Tatort Garten

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Im Geiste ging ich noch einmal alle Vorbereitungen durch. Die Grube im Garten hatte ich seitlich vom Haus anlegen lassen, Rogier musste sie einfach gesehen haben, als er kam. Meine Handtasche mit allen Papieren lag schon darin, die Schuhe und ein leichter Mantel, versteckt unter einer ersten Schicht Erde. Es sollte alles so aussehen, als wäre ich weggegangen. Und nicht mehr wiedergekehrt. Verschollen, irgendwo. Alte Leute gehen ja so leicht verloren. Sollten sie mich woanders suchen. Ausheben lassen hatte ich das Loch von Marian, dem polnischen Schwarzarbeiter, der für den Milchhof arbeitet. Er reiste heute heim und würde erst im Frühjahr zurück sein. Drüben in Kattowitz würde er kaum etwas von meinem Verschwinden erfahren. Und bis er wiederkäme, wäre ich Geschichte und er hätte die Grube längst vergessen.

»So, hier.« Ich stellte die Kekse hin, harmlose Kokosma­kronen. Das Gift war in der Tasse. In der, die jetzt auf meinem Platz stand. Ich konnte es riechen, durch das Rosenaroma hindurch, ich konnte es sehen. Ich trank es in einem Schluck. Aaaah. Ich lächelte Rogier an, der blass und angespannt auf seinem Stuhl saß. Der Arme, aber es war notwendig gewesen.

Selbst durfte ich mich nicht töten. Sie hätten mich abgeholt und auf den Kirchhof gelegt. Aber nun, da Rogier dachte, er hätte mich ermordet, musste er meine Leiche auch verschwinden lassen. Ich hatte ihm ein wenig dabei geholfen und ein Gift gewählt, das deutliche Spuren hinterließ. Der Anblick war nicht schön, würde aber helfen, ihn zu motivieren.

Gleich werde ich Ausschlag bekommen, Schaum vor dem Mund, Krämpfe. Ich werde aufstehen und mit dem Finger auf ihn weisen, werde »Du« keuchen, um ihm den Entschluss leichter zu machen. Ich sehe schon jetzt die Panik in seinen Augen und bin froh. Er ist das nicht gewohnt, das Töten. Er wird nicht die Ruhe bewahren, mir die Decke über die Knie ziehen und einfach gehen. Nein, er wird in Hektik verfallen, ich sehe die roten Flecken auf seinen Wangen. Obwohl er mich hasst, leidet er mit mir. Aber er will davonkommen. Schon schaut er sich um, seine Fingerabdrücke fallen ihm ein. Ein kluger Junge. Das hat Rita auch immer gesagt. Klug, mit leidenschaftlichen Aufwallungen hie und da, aber im Grunde seiner Seele ein Pragmatiker. Sie hatte recht behalten.

Er wischt an den Tassen herum, er trägt sie in die Küche, sehr gut, denke ich, während ich zu Boden gleite. Das schmutzige Geschirr hätte nicht zu der Geschichte gepasst, dass ich ausgegangen bin.

Ich möchte schreien, es brennt so, es brennt. Ach Gott, die Schmerzen. Ich bekomme keine Luft. Und doch: Ich spüre Rogiers Hände, die sich um meine Fußknöchel schließen. Er schleift mich, ich spüre den Teppich unter meinem Rücken, spüre ihn trotz der Krämpfe, fühle die Türschwelle, die Kälte des Steins draußen auf dem Weg. Da ist die »Canary Bird«. Sie blüht nicht mehr. Am Zaun welkt »Robin Hood«. Ich liege im Gras, starre in den Himmel. Ein paar Zweige kann ich erkennen, das muss die »Dorothy Perkins« sein.

Es hat, du holde Wunderblume,

Mein Herz voll süßen Bebens

dich mir gemalt zum Eigenthume

ins Tiefste meines Lebens.

Gemalt? Eingebrannt! Mit dem Brandeisen eingeglüht. Und ich verbrenne, Blut läuft mir aus dem Hals und kühlt doch nicht. Es ist schlimmer, als ich dachte. Oh bitte …

Wo bleibt er nur? Was tut er jetzt? Da: Er holt eine Schaufel, stolpert über die Katze, brüllt vor Zorn. Er erschlägt sie. Schneeweiß, es tut mir so leid. Warum erschlägt er nicht mich?

Lautloses Gebrüll verzerrt meinen Mund, meine Hände greifen um sich, rupfen Halme, mein Brustkorb schwillt, birst. Dann endlich, der Fall. Erde. Wurzeln. Wurzelkinder. Rosenkinder. Sie werden mich halten, mich verschlingen, um mich wachsen, an mir, in mir. Wir werden eins sein. Die Knospen, die im nächsten Jahr aufgehen, über der Katze und mir, rot und weiß, sie werden alle mein Gesicht tragen. Meinen Rosentod.

Wer hat dieser letzten Rose

Ihren letzten Duft verliehn?

Tritt hinaus ins Sonnenlose,

Atme ihn und spüre ihn.

Wie er rot im Offenbaren

Und verschwebender wie Wein

Wesen kündet, die nie waren

Und die hier nie werden sein.

Georg von der Vring

Im Text sind – kursiv gedruckt – einige Zitate verborgen, ohne dass der Autor genannt worden wäre. Sie alle stammen aus Gedichten, die sich auf die eine oder andere Weise der Rose widmen. Hier sind die Nachweise:

Ein neues Leben wird den Geist beschwingen …

Aus: »Aus dem Buchstaben Lam«, von Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (1207–1273)

Ruhig sterb ich so mit dir ...

Aus: »An ein Röschen«, als Autorin angegeben: Fräulein von X. Das Gedicht stammt aus der romantischen Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn von Clemens Brentano und Achim von Armin, veröffentlicht 1805–1808.

Ich lebe hinter einem Rosenwall, und brauche ihre Namen nicht bemühen.

Aus: »Rosenzauber«, von Karl Krolow (1915–1999)

Die klare frische Rosenblüte streichelt …

Aus einem Gedicht im Rosen-Zyklus von Rainer Maria Rilke (1875–1926)

Rosen hab ich aus dem Garten …

Hermann Kasack (1896–1966)

Rosen beschatten alle Hänge ...

Sappho aus Lesbos (* zw. 630 und 612 v. Chr., † um 570 v. Chr.)

Content in a garden, von Candace Wheeler (1827–1923)

Atme von mir den Balsam der Erinnerungen …

Aus: »Die Rosen von Saadi«, von Marceline Desbordes-Valmore (1786–1859)

Gleich der Rose welkt sie hin …

Eigentlich Gleich der Rose welk’ ich hin …, ebenfalls aus: »An ein Röschen«, von Fräulein von X, in Des Knaben Wunderhorn

Wir prangten in Schönheit und wußten es nicht.

Aus: »Rosenlied«, von Anna Ritter (1865–1921)

Oh, wie blühest du so schön …

Aus: »An ein Röschen«, von Fräulein von X, in Des Knaben Wunderhorn

Es hat, du holde Wunderblume …

Aus: »An meine Rose«, von Nikolaus Lenau (1802–1850)

Thomas Kastura – Vollmond über Schloss Fahlenstein

Ein kalter Herbstwind strich durchs Gras. Schroff stachen die Felsen empor und hoben sich in bizarren Linien vom Himmel ab. Wolkenfetzen schoben sich über die blasse Scheibe des Mondes. Für Sekunden wurde es so dunkel, dass Brandeisen gezwungen war, das Licht einzuschalten.

Sie befanden sich tief in der Fränkischen Schweiz. Der Staatsanwalt steuerte seinen schwarzen Citroën XM durch ein verschwiegenes Tal, fernab der Touristenrouten. Die Straße war nur ein schmales Band, beschattet von uralten Bäumen. Hin und wieder erglühte ihr Laub scharlachrot.

Es war ein Abend, wie er ihn schon häufig erlebt hatte. Trotzdem war irgendetwas anders als sonst …

Küps saß auf dem Beifahrersitz und motzte seit der Abfahrt. Erst klagte er über seine zahlreichen Zipperlein – zu hoher Blutdruck, schlechte Zucker- und Cholesterinwerte, die Gicht. Dann verhöhnte er französische Automarken und fingerte mit den Worten »saumäßige Verarbeitung« an den XM-Armaturen herum. Inzwischen machte er sich Sorgen um seine Proteinzufuhr.

»Hoffentlich gibt’s was Gescheites zu essen«, sagte der Kommissar. »Ich hab einen Bärenhunger.«

»Sie werden schon nicht vom Fleisch fallen.«

»Hätten wir den Mann nicht einfach auf die Wache bestellen können? Warum kriegt der eine Sonderbehandlung?«

»Freiherr Ludovic zu Fahlenstein ist nicht irgendwer. Den pfeift man nicht herbei wie einen kleinen Famulus.« Brandeisen schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich habe ihn um seine Expertenmeinung gebeten. Und er ist so freundlich, uns auf seinem Familiensitz zu empfangen.«

»Kennt sich denn im Klinikum niemand mit Blut aus?«

»Auf dem Gebiet der Hämatologie ist der Professor seit Jahrzehnten eine Koryphäe. Er hat bei Vargha in Budapest promoviert, kurz nach dem Krieg. Danach lehrte er in Prag und London.«

»Dieses blaublütige Adelsgesocks! Kein Wunder, dass die von so was Ahnung haben.«

»Solche Unbotmäßigkeiten möchte ich ab jetzt nicht mehr hören«, entrüstete sich Brandeisen. »Mehr Contenance, bitte!«

»Vor Einbruch der Nacht werden wir kaum zurück sein.«

»Der Freiherr hat uns sogar angeboten, im Gästeflügel zu übernachten. Es gilt, das Verschwinden dreier Abiturienten und einer jungen Frau aufzuklären. Stellen Sie sich auf einen längeren Aufenthalt ein.«

Küps schwieg und stierte aus dem Fenster. Verschwundene Schüler! Waren sie das Sozialamt oder was?

Nach einer Kurve kam Schloss Fahlenstein in Sicht. Düster und bedrohlich stand es auf einem Hügel – der aus hellem Jurakalk bestand, daher der Name. Im Grunde sah es aus wie eine Burg mit einem mächtigen Turm in der Mitte, umgeben von einem quadratischen Palas. Die Anlage thronte auf steil abfallenden Felswänden.

Brandeisen bog an einer Einmündung unvermittelt ab. Es gab weder Wegweiser noch irgendwelche Schilder, das Schloss war in keinem Reiseführer erwähnt. Anscheinend legte der Freiherr Wert auf Privatsphäre.

»Vielleicht können wir die Gärten besichtigen.« Ein Versuch, den Kommissar aufzumuntern. »Dafür haben Sie doch ein Faible.«

»Welche Gärten?«

»Unser Gastgeber ist Hobbybotaniker. Am Telefon hat er mir von neuen Sorten und Züchtungen vorgeschwärmt.«

Küps merkte auf. »Was wächst denn da oben?«

»Jede Menge exotischer Gewürzpflanzen. Im Treibhaus, versteht sich.«

»Aha.« Das Interesse des Kommissars war geweckt. Seit Jahren experimentierte er mit Kreuz- und Schwarzkümmel, um seinem selbst gebratenen Schäuferla eine besondere Note zu verleihen. Doch die Setzlinge waren kälteempfindlich und wollten nicht gedeihen.

 

»Gleich treffen Sie einen Seelenverwandten.« Der Staatsanwalt wusste, dass ein »Aha« von Küps ein Höchstmaß an Neugier ausdrückte.

Sie gelangten zu einer Zugbrücke. Die Kettenglieder der Vorrichtung waren mit Stacheln versehen. Brandeisen, seit jeher ein schwungvoller Fahrer, bretterte über die Brücke und schoss durch ein Tunnelgewölbe in den Innenhof. Er stellte den Wagen neben einer alten Kutsche mit Klappverdeck ab. Der Anblick des Gefährts entlockte ihm ein nostalgisches Lächeln.

Langsam fuhr die Zugbrücke hoch.

Die beiden Ermittler hatten sich in Schale geworfen. Küps trug seinen Beerdigungsanzug für alle Gelegenheiten, Brandeisen einen klassischen Smoking mit Kummerbund. Noch bevor er an die eisenbeschlagene Tür des Palas klopfen konnte, schwang sie geräuschlos auf.

Ein Butler von erdgeschichtlichem Alter empfing sie.Offenbar war er stumm. Er nickte und geleitete die Ankömmlinge ins Innere.

Brandeisen hatte schon viele Schlösser gesehen. Doch Fahlenstein setzte allen die Krone auf. In der Halle hingen Gobelins, kunstreich gewirkt und farbenprächtig wie am Tag ihres Entstehens. Komplette Ritterrüstungen zierten die Ecken, poliert und geölt, als stünde das nächste Turnier just bevor. Der Boden bestand aus schwarzem Marmor.

Küps wollte gerade fragen, warum die Wandteppiche schauerliche Folterszenen zeigten. Und warum die Rüstungen große, klaffende Löcher in Brusthöhe aufwiesen – als er ein Geräusch wahrnahm.

Eine Orgel.

Der Butler hatte sich in Luft aufgelöst, also nahmen sie die einzige offen stehende Tür, gelangten in einen schmucklosen, klösterlich anmutenden Gang und folgten den Klängen. Es war das Via Crucis von Liszt, wie Brandeisen sogleich bemerkte, eine musikalische Meditation über die Stationen des Kreuzwegs. Die Halbtonwanderungen der Orgel wirkten einsam und verloren, zerrissen zwischen Kontemplation und dunkler Verzweiflung. Gleiches galt für den Bariton, der in klagendem Tonfall »Ave, ave, crux!« verkündete.

Sie betraten die Kapelle derer zu Fahlenstein. Der Raum besaß nur ein paar schießschartengleiche Fenster knapp unter der Decke und lag im Zwielicht des scheidenden Tages. Kirchlichen Zwecken diente er wohl nicht mehr, da Kreuze und andere christliche Symbole fehlten. Brandeisen bewunderte das gotische Maßwerk, während Küps an seine Ministrantenzeit denken musste und an die Tracht Prügel, als er beim Messweinsüffeln erwischt worden war.

Der Freiherr spielte das Stück zu Ende. Dann stieg er über eine verborgene Treppe von der Orgelempore herab und begrüßte seine Gäste. »Die Herren Gesetzeshüter. Willkommen in meinem Reich!«

Auch er trug einen Smoking. Unter der schwarzen Fliege glänzte ein sternförmiger Orden. Ebenso groß an Wuchs wie der Staatsanwalt wirkte er erstaunlich jung, obwohl er an die neunzig Lenze zählen durfte. Seine Augen waren wach und forschend, die Züge scharf geschnitten. In dem schwarzen, mit Brillantine nach hinten gekämmten Haar zeigten sich allerdings graue Strähnen. Und sein Teint passte zum Familiennamen: fahl wie das Pferd des vierten apokalyptischen Reiters, dem bekanntermaßen die Unterwelt hinterherzieht.

»Welch expressiver Vortrag!« Brandeisen machte einen Bückling. »Liszt ist immer ein faszinierendes Hörerlebnis. Doch kommen die Nuancen des Orgelparts nur durch einen begnadeten Interpreten und ein gutes Instrument voll zur Geltung.«

»Ah, ein Freund der Musik.« Zu Fahlenstein deutete eine Verbeugung an. »Und ein Meister des Kompliments.«

»Gestatten, Brandeisen. Haben Sie Dank, dass Sie uns Ihre wertvolle Zeit schenken.«

Der Freiherr winkte ab. »Die Zeit ist ein endloses Meer. Leider leben nur wenige an ihrem Ufer.« Damit wandte er sich Küps zu. »Dann müssen Sie der Kommissar mit dem grünen Daumen sein.«

»Entschuldigung?«

»Ich weiß alles über Sie, Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Ein Polizist mit Sinn für das Füllhorn der Natur, das ist etwas Besonderes.«

»Na ja …«

»Ich bin gespannt, was ein Fachmann wie Sie zu meinem Mitternachtsgarten sagt.« Mit einer einladenden Geste forderte er die beiden Ermittler auf, die Kapelle zu verlassen. »Das Diner beginnt in einer Stunde. Begleiten Sie mich bis dahin auf einen kleinen Rundgang. Wir haben hier selten Besucher.«

Brandeisen und Küps kamen aus dem Staunen nicht heraus. Das Schloss war wie ein Gemälde, eine dunkle Schönheit, ebenmäßig und elegant, die Handwerksarbeit exquisit. Beim Betreten der einzelnen Räume hatte man den Eindruck, als würden sie nach langem Schlaf zum Leben erwachen und nur zögerlich ihre Kostbarkeiten preisgeben: der Salon mit Louis-XV.-Möbeln, ein Porzellankabinett, das Billardzimmer, die Säbel- und Pistolenreihen der Waffenkammer, eine mit schweren Stoffbahnen verschattete Galerie. Doch im Schein des flackernden Gaslichts war kein Staubkorn oder gar eine Spinnwebe zu entdecken.

»Ist es nicht furchtbar aufwendig, das alles instand zu halten?«, wollte Brandeisen wissen.

»Nicht der Rede wert«, entgegnete der Freiherr. »Heißt es nicht: Tradition verpflichtet?« Er öffnete eine mit Intarsien verzierte Flügeltür und führte seine Gäste in die Bibliothek.

Der Staatsanwalt schnappte schier über. In endlos hohen Zedernholzregalen war hier ein Eldorado des Wissens und der Künste versammelt. Schon ein flüchtiger Blick auf die Buchrücken, etwa auf eine fränkische Rechtsgeschichte des Mittelalters, als Körperstrafen noch eine bewährte, judizielle Praxis gewesen waren, sagte ihm: Wo du bist, will ich bleiben. Und lagen in den Schaukästen nicht Original-Partituren von E. T. A. Hoffmann?

»Möchten Sie ein wenig stöbern?«, fragte zu Fahlenstein.

»Mit dem größten Vergnügen!«

»Dann lassen wir Sie allein. Aber bedenken Sie: Nicht alles, was geschrieben steht, ist für die Augen Sterblicher bestimmt.«

Der Freiherr beschleunigte seinen Schritt, der mehr ein lautloses Dahingleiten war, und brachte Küps zum Wintergarten.

Der Kommissar hatte ein nostalgisches Ambiente erwartet, mit Palmen, Zitronenbäumchen und Rattanmöbeln. Doch fand er sich in einem hochmodernen Gewächshaus wieder: automatisierte Bewässerung, Heizung, Natrium- und Metalldampflampen zur künstlichen Beleuchtung sowie ein Energieschirm, der Wärmeverluste verhinderte und zugleich der Verdunkelung diente. Die Beete befanden sich auf verschiebbaren Rolltischen. Prompt erspähte Küps einen Schwarzkümmel, der gerade in Blüte stand, und nahm ihn näher in Augenschein.

»Schon der Prophet Mohammed schätzte diese Gewürzpflanze«, erklärte zu Fahlenstein. »Schwarzkümmel heilt jede Krankheit – nur nicht den Tod. So ist es überliefert.«

Küps strahlte. Sogleich entdeckte er weitere seltene Kräuter, thailändisches Pfefferblatt, Süßkraut, Weinraute und Gotu Kola, wie auf einem Schildchen vermerkt war.

»Ein Doldenblütler aus Indien. Regelmäßiger Verzehr soll verjüngend auf das Gehirn wirken.« Der Freiherr pflückte ein Blatt und steckte es in den Mund. »Ich gebe davon gern etwas in den Tee.«

»Was soll ich sagen? Respekt!«

»Wir haben auch Pflanzen, die der Gesundheit weniger zuträglich sind.« Sie gingen durch die Kräuterreihen und kamen in die Abteilung der Nachtschattengewächse. »Varietäten der Tollkirsche, Stechapfel, Bilsenkraut. Oder hier, die legendenumwobene Alraune. Ihre Wurzel hat manchmal die Form eines menschlichen Körpers. Sie nur aus der Erde zu ziehen, galt in früheren Zeiten als tödlich.«

Der Kommissar lachte. »Wie ein Hexenmeister sehen Sie mir nicht aus.«

»Ein Gärtner ist auch ein Bewahrer, meinen Sie nicht?« Zu Fahlenstein strich behutsam über die Alraunenblätter und setzte seine Führung fort. »Vermutlich fragen Sie sich, ob ein alter Kauz wie ich überhaupt Verwendung für eine solche Vielfalt an Gewächsen hat. Und wenn Sie es für einen Spleen halten, bekenne ich mich schuldig in allen Punkten der Anklage.« Vor einem weiteren Beet blieb er stehen. »Dies ist mein ganzer Stolz. Die Gattung Capsicum, auch als Paprika, Chili oder Peperoni bezeichnet.«

Chilipflanzen dehnten sich ins Unendliche, mit roten, gelben, grünen, violetten Schoten, in länglicher, bauchiger, konischer Form.

»Wir haben hier die klassische mexikanische Chili beziehungsweise Cayenne. Des Weiteren Kirschpaprika, Piment d’Espelette, Pimenton de la Vera, Habañero, Jalapeño, Thai-Chili, Malagueta aus Afrika. Und natürlich Bhut-Jolokia, die indische Geisterchili. Um nur einige zu nennen.«

Küps war beeindruckt, obwohl er selten scharf aß. Frau Küps verstand es, den Geschmack jedes Gerichts auf ein mehliges Minimum zu reduzieren, deshalb stellte er sich gelegentlich selber an den Herd. Wenn er Lust auf etwas Pikantes hatte, holte er sich ein Pfefferhuhn aus Köttensdorf.

»Ich hoffe, Sie mögen gut gewürzte Kost«, sagte der Freiherr, als hätte er die Gedanken des Kommissars gelesen. »Der Koch wurde angewiesen, für unser Diner ein entsprechendes Menü zu komponieren.«

»Ein ganzes Menü?«

»Aber ja! Scharf ist gesund. Chilis enthalten Capsaicin. Das revitalisiert Zellen, Arterien, Venen und Herz. Es senkt den Blutzuckerspiegel und steigert die Resistenz der Blutkörper gegen Bakterien.«

Küps horchte auf. »Hilft das auch gegen Cholesterin?«

»Gewiss! Verzehren Sie ein bis zwei Schoten Capsicum frutescens am Tag, und Sie fühlen sich gleich besser. Um Gewicht abzunehmen, ist es übrigens ideal, der Metabolismus verbrennt wegen des thermodynamischen Effekts mehr Kalorien.« Der Freiherr machte eine bedeutungsschwangere Pause. »Vor allem hält Capsaicin das Blut flüssig. Es verhindert die Blutklumpenbildung.«

»So ein Mittelchen könnte ich gebrauchen. Das Ergebnis meiner letzten Untersuchung war nämlich … unerfreulich.«

Zu Fahlenstein legte dem Kommissar die Hand auf die Schulter wie ein Arzt, der seinen Patienten beruhigen will. »Mit Capsaicin in den Adern werden Sie ein ganz neuer Mensch. Zum Anbeißen, wenn Sie den kleinen Scherz erlauben.«

»Sie müssen es ja wissen, Herr Professor.«

»Im Ruhestand, mein Lieber, ich bin schon lange emeritiert. Doch manchmal sehne ich mich zurück nach bewegteren Tagen voller Leidenschaft und Gefahr.« Ein wehmütiger Gesichtsausdruck trat auf das Antlitz des Freiherrn, der früher ein großer Herzensbrecher gewesen sein mochte.

Küps dagegen hatte die Leidenschaft an den Nagel gehängt. Er galt nicht gerade als Charmeur, und aufgrund seiner Leibesfülle hielt er seine Anziehungskraft für eingeschränkt.

Er seufzte und blickte zum Dach des Gewächshauses empor. Durch einen Spalt des Energieschirms konnte man den Himmel erkennen. Der Polarstern war aufgegangen, hell, klar und unerreichbar.

Plötzlich wurde er von einem Schwarm Fledermäuse verdunkelt. Mit träge schlagenden Schwingen sanken die Tiere dem Burgfried entgegen.

In der Zwischenzeit studierte Brandeisen eine Faksimileausgabe mittelalterlicher Rechtsgeschichte. Auch er schwelgte in der Vergangenheit. Was waren das für Zeiten gewesen, als man noch guten Gewissens die Abtrennung eines Ohres oder einer Hand anordnen konnte! Als man die Wahl hatte zwischen Peitsche und Stock, selbst für geringe Vergehen wie Husten bei der Gerichtsverhandlung oder Blockieren der Kutsche des fürstbischöflichen Inquisitors. Wenn es diese Strafen heute noch gäbe, liefe der halbe Landkreis verstümmelt herum.

Doch als Libertin des Geistes versagte sich der Staatsanwalt sadistische Neigungen. Er klappte das Buch zu und sah sich weiter um. Bücherwürmer wären imstande, in dieser Bibliothek Wochen zu verbringen ohne sich eine Sekunde zu langweilen! Allein die Barockromane nahmen drei Regale ein.

Zu Fahlenstein schien ein Kenner zu sein. Auch bei den Romantikern war seine Sammlung bestens sortiert. Brandeisen vertiefte sich in die Hymnen an die Nacht: Hinüber wall ich, / Und jede Pein / Wird einst ein Stachel / Der Wollust sein. Ja, dieser Novalis wusste zu dichten!

Weiter ging die literarische Reise. Was für eine Wonne, die Fingerkuppen über altersglatte Buchrücken gleiten zu lassen. Ob zu erspüren war, welche Geheimnisse dahinter schlummerten?

Bei einem leicht hervorstehenden Band blieb Brandeisen hängen. Seltsam. Er versuchte, das Buch herauszuziehen, doch es steckte fest. Zugleich hörte er ein Geräusch, wie von einem aufschnappenden Riegel. Das Regalbrett klappte nach hinten weg, und eine neue, bislang verborgene Bücherreihe kam zum Vorschein.

Nach dem ersten Schreck konnte sich Brandeisen ein sardonisches Lächeln nicht verkneifen. Hatte er den Giftschrank seines bibliophilen Gastgebers entdeckt?

 

Chronik der Herren zu Fahlenstein, las er in geprägter Frakturschrift. Die voluminösen Bände waren von 1 bis 13 durchnummeriert. Den Abschluss bildete ein Opus mit dem schlichten Titel Anonyma. Diesen Band schlug der Staatsanwalt auf – und traute seinen Augen nicht.

Wenn im Turm von Schloss Fahlenstein das Geisterlicht brennt und die Dohlen um die Zinnen und Dächer fliegen, dann kommt Unheil über das Land. Dann geht der Freiherr um und holt sich seine Opfer. Auf dem Schloss kam er einst zur Welt, als Sohn der Kastellansfrau und eines Gastes aus dem Karpatenland, den alle Welt nur unter dem Namen --- kennt. Das Böse wurde dem Adelsspross also gleich in die Wiege gelegt. Als er den Kindern der umliegenden Dörfer die Zähne in den Hals schlug und ihre Schulaufsätze stahl, nagelten ihn mutige Männer an das Schlosstor – mit einem dicken Meißel mitten durch die Brust. Doch sie enthaupteten ihn nicht, und so überlebte er die Zeiten …

Es folgte eine unkenntlich gemachte Stelle. Nach den verderbten Zeilen ging es weiter:

Oh, ihr Unglücklichen, die ihr die Zeichen nicht erkennt! Er ist stärker als ihr! Niemand hält den Freiherrn auf.

Brandeisen sann über diese triviale Schauermär nach. Ob frühere Leser auch schon das empfunden hatten, was Freud als Angstlust bezeichnete?

Da gewahrte er etwas in seinem Rücken. Einen Lufthauch hinter seinem – glücklicherweise unabgetrennten – Ohr.

»Störe ich?«

Er fuhr herum.

Eine junge Frau stemmte die Hände in wohlgeformte Hüften. Ihr Haar reichte weiter hinab, samtschwarz und glatt wie die Rutschbahn zur Hölle. Unter einem akkuraten Pony schwelte ein Blick, der Brandeisen gegen seinen Willen gefangen nahm. Sie trug High Heels und … eine Art Gymnastikanzug. Das bemerkenswerte Textil bestand mehr aus Löchern denn aus eng anliegendem Stoff.

»Kommen Sie vom Sport?«, rutschte es dem Staatsanwalt heraus.

»Stellen Sie das wieder zurück.« Sie wies auf die Chronik. »Onkel Ludo kriegt sonst die Krise.«

»Das ist wohl sein Allerheiligstes?« Er tat, wie geheißen.

»Ich bin Belladonna.« Sie zog Band 13 ein Stück weit heraus. Die Regalreihe klappte nach hinten und tauschte ihren Platz mit den Büchern, die sich zuvor an dieser Stelle befunden hatten. »Und Sie müssen das Richterlein sein.«

»Manchmal auch das.« Brandeisen nannte seinen Namen.

»Schnüffeln Sie ein bisschen herum?« Belladonna lächelte verführerisch und tätschelte die Wange des Staatsan­walts.

»Nichts läge mir ferner!«, stammelte er. »Das war reiner Zufall.«

»Du gefällst mir.« Sie schmiegte sich an ihn und öffnete karmesinrote Lippen, die schmachtend zu nennen exakt der Situation entsprach. »Am liebsten würde ich dich gleich hier vernaschen.«

Nachdrückliches Räuspern. Eine weitere Schönheit betrat die Bibliothek. Sie war eisblond und wirkte strenger als Belladonna, steckte sie doch in einer grauen Uniform, die an den Aufzug einer Militärjunta gemahnte. Ihre Reitstiefel waren auf Hochglanz poliert.

Brandeisen, froh über die Unterbrechung, nahm Haltung an und machte sich bekannt.

»Brunfelsia zu Fahlenstein.« Ein knappes Nicken. »Die Manieren meiner Schwester lassen vor dem Essen leider zu wünschen übrig.« Sie bedachte Belladonna mit einem strafenden Blick. »Es ist angerichtet«, fügte sie hinzu und ging voran.

Wie sich herausstellte, hatte der Freiherr insgesamt drei Nichten, Studentinnen, die vor dem Beginn des Herbstsemesters bei ihm zu Gast waren.

»Familienbande«, sagte er und hob seine Champagnerflöte. »Die jungen Damen halten mich auf Trab, sonst werde ich noch zum Einsiedler. À votre santé!«

Brandeisen und Küps prosteten allen zu. Barbiturata war die Letzte im Bunde, ein ätherisch wirkendes Wesen, dessen rote Haare in Kontrast zu den efeugrünen Schleiern ihres Wickelkleids standen.

Sie hatten im Bankettsaal Platz genommen, am Ende eines unglaublich langen Tisches. Im Kamin prasselte ein Feuer, von der Decke hing das Banner derer zu Fahlenstein: ein undefinierbares Tier, vielleicht ein Löwe oder ein Wolfshund, der seine Fänge in den Rücken eines Wildschweins schlug, nicht unähnlich der Abbildung auf dem Schellen-Ass eines Schafkopfspiels.

Der Butler schob einen Servierwagen herein. Ein buckliger Diener folgte ihm und half beim Auftragen. Als ersten Gang gab es Kürbissuppe mit Milchlammspießen.

Der Schärfegrad machte dem ausgehungerten Kommissar nichts aus. Er schaufelte Löffel für Löffel in sich hinein. Brandeisen rang um Atem, doch seit einem Mexiko-Urlaub konnte er pikanter Cuisine durchaus etwas abgewinnen.

Die drei Nichten rührten die Suppe kaum an. Sie saßen den Ermittlern gegenüber. Brunfelsia beobachtete ihre Schwestern. Barbiturata starrte ins Leere. Und Belladonna hatte merkwürdigerweise nur noch Augen für Küps, der einen höllenscharfen Spieß nach dem anderen verputzte und um Nachschlag bat.

»Eigentlich bin ich Vegetarier«, sagte der Freiherr. »Ich enthalte mich, wie man so sagt.«

»Und das Lamm?«, wunderte sich Brandeisen.

»Nun ja, Schafe sind in der Gegend recht verbreitet. Eine Art Grundnahrungsmittel.« Er warf Brunfelsia einen betretenen Blick zu und wechselte das Thema. »Kommen wir zu diesem Fall, wegen dem Sie hier sind. Was kann ich für Sie tun?«

»Keine große Sache, vielleicht klärt sich alles im Handumdrehen auf.« Brandeisen tupfte den Mund mit einer Damastserviette ab. »Es begann mit dem Überfall auf einen Fahrradkurier. Er transportierte Blutproben mehrerer Bamberger Arztpraxen. Seine Tasche wurde bei einem Zusammenstoß entwendet. Der Kurier prallte mit dem Kopf auf den Asphalt und kann sich an nichts mehr erinnern.«

»Proben, so, so.«

»Namentlich gekennzeichnet, zwei bis zehn Milliliter pro Patient. Sie sollten im Labor an der Promenade analysiert werden.«

»Kleines Blutbild, großes Blutbild, Blutkörperchen-Senkungsgeschwindigkeit«, zählte zu Fahlenstein auf.

»Kurz darauf verschwanden vier Personen, von denen sich Proben in der Tasche befunden haben. Drei junge Männer und eine junge Frau. Sie kamen nachts nicht mehr nach Hause und sind seit einer Woche vermisst.«

»Und weiter?«

»Sie haben alle die gleiche Blutgruppe, AB Rhesus negativ.«

Der Freiherr nahm einen Schluck Champagner. »Interessant. AB Rhesus negativ ist selten. Die Betreffenden besitzen kein Rhesusfaktor-D-Antigen. Es ist vor allem bei Bevölkerungsgruppen verbreitet, die in früherer Zeit isoliert waren. Im Baskenland etwa, oder in der Schweiz.«

»In Amerika und in Ostasien gibt es gar keine Rhesus negativen Ureinwohner«, ergänzte Brandeisen, der sich im Internet schlau gemacht hatte.

»Und Menschen mit diesem Blut werden immer weniger. Es wird nicht dominant vererbt.« Zu Fahlenstein glättete eine Falte im Tischtuch. »Manche Leute halten das für bedauerlich. Sie glauben, AB Rhesus negativ sei besonders rein, unverfälscht. Zu denen gehöre ich natürlich nicht.« Ein Seitenblick zu Brunfelsia, die den Dialog gespannt verfolgte.

»Aber vielleicht wurden die verschwundenen Personen von solchen Leuten entführt«, wagte sich Brandeisen weiter vor. »Von Leuten, die reines Blut schätzen.«

»Wer sollte das sein?«

»Satanisten, Anhänger eines Geheimbunds, eine Vampirsekte. Ich weiß, das klingt abwegig.«

»In der Tat!«

»Heutzutage muss man mit allem rechnen. Ich habe gehofft, ein Mann Ihres Formats wäre auch mit den okkulten Seiten seines Fachs vertraut.«

Das Lachen des Freiherrn hallte im Bankettsaal wider. »Sie haben eine blühende Phantasie, Herr Staatsanwalt. Nicht unsympathisch in diesen geistfernen Tagen.«

Küps war mit der Suppe fertig und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sie haben nicht zu viel versprochen, Eure Exzellenz. Ich spüre schon, wie das Blut in Fluss gerät.«

Zu Fahlenstein nahm den leeren Teller mit Wohlwollen zur Kenntnis. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen.«

»Diese Chilis wirken Wunder.«

»Gäste mit gutem Appetit sind uns die liebsten«, schnurrte Belladonna.