Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart

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Hikesia und Asylon im Theater der Tragödie

Für das Verhältnis von Flucht, Asyl und Theater sind – vor dem mit den Persern bereits absehbaren zeitgeschichtlichen und politischen Hintergrund – vor allem die Schutzflehenden (Hiketiden) des Aischylos grundlegend, erstmals aufgeführt um 463 v. Chr. Zu Beginn der Tragödie wird das Theater besetzt durch einen Chor von Frauen, die mit dem Schiff aus Ägypten geflohen und gerade in der griechischen Stadt Argos angekommen sind, die von dem König Pelasgos regiert wird. Dem Mythos nach handelt es sich bei den Frauen um die 50 Töchter des ägyptischen Königs Danaos, der sie begleitet auf der Flucht vor ihren Vettern, die sie mit Gewalt zur Heirat zwingen wollen und verfolgen. Ob dafür im Theater anstelle der sonst anzunehmenden 12 oder 15 tatsächlich 50 (jedenfalls aber männliche, als Frauen maskierte) Choreuten auftraten wie bei den früheren Dithyramben, ist umstritten. Sicher ist jedoch eine unheimliche Gewalt, die von diesem Chor ausgeht, von Anfang an. Danaos sucht die Schutzflehenden zu beruhigen indem er ihnen empfiehlt, sich nach griechischem Brauch zu verhalten: Sie sollen sich den Altären des heiligen Bezirkes mit Olivenzweigen nähern, die in weiße Wolle gewickelt sind. Als Pelasgos, der Herrscher von Argos erscheint, erkennt er sie gleich als Fremde, wegen ihrer reichen und „barbarischen“ Kleider und ihrer dunklen Hautfarbe, die auf eine Herkunft aus Libyen verweise. Ihr Verhalten, ihre Position am Altar und ihre rituell geschmückten Zweige zeigen aber ihre Vertrautheit mit dem griechischen Brauch der Hikesie. Und zu seinem Erstaunen erzählen ihm die Frauen, dass sie in Argos gar nicht fremd sind, sondern eigentlich nach Hause kommen. Sind sie doch Nachfahren von Io, der Mutter aller Ionischen Griechen. Dem Mythos zufolge war die aus Argos stammende Io eine der vielen Geliebten des Gottes Zeus. Von der eifersüchtigen Göttermutter Hera wurde sie zur Strafe in eine Kuh verwandelt und durch eine wütende Bremse unablässig gejagt, erst in Ägypten konnte sie sich niederlassen. Der Ahnherr der schutzflehenden Frauen soll Epaphos gewesen sein, Sohn von Zeus und Io. Auf diesen Ursprung in Argos berufen sie sich nun für ihre Bitte um Schutz, um nicht ihren ägyptischen Verwandten ausgeliefert zu werden:

Sieh nicht mit an, wie dein Schützling von

Dem Götterbild mit Zwang gezerrt wird widers Recht,

Dem Roß gleich an der Stirn

Buntfarbgem Band und meinem Kleid angepackt!

Wisse wohl: deiner Kinder harrt, des Stamms,

Wie du den Grund legst, Buße durch den Gott des Grimms:

Vergeltung, gleich um gleich!

So herrscht – bedenk! – gerecht des Zeus ewge Macht!1

Nachdem die Frauen mit der Erzählung der Vorgeschichte ihre Herkunft belegt haben, bezeichnen sie sich selbst als „Schützling“ (Hiketin) und fordern Hikesie. Dieser Status, wörtlich mit „Schutzflehen“ zu übersetzen, wurde im archaischen und klassischen Griechenland allen gewährt, die sich zu heiligen Altären flüchteten. Schon die Möglichkeit, um Schutz flehen zu können, hatte eine absolute, von Zeus beschützte Geltung. Wer als Schutzflehende/r gehört wird, ist als solche/r bereits Schützling, Schutzbefohlene/r. Diese Tendenz, angelegt in der Unantastbarkeit des Prinzips der Hikesie selbst, beruhte normalerweise auf einer Bedingung: Eigentlich durften sie nur die in Anspruch nehmen, die von Blutschuld frei waren. Jedoch wird beispielsweise selbst Orest – nach dem Mord an seiner Mutter Klytaimnestra, in Aischylos’ Eumeniden, dem dritten Teil der Orestie – als ein Schützling (Hiketin) bezeichnet durch den Gott Apoll, der ihn gegen die Erinnyen verteidigt.2 Erst indem die Rachegöttinnen selber in Athen eine Art Asyl erhalten, aufgenommen werden als wohlwollende Eumeniden, kann dieser Konflikt durch die Stadt-Göttin Athene gelöst werden. Jedenfalls war Hikesie eines der Rituale des Übergangs, die das Theater der Tragödie, zwischen Religion und Politik ebenso vermittelnd wie zwischen eigen und fremd, immer wieder durchgespielt hat.3

Nicht selten manifestieren die Texte der Tragödien, wie mythische Ordnungen und rituelle Praktiken in rechtlich und politisch geregelte Verfahren überführt werden konnten. Tatsächlich wurde der Umgang mit Schutzflehenden, aus der jeweiligen Stadtgesellschaft wie auch für Fremde, im 5. Jh. v. Chr. allmählich institutionalisiert. Strukturell ist für diese Entwicklung zu unterscheiden zwischen dem von der Hikesie ausgelösten „sakralen Asyl“ und einem von der Stadt dem Einzelnen verliehenen Bleiberecht, das als „persönliches Asyl“ bezeichnet werden kann.4 Außerdem konnte es nach einem Aufenthalt von 30 Tagen, insbesondere in Athen den Status der Metoikie geben. Die Metöken, „Mitwohner“, mussten eine/n einheimische/n BürgerIn als ihren Patron benennen und Schutzgeld an die Stadt zahlen. Dafür durften sie Geschäfte ausüben, nicht aber an politischen Debatten und Wahlen teilnehmen. Vermutlich war die für Stadtbürger von Athen verpflichtende, aufwändige Teilnahme an der politischen Praxis nur dadurch aufrechtzuerhalten, dass es – außer den Sklaven, die die eigentliche Arbeit taten – noch diese zusätzliche Gruppe von „Unternehmern“ gab, die für das wirtschaftliche Leben sorgten.5

Bei Aischylos gehen die Schutzflehenden so weit, zu fordern. So erinnern sie Pelasgos daran, dass er von Zeus bestraft werden könnte, wenn er ihnen keinen Schutz gewährt. Für diesen Fall drohen sie sogar damit, sich selbst zu töten. Dass der ganze Konflikt – in dem das Agieren der Danaiden ebenso wie das ihrer Neffen von Hybris (frevelhafter Selbstüberschätzung) geprägt ist – zugleich als ein politischer Prozess dargestellt wird, lässt sich noch am ehesten durch die besondere Bedrohung auch von Argos durch die ägyptischen Verfolger erklären.6 Der König Pelasgos kann hier gar nicht allein entscheiden, muss die Volksversammlung abstimmen lassen.

Tatsächlich ist der Text der Schutzflehenden eine der frühesten Quellen für ein solches demokratisches Verfahren in der griechischen Kultur. Die Angelegenheit dieses Asyls ist von elementarer Bedeutung für alle, geht jeden Bürger etwas an.7 Nach auffällig rascher Entscheidung in der Volksversammlung kann Danaos den Frauen aber berichten, dass sie von der Stadt beschützt werden und dass sie – darüber hinaus – auch als Metöken aufgenommen sind.8

Das Stück endet damit, dass ein zusätzlicher Chor von Mägden die Jungfrauen drängt, ihre Verweigerung der Heirat doch zu überdenken. Die verlorenen Teile der Trilogie enthielten dann, soweit das aus Fragmenten zu erschließen ist, einen Sieg der Ägypter gegen Argos, wobei Pelasgos selbst getötet wird. Daraufhin wird die Heirat von den Danaiden doch noch akzeptiert, allerdings nur zum Schein. In der Hochzeitsnacht töten sie alle ihre Vettern bis auf eine, die ihren Geliebten rettet. Die Heiratsverweigerung der Frauen könnte nachträglich auch dadurch motiviert worden sein, dass von einem Orakel berichtet wird, das den Tod von Danaos durch einen Schwiegersohn vorhergesagt hätte.9 Der dritte Teil der Trilogie zeigte wohl einen Prozess gegen diese eine Frau, Hypermestra, die aber begnadigt wird und als Mutter eine neue Dynastie von Griechen begründet, zu der der Halbgott Herakles gehören wird. Vorausweisend auf die spätere Entwicklung der Tragödie steht damit am Ende der Trilogie das Individuum, das sich gegen eine Mehrheit durchsetzt.

Für die von Aischylos dargestellte Konsequenz, mit der die religiöse Forderung der Hikesie und die Gewährung eines persönlichen Asyls der Metoikie im politischen Entscheidungsprozess verknüpft werden, ist es von einiger Bedeutung, mit welchen Worten die Volksversammlung der Argiver von Danaos zitiert wird:

Mitwohner sollen wir des Lands hier sein und frei

geschützt vor Zugriff, vor dem Raub durch irgendwen;

Und keiner der Bewohner soll, kein Fremder uns

Wegführen; sollt es sein, daß man Gewalt gebraucht,

Soll, wer nicht eilt zu Hilfe von den Bürgern hier,

Ehrlos sein, Flüchtling, durch des Volks Beschluß verbannt.

So war das Wort, das, überzeugend sprach für uns

Pelasgias Fürst […]

Dies hörte kaum, so hob die Hände Argos‘ Volk

Und stimmte – ohne Heroldsruf – für den Beschluß.10

So bewirkt die Rede des Königs Pelasgos, dass die Volksversammlung einstimmig entscheidet. Die dafür gebrauchten rhetorischen Bilder erscheinen besonders wirkungsvoll, da er sich und das Volk von Argos zuvor schon mit einem Schiff von Migranten verglichen hat und nun allen, welche den Schutzflehenden nicht helfen, damit droht, dass sie selber verbannt und in Flüchtlinge verwandelt würden.11

Annäherungen zwischen Theater und Asyl

Die theatralische, eigentlich dionysische Umkehrung von Migrant und Gastgeber ist bis heute ein wirksames Mittel, um die Ängste von Gesellschaften zu überwinden, die mit Geflüchteten konfrontiert sind. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren einige Produktionen von Aischylos’ Tragödie, welche die Schwierigkeiten der aktuellen Asylpolitik vorführten, indem sie die Hiketiden auf ihren aktuellen Gehalt befragten. Zwei neuere Beispiele seien hier erwähnt, zunächst Enrico Lübbes Inszenierung (Schauspiel Leipzig, Herbst 2015) des Textes Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, geschrieben mit Bezug auf den realen Konflikt von Flüchtlingen, die 2013 in Wien ein Kirchenasyl erreichen wollten und daraufhin von der Polizei deportiert wurden. An diesem Fall hat Jelinek die Macht bürokratischer Verfahren thematisiert, die den Asylsuchenden auf seine körperliche, aller individuellen Rechte entkleidete Existenz reduzieren. Assoziationen mit dem von Agamben analysierten Phänomen des Homo Sacer waren auch in Lübbes Inszenierung präsent, welche die Relevanz der Texte von Aischylos und Jelinek gerade in ihrer Verknüpfung deutlich machte. Die räumliche Situation war geprägt durch einen großen stählernen Schiffsrumpf. Der Chor der Schutzflehenden verwandelte sich in eine Gruppe von Jelinek-Doubles, dann in eine Masse von Flüchtlingen und schließlich in eine Gruppe Touristen, kostümiert als übergroße Hotdogs, die sich in der Sonne grillen lassen und dabei über die Umweltverschmutzung an den Stränden klagen, die angeblich von Flüchtlingen verursacht sei. Wie schon Jelineks Text spielte die Inszenierung mit dem scharfen Kontrast zwischen pathetischen Bildern von Leiden und Angst und einem Zynismus der Banalitäten.1

 

Einen anderen Ansatz verfolgte Sebastian Nübling ebenfalls im Herbst 2015 am Berliner Gorki Theater und ebenfalls ausgehend von Aischylos und Jelinek, darüber hinaus aber von der Asyldebatte in deutschen Parlamenten sowie von persönlichen Erinnerungen einiger Migranten, die bereits dem Gorki-Ensemble angehörten. Die Stühle wurden entfernt und die Zuschauer saßen auf einer Tribüne, während das Parkett des Theaters als Versammlungsraum benutzt wurde. Im weitgehenden Verzicht auf festgelegte Rollen, wenn auch durch körperliche Handlungen auf das Stück verweisend, engagierten sich die Akteure vor allem in einem Reenactment der Debatte über die Gesetze zu Einwanderung und Asyl. Die Aufführung endete mit einer Versammlung aller Zuschauer um die neuen Mitglieder des Ensembles, die somit Gespräche über ihre persönliche Erfahrung von Flucht und Migration aktiv prägen konnten anstatt bloß repräsentiert zu werden. Auf diese Problematik verwies schon der Titel der Produktion: In Unserem Namen.

Dem Ansatz dieser und weiterer Produktionen am Gorki-Theater entspricht eine noch weiter gehende Tendenz, Theatergebäude selbst in Asyle zu verwandeln, die für jeden Schutzbedürftigen offen sein und zugleich als Treffpunkt dienen sollen für Helfer und Unterstützer. Diese Entwicklung mag notwendig erscheinen zur Öffnung der Repräsentationsstrukturen für Ansätze zur Bewältigung konkreter gesellschaftlicher Konflikte. Andererseits ist Theater einer der wenigen Orte, die nicht darauf verpflichtet werden sollten, soziale und ökonomische Probleme zu lösen oder Mängel der Verwaltung zu kompensieren.2 Wie bei zahlreichen anderen Konflikten hatte in diesem Fall der plötzliche Drang der Theaterhäuser, das Thema Flüchtlinge zu behandeln, kaum politische Folgen, wirkte am ehesten als Beruhigung des eigenen Gewissens (auch für das Publikum).3 So bleibt Theater aber umso mehr darauf angewiesen, die gewohnten Trennungen von eigen und fremd mit jeweils spezifischen Mitteln zu thematisieren und womöglich zu überschreiten.

Dass dafür noch ganz andere Energien freigesetzt werden können, die eine mögliche Wiederaufnahme der Tragödie ebenso betreffen wie die politische Brisanz des Asylthemas, soll nun noch mit einer weiteren Annäherung an Aischylos’ Danaiden-Stück gezeigt werden. Dabei geht es um die Theaterarbeit des 2001 verstorbenen Bühnenbildners, Autors und Regisseurs Einar Schleef.

Flucht, Fremdheit und Asyl bei Einar Schleef

Schleefs Produktion Mütter, aufgeführt im Februar 1986 am Schauspiel Frankfurt, verknüpfte die Stücke Sieben gegen Theben von Aischylos und Die Bittflehenden von Euripides. Die Montage der beiden Tragödientexte umfasste den Krieg gegen Theben und den anschließenden Kampf der Mütter um die Leichen ihrer in der Schlacht gefallenen Söhne. Die Inszenierung arbeitete, modellhaft für alle weiteren Schleef-Produktionen, an der Konfrontation von einzelnem Schauspieler und Chor bzw. Chorgruppen, durch ein rhythmisches Sprechen, das eine spezifische Gewalt der Darstellung im Konflikt der Stimmen vorführte. Die Aggression, der sich die Zuschauer ausgesetzt sahen, wirkte nicht mehr nur als theatrales Zeichen, sondern mit der Intensität einer körperlichen Erfahrung, wie auch die extremen, gespaltenen Reaktionen des Publikums zeigten. Die Aufführung demonstrierte jedenfalls, dass die Rahmenbedingungen von Raum, Zeit und Chor, die das antike Theater der Tragödie etabliert hat, am ehesten noch mit einer experimentellen Theaterarbeit zu realisieren sind, die ihre ästhetischen Entscheidungen zugleich als politische begreift und auch die Zuschauer zur Auseinandersetzung mit ihrer gewohnten „Rolle“ bringt.1

Wichtig für die Bedeutung des Chors in Schleefs Arbeit sind seine wiederholten Hinweise auf ihren gesellschaftlichen Kontext. Gegenüber dem Kritiker, der ihm – noch ohne eine Aufführung gesehen zu haben – sein angebliches „Nazi-Theater“ vorwarf, beschrieb er als Impuls für die Tempelbesetzung durch die sieben Mütter in der Tragödien-Inszenierung von 1986 „eine Frauendemo, die sich in Westberlin über eine Peepshow hermacht“,2 und ähnliche eigene Erfahrungen mit einem prekären Leben als Republikflüchtling aus dem Osten in der BRD:

Meine ausgeprägte Chor-Form ist keine Abreaktion einer DDR-Vergangenheit, keine Imitation von Marschkolonnen, Kriegsspielen und Appellen, sondern eine Formulierung der Vorgänge im Westen, meine Antwort auf Polizeiaktionen, Überfälle, Plünderungen, Demonstrationen, Menschenansammlungen, denen ich ausgesetzt bin. Sicher begegne ich diesen Vorgängen nach meiner Flucht, mit noch unsicherem Stand im Westen, wesentlich empfindlicher als andere.3

Gegen den klischeehaften Vorwurf, die Arbeit mit Chören sei bloß ein Reflex auf das Leben im Sozialismus, hält Schleef hier bewusst seine aktuellen Eindrücke vom Leben im Westen. Seine künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen wurde allerdings von der Mehrzahl seiner Kritiker ebenso wenig toleriert wie die Entwicklung des neuen Chortheaters. Dessen Einsatzpunkte hat er in dem von biographischen Fragmenten durchsetzten theoretischen Essay Droge Faust Parsifal reflektiert. Dabei folgerte er die Notwendigkeit einer Korrektur der theaterpraktischen Mittel auch aus einer verbreiteten Diskreditierung von Pathos, die aber mindestens so reaktionär sei wie die Pathos-Behauptung, gegen die sie sich wandte.4 Der Konflikt zwischen den Normen der Feuilletons, die dem damaligen Regietheater entsprachen, und den radikalen Setzungen von Schleefs Chorarbeiten dauerte bis in die 1990er Jahre, obwohl einige dieser Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden und ihr jeweiliges Publikum anhaltend begeistern konnten.

Schon im ersten Chorprojekt Mütter gibt es einige Anhaltspunkte für Schleefs Interesse am Thema Asyl. Die mythische Vorgeschichte der Könige von Theben enthält viele Episoden, die von der Vertreibung Verwandter und von der Aufnahme Fremder, vom schlimmen Frevel einer gebrochenen Gastfreundschaft und von den darauffolgenden göttlichen Strafen zeugen. So wird Laios, weil er den Sohn seines Gastgebers entführt, verflucht, durch seinen eigenen Sohn zu sterben. Dieser Sohn ist Ödipus, der in der Fremde als Flüchtling überlebt und bei seiner Rückkehr ohne es zu wissen seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet. Ihre Kinder sind Antigone, Ismene, Eteokles und Polyneikes. Ödipus stirbt im Exil, seine Söhne entzweien sich im Streit um die Herrschaft. Der aus der Stadt vertriebene Polyneikes holt Hilfe in Argos und führt den Krieg der Sieben gegen Theben. Unter den Angreifern ist der aus Arkadien stammende, nach Argos übersiedelte Parthenopaios. Schleef und Hans Ulrich Müller-Schwefe haben in ihrer Version von Aischylos’ Stück diesen mitwohnenden Fremden (Metoikos) als „Asylanten“ bezeichnet. „Der Ausländer bezahlt für sein Asyl“, heißt es bei der Aufzählung der gegeneinander stehenden Krieger.5

In der Schlacht fallen alle sieben Anführer, Eteokles und Polyneikes töten sich gegenseitig. Antigone will letzteren gegen das Gesetz des neuen Herrschers Kreon bestatten, wird dafür zum Tod verurteilt und bringt sich selbst um. Das zweite Stück des Mütter-Projekts, die Bittflehenden des Euripides, bringt die Fortsetzung dieses Konflikts: Die Mütter der gefallenen Angreifer bitten als Fremde in Athen den König Theseus, ihnen zu helfen und die Stadt Theben zu zwingen, die Leichen ihrer Söhne herauszugeben. Um den heiligen Ritus der Totenbestattung (ähnlich wie Antigone) durchzusetzen, zieht Theseus, nachdem er zuvor seine Volksversammlung befragt hat, schließlich in den Krieg. Er siegt in der Schlacht, lässt Theben aber unangetastet. Am Ende fordert die Göttin Athene, dass die Söhne der Gefallenen ihre Väter in einem erneuten Krieg gegen Theben rächen sollen. Schleef und Müller-Schwefe haben dieses Stück an den Anfang des Abends gestellt, um den Kreislauf der Rache zu veranschaulichen.6 Das Projekt führte außerdem vor, dass es im 5. Jh. v. Chr. noch eine Entsprechung zwischen verschiedenen, an fremden Altären erflehten Formen der Hilfeleistung gab, sei es zur eigenen Rettung, sei es zur Durchsetzung religiöser Forderungen. Auch Euripides’ Tragödie trägt den Titel Hiketiden, was eine dementsprechend breite Bedeutung von Hikesie als „Schutzflehen“ bereits nahelegt.

Ein halbes Jahr nach der Mütter-Premiere, datiert auf September/Oktober 1986, entstand Schleefs großes Gemälde mit dem Titel Die Asylanten, das mit ins Bild integrierten Notizen rund 100 Jahre deutscher Geschichte von 1889 (als Hauptmanns Stück Vor Sonnenaufgang erschien)7 bis 1986 umfasst. Es zeigt Theaterpublikum (räumlich angeordnet um einen Mittelsteg wie bei der Mütter-Inszenierung) vor einem hellblau leuchtenden Bühnenraum, außerdem große Gruppen von Asylanten in Mänteln mit Reisekoffern. In Kohorten aufgereiht marschieren sie – hinter einer einsamen Gestalt mit Wanderstab – in Richtung der im Vordergrund angehäuften Grabkreuze, dazwischen ein Kind mit Stahlhelm über dem Kopf und einer Flasche „Krimsekt“ in der Hand. Daneben ist zu lesen: „DDR-Kind grüßt seinen Vater, der Vater mit Frau und Mutter am Arm, der Sohn hat seinen Stahlhelm auf. Der Vater, Opa, fotografiert seine Familie. 22. Sept. 86 DDR I“, darunter noch eine weitere Zeile: „Die Saat ist aufgegangen, 6.4.1937 über Loth.“8

Zu den unausgeführten Inszenierungsprojekten, die Schleef zum Teil noch begonnen hatte, zählt – schon seit der Arbeit an dem früheren Hikesie-Stück – auch seine Auseinandersetzung mit Aischylos’ Hiketiden. Was diesen Ansatz, sofern er sich aus Archivdokumenten rekonstruieren lässt, von den neueren Inszenierungen der Tragödie durch andere Regisseure unterscheidet, ist der von seiner persönlichen Wahrnehmung innerdeutscher Fremdheitskonflikte geschärfte Blick. So hat Schleef sich immer wieder auf die Themen Flucht, Asyl und Fremdheit bezogen. Selbst als Republikflüchtling bereits seit 1976 im Westen Deutschlands, war er 1989 ein seismographisch genauer Beobachter der „Wende“, bei der plötzlich „der ganze Ostblock“ Berlin zu besuchen schien: „[…] anderssprechende Menschen aus Bussen oder LKWs. Die Tragödie war ihnen ins Gesicht gemeißelt, wie sie feindselig guckten und rafften.“9 Das Wort Tragödie zielt hier auf eine Erfahrung, die später auch viele Bürger der DDR machten, die sich in der BRD als Fremde im eigenen Land fühlten und anderen Geflüchteten nur noch mit Hass begegnen konnten. Andererseits wird deutlich, wie eng Schleefs Auffassung von Tragödie mit Erfahrungen von Fremdheit verknüpft ist. Diese Zusammenhänge prägen auch seine Tagebücher (von 1953 bis 2001) und die Erzählung Heimkehr, die seine frühesten Kindheitserinnerungen schildert, als die Familie in Sangerhausen (Thüringen) in ein von ihrem Vater neu gebautes Haus übersiedelte und dort gleich Flüchtlinge einquartiert bekam. Bei seiner späten Rückkehr an diesen Ort seiner Kindheit und Jugend nach 14 Jahren Abwesenheit wird Schleef von seiner stark verwahrlosten und verbitterten Mutter angeschrien: „wie du aussiehst […] ich habe nicht nach dir gerufen, was willst du hier“.10

Das für Schleef bestimmende, traumatische Thema einer andauernden Heimatlosigkeit wird aber auch in seinen Tagebüchern nicht nur durch eigene Erlebnisse veranschaulicht, sondern gleichzeitig in seiner politischen und historischen Dimension betrachtet. Exemplarisch dafür skizziert der Eintrag „Sprache – Sprachwende“ vom 6.3. 2001, der unter anderem auf Florian Havemanns Formulierung „Nur Flüchtlinge sind Deutsche!“ verweist,11 die besondere Situation eines schon lange vor dem Fall der Mauer in die BRD übergesiedelten Republikflüchtigen:

Die Hybris, aus der DDR zu sein, aber noch den Westen im Ende seiner Glanzzeit erlebt zu haben, ist ein Besitz, den man in der DDR Verbliebenen voraus hat. Wie aus Übermut parliert man in der einen oder in der anderen Sprache, man hantiert geschickt beide Heimaten, wirft die eine gegen die andere, im Wissen, daß man, geht man nach Hause, kein Zuhause mehr hat.12

 

Die Kehrseite dieser Kenntnis beider Sprachen ist der Verlust der „eigenen“ Stimme – die Insistenz der „Frage, wer spricht in mir“ und die Erfahrung, dass sich eigentlich überwunden geglaubte, der DDR oder auch der Nazi-Diktatur angehörige Begriffe in das eigene Sprechen hineindrängen.13 Zu der schon von Victor Klemperer zunächst im Rahmen seiner Tagebücher analysierten Eigendynamik von Sprachformeln der Diktatur14 kommt bei Schleef die Erfahrung einer von der Geschichte der beiden deutschen Staaten und von deren gemeinsamer Vorgeschichte im „Dritten Reich“ geprägten Spaltung der persönlichen Identität. Wie in Schleefs Roman Gertrud über seine Mutter ist auch im Durcharbeiten der eigenen Biographie der Faschismus immer wieder präsent. Allerdings, wie schon bei seinen Theaterarbeiten, nicht etwa durch unbewusste oder gar affirmative Wiederholung, eher als Teil einer Selbstanalyse, die zugleich die gesellschaftlichen Befindlichkeiten des vereinigten Deutschlands betrifft. Eben darin liegt, fast zwei Jahrzehnte später, die Aktualität von Schleefs Versuch, am Material eigener Erfahrungen das Thema Asyl zu konkretisieren.