Sternstunden der Wahrheit

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Herzlichen Glückwunsch: Bekotzte Teppichfliese wird dreißig

Herzlichen Glühwurm! Die bekotzte Teppichfliese feiert im Jahr 2000 ihren 30. Geburtstag. Was? Sie verstehen nicht? Wissen nicht, was eine bekotzte Teppichfliese ist? Dann haben Sie noch nie in die Supermarkt-Kühltruhe gegriffen und eine Tiefkühlpizza herausgezogen – die bezeichnet man nämlich im Volksmund als bekotzte Teppichfliese. Selbstverständlich nicht wegen ihres vorzüglichen Geschmackes, sondern wegen reiner Äußerlichkeiten: Die Tiefkühlpizza zum Beispiel von Dr. Oetker sieht schlicht so aus. Spätestens, wenn sie aus dem Ofen kommt. Die Arme feiert also jetzt ihren 30. Geburtstag und hat all ihre Freunde eingeladen: den gefrorenen Quader Rahmspinat, die eisigen Fischstäbchen, das tiefgekühlte Pfannengemüse, das bibbrige Vanilleeis und wie sie alle heißen. Und wie jedes Jahr wird die bekotzte Teppichfliese Seit an Seit mit ihren Gästen regungslos verharren, bis ihr Geburtstag wieder vorbei ist. Und wie jedes Jahr wird die Partystimmung später als »etwas unterkühlt« kritisiert werden. Wenn nicht jemand den Teppich vollkotzt.

(8.11.2000)

Avantgarde der Leidenschaft

Wahre Lokale: Das sandalöse antike Striptease-Restaurant »Pirr« in Moskau

Jahrzehntelang schilderte die sowjetische Presse detailliert und genüsslich, wie die bourgeoise Kultur drüben im Westen schillernd verfault. Wie die Kapitalisten sich verzweifelt mit immer neuen Portionen Sex, Drugs und Rock ‘n’ Roll kaputtmachen, wie sie vergeblich versuchen, damit ihrem sinnlosen kapitalistischen Leben einen letzten Halt zu geben, bevor sie endgültig vom Sozialismus überrollt werden. Der sowjetische Bürger las darüber in der Zeitung, beneidete die Genossen im Westen und trank seinen aidssicheren Wodka in der Küche weiter. Als der Sozialismus dann plötzlich den Geist aufgab, dachten die Russen: Na also! Jetzt werden wir uns wohl auch so toll amüsieren, genauso wie die Kollegen drüben: wilder Sex, laute Musik und teurer Alkohol an jeder Ecke, mit einem Wort – Unterhaltung pur.

Die russischen Experten fuhren sofort nach Europa und Amerika, um alles genau zu studieren. Und schon 1990 stand im Moskauer Park für Kultur und Erholung der erste gepanzerte Striptease-Container. Für 25 Rubel konnte man dort durch das kugelsichere Glas zwei blonden Frauen zuschauen, wie sie sich langsam auszogen und langsam wieder an. Der Container hatte auch ein kleines Loch, gerade so groß, um einen Zeigefinger durchzustecken. Für einige Rubel extra näherte sich eine Stripperin dem Loch, und der Glückliche durfte mit dem Zeigefinger an ihren Brustwarzen knipsen. Immer wieder versuchten besonders schlaue Kunden, auch andere Körperteile in das Loch reinzukriegen. Für solche Fälle stand in dem Container eine Axt in der Ecke, mit der die Frauen virtuos umgehen konnten.

Wenig später eröffneten Dutzende von Striptease-Bars und -Restaurants in der russischen Hauptstadt: Frauen in Unterwäsche und Männer in Badehosen, die alle wie Tarzan und Jane aussahen, drehten sich um Eisenstangen herum und verlangten dafür vom Publikum, dass es ihnen Dollarscheine in die Höschen stopfte. Die Russen hatten sich die süßen Wonnen des entwickelten Kapitalismus irgendwie anders vorgestellt. »Was soll dieser Scheiß?«, fragten sie ihre Unterhaltungsexperten. »Wir habe es genau wie im Westen gemacht«, argumentierten die. »Es sieht aber pissig aus«, meckerten die Russen. Die Experten wurden entlassen, und das Volk nahm die Unterhaltungsbranche selbst in die Hand.

Seit Mitte der Neunzigerjahre entwickelt sich nun eine eigene kapitalistische Unterhaltungskultur in Russland, und das mit großem Erfolg. In der Hauptstadt wird jeden Monat ein neues Striptease-Restaurant eröffnet, und jedes Mal ist es etwas Einzigartiges, wovon der Westen nur träumen kann. Als ich letztens dort war, besuchte ich die Neueröffnung »Antikes Striptease-Restaurant Pirr« in der Nikitskaja-Straße. Zusammen mit den In-Clubs »Imperium der Leidenschaft« und »Nackter Bär« gehört diese Einrichtung zur Avantgarde der postsozialistischen Erotik. Die Haupthalle sah aus wie eine Gruft, war großzügig mit antiken Gegenständen vollgestellt und mit vielen Kerzen ausgeleuchtet. Die männliche Bedienung hatte man als Gladiatoren verkleidet, die weiblichen als Hetären. Das Personal darf sich nicht anders als nur in Reimen äußern.

»Für unsere wertvollen Gäste erfüllen wir jede noch so verrückte Geste«, begrüßte uns eine junge Kellnerin, die eine antike Toga und Sandalen trug, als mein Freund Mischa und ich uns setzten. Mischa hatte gerade eine mehrmonatige Trunksucht hinter sich und war wieder auf wilde Abenteuer scharf. Laut Speisekarte wurden in dem antiken Striptease-Restaurant außer teurem Essen mehrere Sorten von Unterhaltung angeboten: Der Gast konnte mit Gladiatoren kämpfen oder sie am Sack kratzen, er durfte sich von den Hetären füttern lassen oder sie an den Busen fassen. »Für 15.000 Rubel extra spielt der Chefkoch für Sie Akkordeon«, stand noch auf der Speisekarte. Der Chefkoch kam auch zu uns an den Tisch. Er sah aus wie ein Doppelgänger von Zeus, trotzdem hatten wir Zweifel an seiner musikalischen Begabung – 15.000 Rubel ist eine Menge Geld: fast 1.500 Mark. Also bestellten wir zuerst einfach ein Fass antiken Rotwein und schauten uns um. Das ganze sah aus wie ein Naturkundemuseum, nur dass die Gäste in ihren Giovanni-Anzügen irgendwie nicht ins Bild passten. Nach zwei Litern wollte Mischa sich unbedingt mit einem der Gladiatoren anlegen. Er verhandelte hart, fand es aber dann doch zu teuer. Die Bedienung redete die ganze Zeit in Reimen auf uns ein, was sich als äußerst ansteckend erwies. Schon nach kurzer Zeit dichteten wir wie blöd zurück. Mit Anstrengung leerten wir derweil das Fass. Danach gingen wir in voll antikem Zustand an die frische Luft.

Mischa behauptete zwar, der Abend fange jetzt erst richtig an und wollte sofort schräg gegenüber in die »Kaserne der Liebe« – eine Gay-Bar in einer ehemaligen Badeeinrichtung. Dort, so versprach uns der Türsteher, würden in den zahlreichen engen Duschkabinen Stühle und Tische stehen und junge Männer sich einander in die Ärsche kucken. Mischa wollte es nicht glauben und ging rein, ich aber hatte bereits die Nase voll von der neuen russischen Unterhaltungskultur und ging nach Hause schlafen.

Wladimir Kaminer (15.11.2000)

Talking Food

Ich werde verfolgt. Andere sehen schwarze Männer, haben die Mafia im Nacken oder das Finanzamt. Vor all dem fürchte ich mich nicht, aber wenn es klingelt, zucke ich zusammen. Es kann ja sein, dass sie plötzlich vor der Tür stehen. Dass sie lachend durch den Briefschlitz springen und womöglich auch noch anfangen zu singen. Im Chor, mehrstimmig. Das wäre schlimm. Erbsen, Möhren, Bohnen, fröhlich vereint, im Kreis tanzend. Mehr als schlimm, wirklich!

Diese Bilder verfolgen mich seit Jahren. So genanntes famoses Zartgemüse hüpft durch meine Albträume. Nichtsahnend und gut gelaunt springt es seinem Schicksal entgegen. Ab ins Döschen, Deckel drauf. Weiß denn niemand, wie viele Kinder diesem Drama vor dem Fernseher zugeschaut haben? Traumatisch, ehrlich! Wie habe ich mich gefürchtet, damals, nachdem ich das zum ersten Mal gesehen hatte und Mutter dann sonntags Gemüse auf meinen Teller löffelte. Augen in den Kartoffeln, nun ja, das kommt in den besten Familien vor, aber was, wenn dem Mais plötzlich kleine Ohren wachsen und er ein diabolisches Grinsen aufsetzt? Würde er Rechenschaft fordern, wenn man zubeißt? Soll man da keine Angst bekommen? Schlimmer noch ist die Überlegung, was mit all dem Gemüse wurde, das durch den Bonduelle-Test gefallen ist. Gibt es dafür eine Erbsenrechtsvereinigung? Einen Möhrenschutzbund?

So sahen sie aus, die Fragen meiner Kindheit. Als ich größer wurde und irgendwann auch Tomaten Turnschuhe trugen, Orangen von Bäumen in Saftflaschen kletterten, da habe ich meinen Fernseher verkauft und ein Radio angeschafft. Ich habe das alles nicht mehr verkraftet. Andere wurden Vegetarier nach dem Motto: Iss nichts, was ein Gesicht hat! Für mich galt: Iss nichts, was zu dir spricht. Aber was bleibt da noch übrig, wenn Gemüse anfängt zu reden?

Mein Speiseplan hat sich seitdem drastisch reduziert: keine Paprika, keine Grapefruit und kein Maoam. Mit Mortadella habe ich keine Schwierigkeiten, denn die mit dem Bärchenmuster mochte ich noch nie. Italienische hat zwar Pistazien drin, aber sie hat wenigstens keine Augen und lächelt nicht, denn das Weiße sind nicht Zähne, sondern Speck. Da weiß ich, woran ich bin. Auch Hähnchen machten mir bis jetzt wenig Probleme. Die haben zwar ein Gesicht, aber hübsch sind sie ja nicht gerade. Jedenfalls nicht so niedlich wie diese kecken Maoam-Zitronen. Seitdem lebe ich nicht so schlecht.

Doch neulich, als ich ahnungslos das Radio einschaltete, begann meine Paranoia von neuem. Eine Drohung drang aus dem Lautsprecher: »Wenn Hähnchenschenkel sprechen könnten!« Mir wurde übel. Unter hysterischem Gekicher priesen sich Hühnerkeulen einschmeichelnd selbst an.

Nun bin ich vor nichts mehr sicher. Mein Radio habe ich in die Speisekammer gestellt und den Briefschlitz zugeklebt. Vielleicht werde ich auf Fisch umsteigen. Denn eins ist klar: wenn jetzt auch Hähnchenschenkel sprechen – Fische waren schon immer Langweiler. Sie haben geschwiegen! Hoffentlich bleibt das so.

Ilke S. Prick (2.10.2002)

Mein Freund ist Fleischer

Nachwuchsprobleme will das Metzgerhandwerk jetzt mit Pixi-Büchern bekämpfen

Undankbare Jugend. Lässt sich gern anfixen mit einem Wiener Würstchen oder einer Scheibe Bierschinken. Aber hinter der Aufschnitttheke stehen, am Fleischwolf oder Blutbottich, das will sie später nicht. Tiere tot machen ist doch kein Beruf, so denken die Bälger und verputzen einen Big Mäc nach dem anderen. Und Eltern, Lehrer und Jobberater bestärken sie noch: Fleischermeister willst du werden? Fleischfachverkäuferin? Dafür bist du nicht so lange zur Schule gegangen! Das ist ja eklig, blutig, brutal. Und überhaupt ganz schön kalt in den Kühlkammern. Von BSE gar nicht zu reden.

 

Kein Wunder, dass das Fleischerhandwerk Imagesorgen hat und über Nachwuchsprobleme klagt: Lehrlingsmangel, keiner will sich mehr quälen im Freizeitpark Deutschland, so heißt es unter Metzgern. Für den unbeliebten Job bewerben sich eher die schlechten Schüler. Die Kids haben bei dem Beruf eben nur Schmutz und Schlachten im Kopf. Oftmals lassen sich bloß noch die Söhne von Fleischermeistern zu Fleischern ausbilden, Fremdeinsteiger sind selten geworden. Und auch manchen Metzgersohn zieht es anderswo hin: Siehe Stefan Raab, Joschka Fischer, Franz Josef Strauß. Also fehlt im Fleischergeschäft das Fachpersonal an allen Ecken, und die Discounter rundum drücken mit Selbstbedienung die Preise. Wie aber angehen gegen alle diese Vorurteile – und das möglichst früh?

Den Reiz von Messern, Hackebeilen, Gummischürzen und Kettenhandschuhen kapieren eher ausgewachsene Fetischisten. Schon die Allerkleinsten aber gilt es zu erreichen, und zwar direkt am Point of Sale. Den Kindern muss klar gemacht werden, dass in der Fleischerei heutzutage Hightech regiert. Dass Party-Service und Catering allerhöchste Kartoffelsalat-Kreativität erfordern. Dass ohne kundenfreundliche Beratung (Schinken hat Vitamine!), BWL und Lebensmittelchemie samt Laptop heute nix mehr geht.

Ein Brocken Fleischwurst allein macht noch keinen potenziellen Metzgerlehrling. Also liegt da jetzt an der Kasse das Pixi-Buch »Ich hab einen Freund, der ist Fleischermeister«. 95 Cent kostet das nette Büchlein, eine rosige Gemeinschaftsproduktion von Fleischer-Verband und den Pixi-Machern vom Carlsen Verlag. Höhe der »Sonderauflage für das Fleischerhandwerk«: 50.000. Ein kleiner Rundgang durch die friedliche Welt des Wurstmachens, welcher mit der märchenhaften Zeile endet: »Und wenn ich groß bin, werde ich auch Fleischermeister.«

Damit will man, so heißt es beim Fleischer-Verband, den Kindern falsche Vorstellungen nehmen und ihnen zeigen, dass Fleisch und Fleischer »einfach dazugehören«. Beim Carlsen Verlag steht man zu der Zusammenarbeit, weil sich Pixi damit doch für den Mittelstand und den Laden an der Ecke engagiert – und gegen das Aussterben eines Handwerksberufs. Ein bisschen peinlich ist das den Pixies aber schon. Denn gleichzeitig betonen sie, dass so eine spezielle Kooperation im Rahmen der Berufe-Reihe nur ein, zwei Mal im Jahr stattfindet. Es geht, so sagen sie, »um den guten Willen, nicht um ein neues Geschäftsfeld«. Auch die Feuerwehr, die Bahn und Hersteller von Sonnenschutzmitteln durften sich schon direkt ans Kind wenden.

Blut kommt in dem Pixi-Büchlein übrigens nicht vor, nicht mal Blutwurst. Aber dafür der schöne Satz: »Hier kann man auch Käse kaufen!«

Hans-Hermann Kotte (22.5.2003)

Gammelrochen und andere essbare Biowaffen

Eigentlich dachte ich, dass mich nichts, was sich Menschen als Nahrung in Mund und Schlund schieben, noch erschüttern könnte. Immerhin bin ich in einer Gegend aufgewachsen, in der man sein Mittagessen auch schon mal aus Berlin anreisen lässt, es mit dem Auto vom ICE-Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe abholt, nett mit ihm plaudert, Weinchen, Küsschen, bis man schließlich anfängt, es von untenrum aufzuessen.

Apropos Essen in Hessen: Als Kind verweigerte ich manchmal wochenlang den Kontakt mit meiner aus dem Vogelsberg stammenden Mutter, weil sie mal wieder eine Ladung reifen, nach Schweinedung muffenden »Handkäs« im Kühlschrank deponierte. Bis heute will mir nicht in den Kopf, wieso man etwas, das so eindeutig nach ungewaschenem Popo riecht, in den Mund nehmen soll. Als mir diese angeblich essbare Biowaffe nach meinem Umzug ins Niedersächsische dort unter ihrem ostfälischen nom de guerre »Harzer Roller« wiedergängerisch auflauerte, begann ich, Pamphlete gegen den fiesen Sauermilchkäse zu schreiben. Einmal ließ ich mich sogar dazu hinreißen, ihn als »Goebbels unter den Molkereiprodukten« zu bezeichnen, aber leider konnte ich niemanden für mein Leiden an der Viktualienwelt interessieren. So stumpfte ich schließlich ab. Vielleicht war ich auch nur des Kämpfens müde.

Heute kann man mir den Handkäs meinetwegen hinter die Heizung kleben, ich werde es ignorieren. Ich zucke auch nicht mit der Wimper, wenn jemand neben mir »Braunkohl mit Bregenwurst« – eine Braunschweiger Spezialität, die genauso schmeckt, wie sie klingt – in sich hineinwürgt, dabei das aus der Hirnwurst heraustretende Fett über seine beiden Lefzen auf den Teller zurückfließen lässt und anschließend sauer aufstößt und »Mhm, lecker!« stöhnt. Mir doch egal. Ich bin immun gegen die Fiesheiten der deutschen Regionalküche.

Neulich musste ich jedoch kurz schlucken. Gelangweilt zappend stolperte ich in einen Fernsehbericht über die Essgewohnheiten der Isländer, in dem es zunächst um Speise-Banalitäten wie »Trockenfisch« und »Gesengte Lammköpfe« ging, dann aber ein kulinarischer Knaller präsentiert wurde, der einem buchstäblich den Atem raubt: der traditionell am 23. Dezember aufgetischte »Gammelrochen«. Dazu lässt man einen toten Rochen vier Wochen in einem Bottich vor sich hin faulen (!), nimmt dann den verwesten, grün schimmernden, nach der »Nacht der lebenden Toten« stinkenden Fisch heraus, entbeint ihn, kocht ihn zusammen mit ausgelassenem Schafsfett zu einer zähen Matschepampe – und voilà: Ein auf Weltniveau aasig-nasenzersetzendes Vorweihnachtsessen ist fertig. Dazu trinkt man frische Milch, wahrscheinlich weil die Faulgase im Magen neutralisiert werden müssen. Die gestopften Adventsgäste könnten ja ansonsten explodieren, wenn sie zu später Stunde nach Hause kommen, den Lichtschalter betätigen und in diesem Moment aus Versehen gerade ausatmen.

Verstört ertappte ich mich bei der Frage, warum eigentlich ein hungriger Rotenburger vor Gericht steht, 280.000 Isländer aber frei herumlaufen. Dann nahm ich einen milden Imbiss und ging beichten.

Hartmut El Kurdi (22.1.2004)

Bier, Chips und Pornos

Abnehmen mit der speziell entwickelten Männer-Diät

Groß war der Jubel beim männlichen Teil der Wahrheit-Redaktion, als der Werbedienst ots gestern eine lang ersehnte Meldung über die Ticker jagte: »Die erste Diät speziell für Männer startet in den deutschen Markt.« Die erste Diät nur für Männer, wie sieht die wohl aus? Bier, Chips und Pornos, war man sich schnell einig – umso größer war dann die Enttäuschung, als man entdeckte, was sich tatsächlich hinter der speziellen Männer-Diät versteckt: ein »ballaststoffbasiertes Diätpaket« mit »Vitalstoffen«, das auf den rhabarberdummen Namen »amapur for men« hört. Bäääh. Schon jetzt tun uns die armen Frauen leid, die – angelockt von dem Reklamegetratsche – diesen Quark für ihre Gatten kaufen. Werden wir das Zeug doch schleunigst in der Toilette wegspülen. Denn alles, was nicht nach Bier, Chips und Pornos schmeckt, rühren Männer sowieso nicht an.

(19.5.2004)

Bier, Chips und Pornos (2)

Diät speziell für Männer bei der Wahrheit eingetroffen

In der vergangenen Woche stellte die Wahrheit an dieser Stelle eine Diät speziell für Männer vor. Zunächst war der Jubel groß, dachten wir doch, es handele sich um Bier, Chips und Pornos. Doch dann stellte sich heraus, dass die Diät namens »amapur for men« aus »Vitalstoffen mit allen essenziellen Vitaminen« besteht. So was aber wollten wir unseren zarten Männerkörpern dann doch besser nicht antun. Das musste auch die Firma »amapur« einsehen und schickte uns am Wochenende ein Paket mit Bier, Chips und Pornos. »Unsere Diät gibt es abgestimmt auf jedes Bedürfnis«, schreibt Peggy Reichelt, die »amapur«-Geschäftsführerin, dazu. Zu Ehren der lernfähigen Firma »amapur« werden wir die drei Dosen Bier wegtrinken, die zwei Packungen Chips leer knabbern und die vier Pornoheftchen voll … – äh, nun ja, sie wissen schon … Hauptsache, wir nehmen dabei ab.

(24.5.2004)

Brechreiz beim debilen Bäcker

Die zeitgenössischen Formen der Erniedrigung und Beleidigung des Proletariats sind vielfältig. Hartz IV ist eine böse, das Fernsehen eine plumpe. Man kennt sie, findet sich damit ab oder kämpft aussichtslos wie einst Don Quijote.

Eine besonders perfide Art aber haben sich die Dunkel- und Hintermänner meines bevorzugten lokalen Brötchenkonzerns ausgedacht. Sie demütigen uns nicht einfach, sondern sie zwingen uns zur Selbstdemütigung. Das geht so:

Der Oberbäcker schraubt sich im Morgengrauen derart dämlich infantile Namen für sein leckerstes Backwerk aus den Hirnkurven, dass schon der Anblick des geschriebenen Wortes jeden Menschen, dem die Sprache nur einen Zehner-Semmel wert ist, Brechreiz hervorruft. Achtung, lieber Leser, tief einatmen: Er heißt seine Brötchen nämlich: Kraftikus, Röggelchen, Kartöffelchen, und die leckersten von allen gar – wurps – Knackfrische! Sie winseln bereits um Gnade? Genug? Genug!

Nun schreibt der Bäcker kleine Schildchen, die er in seinen Filialen vor die Regale pappt, stellt maulfaule junge Damen mit leichtem Knick in der Optik als Verkäuferinnen ein und lässt der Tortur ihren Lauf. Anders lässt sich nicht beschreiben, was ich in meiner Bäckereifiliale täglich erlebe. Hunger und Gier nach den goldbraunen, dezent gestäubten Brötchen (»Knackfrische«) sind stark, der Ekel vor dem Wort und die Angst vor der Peinlichkeit seiner Aussprache im Beisein erwachsener Menschen ist stärker. Ich deute auf das Regal, sage: »Sechs davon«, und prompt greift die Verkäuferin die Sesambrötchen. »Nein, daneben«, stottere ich, sie packt die Laugenbrötchen. »Nein, äh, sechs Normale …« – »Wir haben keine Normalen, nur Röggelchen, Kartöffelchen, Kraftikusse, Knackfrische …« – »Genau die!« – »Also Röggelchen?« – »Nein, äh …« Mein Kopf ist kurz vor dem Platzen. »Welche denn nun, junger Mann …?« Der Silberblick der Verkäuferin schweift, betont genervt und gelangweilt, über die Gesichter der inzwischen ansehnlich gewordenen Kundenschlange und sagt: Seht her, wegen eines solchen Deppen, der nicht in der Lage ist, eine ganz gewöhnliche Bestellung aufzugeben, müssen jetzt alle warten und kommen zu spät ins Büro oder zur Talkshow mit dem Pastor Fliege. Ich versinke vor Scham.

Zu Hause gibt’s noch eins drauf: »Wieso bringst du sechs Mohnbrötchen an, die isst doch hier kein Mensch.« Die wissen hier halt nichts von meinem glorreichen Kampf. Ich habe Hunger, aber ich habe widerstanden. Ich habe mich nicht erniedrigt. Und ich profitiere für mein weiteres Leben.

Der weit verbreitete Selbstbewusstseins-Steigerungstrick, dass die Angst vor einer Autorität schwindet, wenn man sich diese nackt in der Sauna vorstelle, mochte bei mir noch nie so recht funktionieren, allenfalls in Kombination mit Adiletten an pilzigen Füßen. Nun aber habe ich mein persönliches Autoritätszerstörungsbild gefunden: Ich schicke eine Autorität oder hochgestellte Persönlichkeit in Gedanken zum Bäcker und lasse sie »zwei Knackfrische, ein Kraftikuss und ein Kartöffelchen« ordern. Kann man vor jemandem, der solch einen Stuss öffentlich ausspricht, Respekt haben?

Joachim Frisch (5.8.2004)