärfuss’ Vorschlag war diese streitbare Figur der jüngeren Generation – also uns – gerade noch ein Begriff. Eigentlich schon am Vergessenwerden, denn der übliche Ablauf von Verklärung und Entzauberung hatte schon stattgefunden.

Bärfuss bediente sich jedoch eines ästhetischen Mittels der Distanzierung, ließ Zeit und Raum sich krümmen bis sich verschiedene Erzählebenen berührten und neue Bedeutungsräume öffneten: Eine Schauspieltruppe, kostümiert als Dantonisten, war beauftragt, Szenen aus dem Leben dieses revolutionären Journalisten zu spielen. Doch keiner wollte seine Rolle übernehmen. – Es sei daran erinnert, dass um die Jahrtausendwende bereits das Ende der Geschichte ausgerufen worden und das öffentliche Engagement nicht in Mode war. – In der Bühnengegenwart der Truppe entbrannte eine heftige Diskussion über Politik, Moral und öffentliches Bewusstsein, bis einer der ihren mehr und mehr in Vehemenz, Hybris, Selbsthass mit der Rolle dieses Meienberg verschmolz. Unerträglich für die anderen, gegen die dieser Spieler wütete und die gemeinsame Unternehmung verunmöglichte. Am Ende waren diese erleichtert über dessen Tod und schickten ihm nach: »Du glaubst eine Berufung zu haben und früher waren wir eifersüchtig auf deine Leidenschaft im Stil, jetzt sind wir froh, davon verschont geblieben zu sein. Denn wir kennen vielleicht noch das Wie, doch das Wozu haben wir vergessen.«

Es ging Lukas Bärfuss nicht um Meienberg. Es ging ihm um die Gesellschaft, die ihn umgab, ihre Hilflosigkeit im Umgang mit diesem Menschen, mit der Abweichung von der Norm und ihre Hilflosigkeit im Umgang mit den eigenen Überzeugungen, es ging ihm um sich als Teil von ihr.

Lukas Bärfuss selbst ist alles andere als ein Pöbler. Es handelt sich bei ihm vielmehr um einen Menschen, der seine Worte mit großer Bedachtsamkeit abwägt, der langsam spricht, den Gedanken ertastend, dem Gewicht des einzelnen Ausdrucks nachspürend, der keinen Satz zu viel sagt und keinen zu wenig, dessen Äußerungen druckreif sind.

Seine Behutsamkeit resultiert aus seinem distanzierten Verhältnis zur Sprache, die er zuallererst als Beobachtungsfeld, als gesellschaftlichen Raum begreift. Es gibt ja keine Sprache außerhalb der Diskurse, keinen Ort, an dem sie dem permanent drohenden Konformismus mit der Macht entgehen würde. Es gibt sie nicht, heißt das also, die eigene Sprache. Sie ist immer fremd, immer Konvention. Dieser durchaus schmerzlichen Nichtverfügbarkeit für das Eigene liegt die Erfahrung des Einzelnen zugrunde, in seinen Empfindungen und Triebfantasien sprachlos zu sein.

Daher schaut Bärfuss in seinen Texten auf den Ausstoß unserer Gesellschaft, ihre öffentliche Rede, ihre Festlegungen, ihre Argumentationslinien und sucht dabei nicht das Geheimnis hinter den Dingen, sondern darin, wie sie sich dargestellt wissen wollen. Er erforscht das systematisch. Zuerst im Theater.

Nicht umsonst zählt er unterdessen zu den wichtigsten und erfolgreichsten Dramatikern, die wir haben – er wird hierzulande und auch international gespielt. Er sucht die Bühne auf als öffentlichen Ort für Experiment und Erfahrung. Sowohl im Theater als auch in der Gesellschaft geht es um Zuschreibungen, Verabredungen, Akzeptanz – und um Verwandlung. Daher bietet es die einzigartige Möglichkeit, die Mechanismen des menschlichen Zusammenlebens zu untersuchen. In der Öffentlichkeit, als gemeinsames Erlebnis, als geteilte Erfahrung.

Zuerst unser Verhältnis zur Sprache: So wie die Schauspieler fremden Text lernen, um sich auszudrücken, so tun wir das außerhalb der Bühne auch. Wir sprechen eine Sprache, die bereits definiert ist, in die wir hineingeboren wurden. Diese Künstlichkeit betont Bärfuss. Die Sprache, die seine Figuren sprechen, ist klar und grundsätzlich. In der Erarbeitung während der Proben erweist sich: Es ist kaum möglich, sie sich improvisierend anzueignen, jedes hinzugefügte Wort, jedes Füllsel stört. Umformulierungen rächen sich spätestens im Folgesatz, Auslassungen auch. Bärfuss verweigert zudem die psychologische Ausstaffierung seiner Figuren. Er hält das nicht für wirksam. Es würde auch ablenken vom Wesentlichen, nach dem er sucht.

So hält er auch die Szenen seiner Stücke knapp, sie gleichen Tableaus, die unaufgeregt, sachlich, einen Konflikt zur Betrachtung freigeben. Oberflächlich haben Bärfuss’ Texte tatsächlich einen undramatischen Duktus. Doch in den Zwischenräumen brodelt es. Die Problematik, die sich in ihnen sukzessive auseinanderfaltet, zielt auf die Kernfragen der Moderne: Wie lieben, wie sterben, wie glauben wir, wie erinnern wir, wonach richten wir uns in unserer säkularisierten Gesellschaft, deren höchster Glaubensartikel der freie Wille ist, die persönliche Freiheit? Bärfuss begegnet diesen Fragen dialektisch, mit einem Denken, das gerade das Aufdecken von Ambivalenzen und Widersprüchen zum leitenden Motiv hat. Die Sachlichkeit im Duktus löst interessanterweise Aggressionen aus. Oftmals fühlt sich das Publikum provoziert, weil es gewahr wird, dass uns die Ideen, die wir uns über uns als Gesellschaft gemacht haben, am Ende nichts nützen werden.

Tatsächlich zielen Bärfuss’ Stücke auf Erkenntnisgewinn. Sie gleichen Laborversuchen. Er steckt sich jeweils ein Untersuchungsfeld in Raum und Zeit ab, so groß beziehungsweise so klein, dass es die Beobachtung zulässt. Er nimmt das Einzelne, Konkrete und studiert seine Voraussetzungen. Er lässt sich nicht täuschen von den unausgesprochenen Übereinkünften, die das geheime Regelwerk unseres Zusammenlebens ausmachen. Gerade sie sind es, die er untersucht – immer auch, um herauszufinden, wo er selbst sich befindet. Sein Blick ist dabei durchaus ein liebender, ein faszinierter. Er staunt darüber, wie unsere Gesellschaft funktioniert, mehr noch: er staunt darüber, dass dieses überaus komplexe Gefüge überhaupt funktioniert. Dieses Staunen verdankt sich dem Blick für die Gefährdung. In ihr entdeckt er enormes dramatisches Potenzial. Und darum baut dieser Dramatiker die Ausgangssituation seiner Stücke auch sehr präzise. Er fängt den Moment ein, in dem das Gleichgewicht kurz davor ist aus dem Lot zu fallen. »Mit den ersten Repliken sollte das Stück determiniert sein«, ist er überzeugt. »Der Stein ist geworfen und ich muss nur noch schauen wie er fällt.«

 

Im Zentrum vieler seiner Stücke stehen Figuren, die noch nicht in der Welt angekommen sind. Ist man ihnen einmal begegnet, verlassen sie einen nicht mehr. Und zwar nicht, weil sie einem so nahe gekommen wären, sondern weil man sich in ihrer Gegenwart fremd geworden ist. Die eigene Fremdheit in der Welt wird bewusst, die Fragilität, die dem sozialen Zusammenhang innewohnt.

Da ist zum Beispiel Dora aus »Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« – sie soll hier beispielhaft für andere stehen. Dora ist jenes Mädchen, das ein Haarbreit nur neben unserer Welt liegt. Sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Ihre Mutter möchte ihr zukünftig ohne Sedierung durch Medikamente begegnen. Damit fängt das Stück an. Was folgt, ist der schwierige Prozess einer Menschwerdung. Da Dora nicht in den Rastern der normalen Kommunikation funktioniert, Situationen nicht antizipieren kann, entwickelt sie ein System sprengendes Potenzial, das selbst die liberalste Gesinnung überfordert. In der Folge erlebt sie, dass sie nicht frei über sich verfügen kann und man entdeckt, dass es einem selbst letztlich auch so ergeht, weil sich erst durch persönlichen Verzicht, durch Unterwerfung in einer Gesellschaft leben lässt. Sozialisation, das zeigt dieses Stück, lässt sich nicht lehren, nur lernen. Wir fühlen uns provoziert, weil der Diskurs, den wir zu führen gewohnt sind, in den konkreten dargestellten Situationen versagt. Unser Selbstbild kollidiert mit unserem Handeln. Und anders als unser liberales Selbstverständnis behauptet, sehen wir auch, dass wir nicht in der Lage sind, Widersprüche auf lange Sicht zu ertragen. Wir sehen uns stattdessen mit der Frage konfrontiert, was schließlich passiert, wenn die Geschichte, die wir uns von uns erzählen, nicht passt, wenn wir gewahr werden, dass die fremdeste Geschichte von allen diejenige ist, von der wir glauben, es ist die eigene. Die Antwort ist, so die Beobachtung: Gewalt. Gewalt, die Anpassungsprozesse erzwingt.

Lukas Bärfuss zeigt in seinen Stücken keine Fälle – das ist manches Mal ein Missverständnis –, sondern protokolliert, welches Gesicht sich ein Problem in der öffentlichen Diskussion gibt. Und er protokolliert das Dilemma, in das sich unsere Gesellschaft hineinmanövriert mit ihrem unaufhaltsamen Bestreben, für alles eine Lösung zu finden. Darin steckt die befreiende Komik seiner Texte. Das Lachen ist ihm wichtig. Als revolutionäre Kraft und als erkennende.

Da Dichtung – Schreiben und Sprechen überhaupt – nicht denkbar ist ohne ihre Prägung durch das konkrete Subjekt in seinem Gezeichnetsein durch die ihm eigene Erfahrung, erlauben Sie mir bitte einen kurzen Exkurs in seine Biografie: Lukas Bärfuss ist 1971 in Thun, einer kleinen Garnisonsstadt in der Schweiz, geboren. Die Familienverhältnisse waren schwierige, die Schulzeit ungeliebt und kurz, er lebte zuweilen auf der Straße, lebte vom Mundraub. Tätigkeiten als Gabelstaplerfahrer, Eisenleger, Gärtner und Lohnarbeiter eines Tabakbauern stehen in seinem Lebenslauf. Aber es ist nicht geraten, diese Zeit zu stilisieren. Die Arbeitsbereiche für einen Ungelernten waren der Not geschuldet. Schließlich – ein Märchen: Ein Mitarbeiter einer Entrümpelungsfirma überließ dem Obdachlosen das Lexikon eines Verstorbenen, dessen Haushalt gerade aufgelöst wurde.

Lukas Bärfuss’ Bildungshunger erwachte, systematisch arbeitete er dieses Lexikon durch, von A bis Z, fand zu den Büchern, fand zur Literatur als Gegenort, als Ort des Möglichen, des Nicht-Tatsächlichen, von dem aus das Tatsächliche in den Blick genommen werden kann, als »Rastplatz der Reflexion«, wie einmal der Sozialphilosoph Oskar Negt den gesellschaftlichen Wert der Literatur, des Theaters, der Kunst überhaupt beschrieb. Bärfuss las und las, suchte die klassischen Grundtexte unserer Zivilisation auf und entwickelte das untrügliche Gefühl, dass diese Lektüren mit seinem eigenen Leben zu tun haben. Er begann die Zeit zu vermessen zwischen dem Damals und Heute und untersuchte, was geblieben ist und was sich verändert hat. Er absolvierte eine Buchhändlerlehre und beschloss Schriftsteller zu werden, und er ist, wenn man ihm glauben darf, noch heute überrascht, dass diese kühne Behauptung gesellschaftliche Akzeptanz erfahren hat.

Und genau darum geht es Lukas Bärfuss fortan auch in seinem Schreiben: um gesellschaftliche Zuschreibungen, Verabredungen, Akzeptanz und natürlich – die versteckte Gewalt, die davon ausgeht und Fluchtversuche provoziert, die besonders in Bärfuss’ Prosa Thema sind. Seine drei Romane sind so stark, so konzentriert, so intelligent entwickelt, dass ich an dieser Stelle darauf verzichten muss, sie in der Kürze der mir gegebenen Redezeit anzureißen. Ich kann sie nur jedem anempfehlen und ich hoffe, in dieser Laudatio eine Spur für ihre Lektüre zu legen, denn auch sie handeln von jenen Verhaltensparadoxien.

Vielleicht verdankt sich die geschärfte Beobachtungsgabe für die blinden Flecken in unserem Selbstverständnis dem Parzival’schen Blick – eines, der verspätet in die Gesellschaft integriert wird, der die Sozialisation erst im jungen Erwachsenenalter nachholt und daher diesem Gemeinwesen gegenüber, bei dem er um Aufnahme ersuchte, die Distanz behält. In »Parzival«, einem dieser Grundtexte, sieht Bärfuss den Urkonflikt des Schriftstellers verhandelt, der sich einerseits danach sehnt, Teil jener Gesellschaft zu sein, die er beschreiben möchte, der sich wünscht, mitten in ihr zu stehen, von allem berührt zu werden, die größtmögliche Zeitgenossenschaft und Durchlässigkeit zu haben – der aber andererseits für und durch seine Arbeit als Dichter eine Distanz aufbaut. Dichtung, so Bärfuss, sei nur möglich in diesem Widerspruch.

Vielleicht ist es diesem verspäteten Einstieg in die Bildung auch zu verdanken, dass wir es bei diesem Autor mit einem so eigenständigen, unkorrumpierbaren Denker zu tun haben, der sich die Zeit nimmt, die es braucht, alles selber zu durchschreiten, sich selber zu erarbeiten, schreibend. »Was die Welt sagt und was in den Büchern steht, das kann nicht maßgebend für mich sein. Ich muss selber nachdenken, um in den Dingen Klarheit zu erlangen.« Diese letzte Replik aus Ibsens »Nora« zitiert Bärfuss oft und meint sich selbst. Er riskiert Umwege, viele, aber keine Abkürzung.

Die Gesellschaft, die Öffentlichkeit – Sie merken: ich reite ein wenig darauf herum – ist sein Thema. Und: Er meidet sie nicht. Im Gegenteil. Tatsächlich ist er ein brillanter »Öffentlichkeits-Arbeiter«: in seinen Reden, Vorlesungen, seinen hellsichtigen Essays lässt er uns explizit teilhaben an seinen Bildungsprozessen, den Entwicklungen seiner Fragestellungen.

Jeder Auftritt, jedes Buch, jede seiner Veröffentlichungen liest sich als die Fortsetzung eines Gesprächs, für das er mich, den Leser, Hörer, Zuschauer als Gegenüber sucht und – deswegen fühlt man sich wohl in seiner Nähe – in all seinen Irrtümern ernst nimmt. Bärfuss’ Texte sind adressiert, da spricht jemand, der Austausch sucht. Auch deshalb kann man sich ihnen nicht entziehen. Sein unumstößliches Vertrauen in das Gelingen einer Gedankenarbeit, die ihre Kraft aus sokratischer Selbstbefragung bezieht, ist sehr tröstlich und emanzipiert sein Gegenüber, das er darin einbezieht. In diesem Sinne ist Bärfuss ein Aufklärer, denn Aufklärung ist ein Modus des Denkens und, wie wir wissen, etwas Unabschließbares. Er hört nicht auf zu fragen: Was bedeutet das? Wer hat die Deutungshoheit – über die Gesellschaft, über sich selbst, sein Leben, seine Rolle?

Es geht ihm aber auch um die Möglichkeiten der Veränderung, eben jene Verwandlung, für die Bärfuss das Theater so liebt, das Verwandlung zeigt und Verwandlung ermöglicht. Es geht ihm um die Möglichkeiten der Veränderung auch außerhalb des Theaters. Er ist wahrhaft ein zoon politicon, ein politischer Mensch, der das Gemeinwesen zum Hauptgegenstand seiner Untersuchungen und – das ist herauszuheben – seines Handelns macht: Als Vater seiner Kinder und als Bürger eines Staates.

Daher scheut er auch nicht die Einmischung: 2015 zum Beispiel, vor den Schweizer Parlamentswahlen, veröffentlichte er in der »FAZ« einen eindringlichen Warnruf, der auf den Rechtsruck der Medien seines Landes aufmerksam machte, auf die Auswechslung von unliebsamen Journalisten in den Redaktionen, die bis dahin weitgehend unkommentiert geblieben war. Was darauf folgte war ein Sturm der Entrüstung. Man warf ihm Paranoia vor. Sein Schriftstellerfreund Pedro Lenz hatte ihm noch zugerufen: »Ich warne Dich vor der Rache derer, die Du herausforderst. Sie werden Dich plagen und anonyme Hassmails schicken. Auf Dich als Person werden sie zielen, so wie es die Intellektuellen-Jäger der ›Weltwoche‹ schon vorgemacht haben.« In den zahllosen sich anschließenden Interviews sah man Lukas Bärfuss denn auch seine Sehnsucht an, an den Schreibtisch zurückkehren zu dürfen, doch betrachtet er den unbotmäßigen Eingriff in die Macht- und Herrschaftsverhältnisse als selbstverständliche Verpflichtung des politischen Intellektuellen.

Übrigens: Das einzige Wort, das Lukas Bärfuss für seine Poetik gelten lassen möchte, lautet: Trotzdem.

1 Gehalten am 2. November 2019 in Darmstadt.

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