Sprachtherapie mit Kindern

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typische Symptome für Abrufschwierigkeiten Kinder mit Wortfindungsstörungen zeigen als Leitsymptom ein fluktuierendes Gelingen des Wortabrufs, das sich in inkonsistentem Benennverhalten zeigt (Siegmüller 2008; Beier / Siegmüller 2013, Kap. 3): Während der Zugriff auf ein Wort in einem Moment gelingt, ist dies kurze Zeit später nicht mehr möglich. Da die Kinder die Wörter gut kennen (also verstehen können), sind ihre Leistungen in rezeptiven Wortschatztests meist nur leicht oder überhaupt nicht beeinträchtigt (German 1989). Im Gegensatz dazu bestehen erhebliche Schwierigkeiten bei der Wortproduktion (Glück 2010). Beim Benennen von Bildern oder in der Spontansprache fallen Verzögerungen in der zeitlichen Struktur der Äußerungen auf (Dockrell et al. 2001, 2003; Glück 2010). Die charakteristischen Meta-Kommentare sind Ausdruck eines hohen Störungsbewusstseins vieler Kinder mit Wortfindungsstörungen. Artikulatorisches Suchverhalten ebenso wie semantische oder phonologische Annäherungen an ein Zielwort treten ausschließlich bei dieser Form der lexikalischen Störung auf. Zudem profitieren Kinder mit Wortfindungsstörungen häufig vom Angebot semantischer oder phonologischer Abrufhilfen (Glück 2010, 2011a).


Semantische Annäherung: „Darin kann man kochen ... für’s Rührei ... die Pfanne.“

Phonologische Annäherung: „Der hatte so eine Mant... Munt... Mundharmonika.“

2.3 Hypothesen zur Verursachung

Vermutlich ist eine Reihe unterschiedlicher Faktoren an der Entstehung und Aufrechterhaltung einer lexikalischen Störung beteiligt (Glück / Elsing 2014a). Welche Faktoren im Einzelnen zur Verursachung beigetragen haben, kann nicht in allen Fällen retrospektiv rekonstruiert werden und hat auch nur eingeschränkt Relevanz für die therapeutischen Bemühungen. Aufrechterhaltende sowie verstärkende Faktoren sollten jedoch im Rahmen der sprachtherapeutischen Diagnostik identifiziert und in der Therapieplanung entsprechend berücksichtigt werden (Motsch et al. 2016).

fehlende Vorausläuferfähigkeiten Einigen Kindern fehlen wichtige kognitive bzw. vorsprachliche Fähigkeiten, um die kommunikative und repräsentative Funktion von Sprache entdecken zu können (Zollinger 2010; Kap. 1). Insbesondere bei Kindern mit umfassenden Entwicklungsstörungen bzw. kognitiven Einschränkungen ziehen Verzögerungen in vorsprachlichen Entwicklungsbereichen oftmals einen verspäteten Einstieg in den Wortschatzerwerb nach sich. So ermöglicht bspw. das Triangulieren überhaupt erst die Erkenntnis, dass Wörter als Symbole für etwas verwendet werden können. Fehlt diese Einsicht, bleibt das Verstehen der Kinder oftmals an die konkrete Situation gebunden.

fehlendes Nachfragen Wortschatzauffällige Kinder fragen insgesamt seltener nach, wenn sie auf eine lexikalische Lücke stoßen. Dies kann zum einen Ausdruck eines unzureichenden Erkennens der eigenen lexikalischen Lücken sein. Manche Kinder sind sich dem Unterschied zwischen „komplett verstehen“ und „nur halb verstehen“ gar nicht bewusst (Amorosa / Noterdame 2003).

„Ihnen fehlt meist auch der aktive und kreative Umgang mit Sprache. Sie fragen kaum nach, sie äußern weder Korrekturen noch bilden sie neue Wortformen. Die Kinder vermitteln sogar oft den Eindruck, als falle ihnen gar nicht auf, dass sie vieles nicht benennen können […]“ (Füssenich 2002, 86).

Bei anderen Kindern spiegelt diese Passivität bereits einen ersten Rückzug aus kommunikativen Situationen aufgrund wiederholter Frustrationserfahrungen wider (Dannenbauer 2001a). In jedem Fall zeigen Kinder mit lexikalischen Störungen gegenüber sprachunauffälligen Kindern eine geringere „Neugier“ für neue Wörter. So machen sie von einem der wichtigsten Antriebsmotoren der physiologischen Entwicklung, dem Fragen, nur unzureichend Gebrauch (Motsch et al. 2016; Brinton / Fujiki 1982; Hargrove et al. 1988).

Einige Kinder hatten zu wenige Gelegenheiten, die Dinge ihrer Umgebung umfassend und mit allen Sinnen zu erfahren. Fehlen konkrete, multisensorische Erfahrungen, können keine facettenreichen Konzepte aufgebaut werden, Wörter bleiben „bedeutungsleere Hülsen“ (Motsch et al. 2016, 38).

defizitärer Sprachinput Mittlerweile belegt eine ganze Reihe empirischer Untersuchungen deutliche Zusammenhänge zwischen der sozialen Schichtzugehörigkeit und der Quantität sowie der Qualität des elterlichen Sprachangebots. Eltern aus bildungsfernen Schichten sprechen weniger mit ihren Kindern und verwenden dabei weniger unterschiedliche Wörter als Eltern mit einem höheren Bildungsniveau. Zudem bevorzugen Eltern aus niedrigen sozialen Schichten einen eher direktiven Kommunikationsstil (Hart / Risley 1995; Hoff-Ginsberg 1991, 1998; Rowe 2008; Clark 2009). Diese Unterschiede schlagen sich in der Wortschatzentwicklung der Kinder nieder. So bestehen deutliche Zusammenhänge zwischen Quantität und Qualität des elterlichen Sprachangebots und dem Umfang des kindlichen Wortschatzes im Kleinkind-, Vorschul- und Schulalter (Hart / Risley 1995; Rowe 2008; Clark 2009). Dennoch stellen allein auf ungünstigen Umgebungsbedingungen basierende Wortschatzauffälligkeiten keine Indikation zur krankenkassenfinanzierten Sprachtherapie dar (AWMF-Leitlinie 2011). Vielmehr soll ein solcher „Spracherfahrungsmangel“ (Glück 2007, 160) über das Angebot einer allgemeinen Sprachförderung durch Erzieher und Lehrer ausgeglichen werden. Ungünstige Input-Bedingungen können jedoch verstärkend und aufrechterhaltend auf eine bestehende spezifische Störung der Sprachentwicklung wirken (AWMF-Leitlinie 2011).

defizitäre Mapping­Prozesse Empirische Untersuchungen haben sich der Frage gewidmet, ob bei spracherwerbsgestörten Kindern bereits die Aufnahme von neuen Wörtern in das mentale Lexikon beeinträchtigt ist. Hierzu wurden Experimente durchgeführt, bei denen sowohl spracherwerbsgestörte als auch sprachunauffällige Kinder neue Wortformen (in der Regel Pseudowörter) zu neuen Referenten (in der Regel Phantasieobjekten) lernen sollten (Kan / Windsor 2010). Es zeigte sich, dass spracherwerbsgestörte Kinder insgesamt deutlich mehr Wiederholungen eines Wortes benötigten, um eine erste lexikalische Repräsentation aufzubauen. So waren mindestens zehn Wiederholungen eines Wortes notwendig, damit die SES-Kinder dieses überhaupt wiedererkennen und den Referenten zeigen konnten (Rice et al. 1994; Kier nan / Gray 1998). Von grundlegenden Wortlernstrategien scheinen Kinder mit lexikalischen Störungen dabei in vergleichbarem Maße Gebrauch zu machen wie sprachunauffällige Kinder (Rothweiler 2001; Kauschke / Rothweiler 2007). Problematisch scheint jedoch vor allem die langfristige Speicherung neuer Einträge im mentalen Lexikon zu sein (slow mapping). Besondere Schwierigkeiten bereiten wortschatzauffälligen Kindern dabei die Einspeicherung und Ausdifferenzierung der phonologischen Wortformen sowie das Benennen der neu gelernten Wörter (Kiernan / Gray 1998; Gray 2003; Nash / Donaldson 2005). Neben dem erhöhten Aufwand, um einen ersten Eintrag für die Produktion zu etablieren, wird auch über ein häufiges „Vergessen“ bereits gelernter Wörter berichtet (Riches et al. 2005).

Defizite der phonologischen Schleife Die Schwierigkeit, stabile und differenzierte phonologische Repräsentationen auszubilden und dauerhaft abzuspeichern, sollte vor dem Hintergrund möglicher Einschränkungen der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses gesehen werden. Studien zeigen signifikante Korrelationen zwischen der Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses und der Fähigkeit, neue Wörter zu lernen (Adams / Gathercole 1995; Gathercole et al. 1997). Als Gruppe erreichen spracherwerbsgestörte Kinder signifikant schlechtere Leistungen beim Nachsprechen von Pseudowörtern, das in der Regel als Maß für die Kapazität der phonologischen Schleife herangezogen wird, gegenüber sprachunauffälligen Kindern (Gathercole / Baddeley 1990, 2003). Es wird daher diskutiert, ob eine reduzierte Arbeitsgedächtnis-Kapazität als zentraler diagnostischer Marker oder sogar entscheidender Verursachungsfaktor einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung angenommen werden sollte (Kany / Schöler 2014; Leonard et al. 2007). In jedem Fall ist davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrheit lexikalisch gestörter Kinder auch Einschränkungen in der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses zeigt. Daraus ergeben sich Schwierigkeiten v. a. bei der phonologischen Analyse und Einspeicherung längerer (drei Silben und mehr) sowie phonologisch komplexer Wörter, die ein höheres Maß an Verarbeitungskapazität beanspruchen (Ulrich 2012).

 

Defizite der phonologischen Bewusstheit Während kleine Kinder zunächst die Gliederung eines Wortes nach Silben bevorzugen, wird im späten Vorschulalter die Segmentierung von Wortformen nach Onset und Reim und im Schulalter schließlich nach einzelnen Phonemen möglich (Mayer 2013a, 2016a). Dies erleichtert die Ausdifferenzierung der phonologischen Wortformen im mentalen Lexikon sowie ihren Abgleich mit anderen, ähnlich klingenden Wortformen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuhören. Verzögerungen in der Entwicklung phonologischer Bewusstheit erschweren somit die immer feinere Durchgliederung der phonologischen Wortformen in ihre lautlichen Bestandteile sowie die Vernetzung von phonologischen Repräsentationen innerhalb des mentalen Lexikons.

Zugriffsgeschwindigkeit auf phonologische Repräsentationen Insbesondere im Kontext von kindlichen Wortfindungsstörungen kommt der Benennungsgeschwindigkeit, also der Fähigkeit, nach Vorgabe eines visuellen Reizes möglichst schnell auf eine gespeicherte phonologische Repräsentation zuzugreifen und die entsprechende Wortform zu artikulieren (Mayer 2016b), besondere Bedeutung bei. Glück (2010) nimmt bei wortfindungsgestörten Kindern eine unzureichende Automatisierung der Abrufpfade zu den Wörtern an, die sich in erhöhten Benennzeiten zeigt (Beier / Siegmüller 2013).

unzureichende Elaboration von Wortform und ­bedeutung Wie bereits ausgeführt, scheint bei vielen wortschatzauffälligen Kindern die Ausdifferenzierung und Vernetzung sowie die Einbindung von phonologischen Wortformen in das mentale Lexikon (kurz: die phonologische „Elaboration“) betroffen zu sein. Eine ungenaue phonologische Repräsentation eines Wortes reicht dann möglicherweise zum Verstehen des Wortes aus, nicht aber für die Aktivierung im Wortproduktionsprozess, so dass Abrufstörungen resultieren können (Kap. 2.2.2). Zudem erschwert die unzureichende Differenzierung phonologischer Wortformen die Entscheidung für die Zielform, wenn mehrere phonologisch ähnliche Formen gleichzeitig aktiviert werden (Kap. 1). So konnte für einige wortfindungsgestörte Kinder gezeigt werden, dass sie spezifische Schwierigkeiten damit haben, die korrekte Wortform aus einer Auswahl phonologisch ähnlicher Kandidaten zu selektieren und die nicht-zutreffenden Kandidaten im Aktivierungswettstreit zu ignorieren (German / Newman 2004; Mainela-Arnold et al. 2008, 2010; Leonard 2014; Motsch et al. 2016).

Darüber hinaus finden sich auch empirische Belege für unzureichend elaborierte semantische Repräsentationen im mentalen Lexikon lexikalisch gestörter Kinder. So zeigten einige empirische Studien mit spracherwerbsgestörten Kindern, dass diese über weniger differenzierte semantische Repräsentationen verfügten bzw. das semantische Wissen im mentalen Lexikon unzureichend vernetzt war (McGregor et al. 2002; Dockrell et al. 2003; Alt et al. 2004; Sheng / McGregor 2010a). Zudem werden Verzögerungen in der Organisation und Strukturierung des mentalen Lexikons berichtet (Siegmüller 2003; aber: McGregor / Waxman 1998 für eine Gegenthese).

eingeschränkte Verarbeitungskapazität für Sprache Schließlich sollte auf das Modell der eingeschränkten Verarbeitungskapazität (limited processing capacity framework, z. B. Ellis Weismer 1996, 2000; Ellis Weismer / Hesketh 1993, 1996, 1998) hingewiesen werden. Grundannahme ist, dass spracherwerbsgestörte Kinder nur über begrenzte Kapazitäten zur Verarbeitung von sprachlichem Material verfügen. Sie profitieren daher von einer Reduktion des Sprechtempos, einer Hervorhebung wichtiger Wörter durch Betonung sowie einer weitgehenden Reduktion weiterer Anforderungen an die sprachliche Verarbeitung (Motsch et al. 2016). Zudem zeigte sich, dass dem schnellen Vergessen neu gelernter Wörter am effektivsten durch regelmäßige „Auffrischung“ anhand von zeitlich verteilten Wiederholungen entgegengewirkt werden kann (Riches et al. 2005).

Zusammenfassung

Lexikalische Störungen sind häufige Phänomene im Kontext von (Sprach-) Entwicklungsstörungen bei Kindern. Auch wenn sie auf den ersten Blick weniger deutlich auffallen dürften als Störungen der Aussprache oder der Grammatik, können sie die Gesamtentwicklung der betroffenen Kinder nachhaltig und langfristig beeinträchtigen. Einer möglichst frühzeitigen Intervention kommt daher eine entscheidende Bedeutung zu. Diese sollte mögliche aufrechterhaltende oder verstärkende Faktoren berücksichtigen und hierzu kompensatorische Angebote machen.

3 Diagnostik

Die sprachtherapeutische Diagnostik lexikalischer Störungen zielt auf die Beantwortung folgender Fragen (Abb. 9):

1. Liegt eine therapiebedürftige lexikalische Störung vor (Abklären der Therapieindikation)?

2. Wie lässt sich diese lexikalische Störung beschreiben? (Störungsschwerpunkt bestimmen)

3. Welche konkreten Implikationen ergeben sich für die Planung der Therapie? (Störungsspezifische Therapieplanung)

Abb. 9: Sprachdiagnostik bei lexikalischen Störungen

Im Folgenden wird dargestellt, wie im sprachdiagnostischen Prozess Antworten auf diese Fragen gefunden werden können.

Abklären der Therapieindikation Aufgrund der extrem hohen individuellen Variabilität des Wortschatzes ist es nahezu unmöglich, eine verlässliche subjektive Einschätzung hinsichtlich der Angemessenheit von Wortschatzumfang und -komposition zu treffen. Zwar lassen sich aus der Spontansprache des Kindes sehr wohl erste Hinweise auf lexikalische Defizite sammeln und erkennen (Kap. 2). Gerade im schulischen Kontext stellt die Beobachtung des Verhaltens sowie die Analyse der Spontansprache in der Regel den ersten Schritt dar, um auf potenziell lexikalisch auffällige Schüler überhaupt erst aufmerksam zu werden. Besteht in der Sprachdiagnostik im schulischen oder im therapeutischen Bereich nun aufgrund erster Beobachtungen der Verdacht auf eine lexikalische Störung, so muss dieser jedoch zwingend durch den Einsatz von mindestens einem normierten und standardisierten Testverfahren objektiviert werden.


Beschreibungen deutscher Diagnostikverfahren (teils mit kritischer Reflektion) finden sich bei:

Kannengieser, S. (2015): Sprachentwicklungsstörungen – Grundlagen, Diagnostik und Therapie. 3. Aufl. Elsevier, München,

Motsch, H.-J., Marks, D.-K., Ulrich, T. (2016): Wortschatzsammler. Evidenzbasierte Strategietherapie lexikalischer Störungen im Kindesalter. Ernst Reinhardt, München / Basel und

Rupp, S. (2013): Semantisch-lexikalische Störungen bei Kindern. Sprachentwicklung: Blickrichtung Wortschatz. Springer, Berlin / Heidelberg.

aktiver / expressiver Wortschatz Der Umfang des aktiven (oder expressiven) Wortschatzes wird ermittelt, indem die Wortproduktionsfähigkeiten für ein exemplarisches Set an Wörtern erhoben werden. Bei Vorschul- und Schulkindern wird dies in der Regel über das Benennen von Bildern umgesetzt, für Kleinkinder sowie Kinder mit kognitiven Einschränkungen bietet sich das Benennen von Real- oder Spielgegenständen an. Für Kinder in den ersten drei Lebensjahren stehen Fragebögen zur Verfügung, in denen die Eltern die Wörter ankreuzen müssen, die ihr Kind bereits verwendet (Tab. 12).

Tab. 12: Standardisierte Elternfragebögen


Elternfragebögen
12 Monate
ELFRA 2 (Grimm/Doil 2006)24 Monate
18 bis 26 Monate
FRAKIS (Szagun et al. 2009)18 bis 30 Monate
21 bis 24 Monate
32 bis 40 Monate

Da das zu benennende Itemset naturgemäß nur einen winzigen Ausschnitt aus dem Gesamtwortschatz eines Kindes darstellt, kommt der sorgfältigen Auswahl der Zielitems sowie einer qualitativ hochwertigen Normierung an einer möglichst umfangreichen Stichprobe eine entscheidende Rolle zu. Aus diesem Grund sollten Testverfahren bevorzugt werden, die die Auswahl ihrer Testitems nachvollziehbar begründen und anhand der Itemkennwerte belegen, dass diese Items besonders gut dazu geeignet sind, zwischen sprachauffälligen und sprachunauffälligen Kindern zu unterscheiden. Bei der Normierung sollten die Alterskohorten maximal die Spanne von einem Jahr umfassen, um den enormen Entwicklungsveränderungen im Bereich des Wortschatzes Rechnung zu tragen (Tab. 13).

Tab. 13: Standardisierte Verfahren zur Erfassung des aktiven Wortschatzumfangs


Aktiver/expressiver Wortschatz
2;0 bis 2;11 Jahre
2;0 bis 6;11 Jahre
3;0 bis 5;5 Jahre
3;0 bis 5;11 Jahre
5;0 bis 10;11 Jahre
WWT 6-10: „WWT expressiv” (Glück 2011a)5;6 bis 10;11 Jahre

Wortschatzdiagnostik bei mehrsprachigen Kindern Die Auswahl des aktiven Wortschatz-Tests als erstes – und einzig obligatorisches – standardisiertes Testverfahren begründet sich dadurch, dass sämtliche Erscheinungsformen lexikalischer Störungen anhand von Auffälligkeiten im aktiven Wortschatzumfang deutlich werden. Dies bedeutet: unabhängig vom lexikalischen Störungsschwerpunkt (Kap. 2.2.2) zeigen alle lexikalisch gestörten Kinder Schwierigkeiten beim gezielten, produktiven Gebrauch von Wörtern (Rupp 2008, 2013; Glück 2011a; Motsch et al. 2016). Aus diesem Grund kann die Frage danach, ob ein Therapiebedarf im lexikalischen Bereich vorliegt, eindeutig auf der Basis eines standardisierten und normierten aktiven Wortschatztests beantwortet werden (Tab. 13). Die meisten sprachdiagnostischen Verfahren legen die T-Werte-Skala zugrunde, nach der ein T-Wert < 40 als unterdurchschnittlich (auffällig) gilt. Die eindeutige Therapieindikation auf der Basis eines standardisierten und normierten aktiven Wortschatztests gestaltet sich schwierig, wenn ein Kind mit mehr als einer Sprache aufwächst. Die meisten standardisierten Wortschatztests wurden an einer Stichprobe monolingual deutsch aufwachsender Kinder normiert, so dass der Vergleich mit einer Altersnorm grundsätzlich nur für diese Kinder zulässig ist. Bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern liegt der Umfang eines der beiden Lexika allein oftmals unterhalb des Umfangs monolingualer Kinder, ohne dass dies eine Störung darstellen würde. Es stellt sich somit die Herausforderung für zukünftige Forschungsbemühungen, Diagnostikverfahren zu entwickeln, mit denen der Umfang und die Qualität beider Lexika bzw. das beiden Lexika zugrundeliegende konzeptuelle Vokabular erfasst werden kann (Klassert / Kauschke 2014). Aktuell steht Praktikern zumindest für bilingual türkisch-deutsch aufwachsende Kinder eine türkische Version des WWTexpressiv und WWTrezeptiv mit Orientierungswerten zur Verfügung (Glück 2011a).

 

Störungsschwerpunkt bestimmen Wurde die Frage nach der Therapiebedürftigkeit mit „Ja“ beantwortet (Abb. 9), ergeben sich nun unterschiedliche Möglichkeiten, um differenzialdiagnostisch den spezifischen Störungsschwerpunkt (oder das lexikalische Profil) zu bestimmen.

passiver / rezeptiver Wortschatz Häufig entscheiden sich Sprachdiagnostiker in einem nächsten Schritt dafür, den rezeptiven Wortschatzumfang des Kindes zu bestimmen. Auch hier wird ein exemplarisches Itemset herangezogen, um die Wortverständnis-Fähigkeiten eines Kindes zu ermitteln (Tab. 14).

Tab. 14: Standardisierte Verfahren zur Erfassung des passiven Wortschatzumfangs


Passiver/rezeptiver Wortschatz
SETK 2: „Verstehen I Wörter“ (Grimm et al. 2016)2;0 bis 2;11 Jahre
PDSS: „Wortverstehen (WV) Nomen, WV Verben, WV Adjektive, WV Präpositionen“ (Kauschke/Siegmüller 2010)2;0 bis 6;11 Jahre
3;0 bis 16;11 Jahre
SET 3-5: „Bildersuche“ (Petermann 2016)3;0 bis 5;11 Jahre
5 bis 7 Jahre
WWT 6-10: „WWT rezeptiv“ (Glück 2011a)5;6 bis 10;11 Jahre

In der Regel sollen die Kinder ein Bild (oder einen Gegenstand) aus einer Auswahlmenge zeigen, das zu dem vom Diagnostiker vorgesprochenen Wort passt. Für die Konzeption rezeptiver Testverfahren gelten selbstverständlich die gleichen Vorüberlegungen hinsichtlich der Testqualität wie zuvor bereits beschrieben. Anhand der Anzahl korrekt gezeigter Zielwörter ergibt sich ein quantitatives Maß für den Umfang des rezeptiven Wortschatzes. Dieser kann nun in Beziehung zum Umfang des expressiven Wortschatzes gesetzt werden. Fallen sowohl aktiver als auch passiver Wortschatzumfang unterdurchschnittlich aus, ist von einem quantitativen lexikalischen Defizit auszugehen. Sind die Leistungen im Wortverstehen jedoch deutlich besser als die in der Wortproduktion, spricht dies eher für eine qualitative Störung bzw. eine Abrufstörung (Kap. 2.2.2, Rupp 2008, 2013; Glück 2011a; Ulrich 2012; Motsch et al. 2016). Über die quantitative Betrachtung hinaus ergibt sich über eine qualitative Analyse der gezeigten Ablenkerbilder die Möglichkeit, weitere Einblicke in die spezifischen lexikalischen Defizite des Kindes zu bekommen. So gibt es etwa im rezeptiven Teil des WWT 6-10 (Glück 2011a) neben dem Bild des Zielwortes jeweils ein Bild eines semantischen, eines phonologischen und eines unrelationierten Ablenkers. Wählt ein Kind häufig das Bild des semantischen Ablenkers, deutet dies auf eine Schwierigkeit bei der Differenzierung semantisch ähnlicher Einträge und somit auf Defizite auf der Wortbedeutungsebene hin. Zeigt das Kind hingegen häufig die phonologischen Ablenkerbilder, spricht dies eher für ein Defizit bei der Differenzierung ähnlicher phonologischer Repräsentationen, also einem Störungsschwerpunkt auf Wortform ebene (Glück 2011a).

Benennkonsistenz Eine weitere Möglichkeit, sich dem individuellen Störungsschwerpunkt eines Kindes zu nähern, ist die Bestimmung der Benennkonsistenz. Wie bereits ausgeführt (Kap. 2), ist das fluktuierende Gelingen des Wortabrufs das zentrale Leitsymptom der kindlichen Wortfindungsstörung (Siegmüller 2005). Wortfindungsgestörte Kinder zeigen demnach inkonsistente Benennleistungen. Um die Konsistenz der Benennleistung zu ermitteln, kann der bereits durchgeführte aktive Wortschatztest nochmals durchgeführt werden, so dass anschließend die Benennleistungen aus dem ersten und dem zweiten Durchgang miteinander verglichen werden können. Inkonsistentes Benennen liegt immer dann vor, wenn das Kind ein Wort in einem Durchgang korrekt abrufen und benennen konnte, im anderen Durchgang jedoch nicht. Als „Faustregel“ hat sich mittlerweile durchgesetzt, dass von einer auffälligen, inkonsistenten Benennleistung gesprochen wird, wenn die Inkonsistenzrate mindestens 10 % beträgt (Beier 2013).

Profit von Abrufhilfen Entscheidet man sich für eine Bestimmung der Benennkonsistenz, bietet es sich an, bei der zweiten Durchführung des aktiven Wortschatztests auch Abrufhilfen zu den Wörtern zu geben, die das Kind nicht benennen kann. Diese sollten stets in der gleichen Abfolge von der schwächsten zu der stärksten Hilfestellung gegeben werden (unspezifische Hilfe – semantische Hilfe – phonologische Hilfe, Kolfenbach 2002; Glück 2011a). Innerhalb des WWT sind eine wiederholte Durchführung zur Bestimmung der Benennkonsistenz sowie die Vorgabe von Abrufhilfen möglich. Letztere sind dort auch wörtlich vorgegeben. Bei Durchführung eines anderen aktiven Wortschatztests sollte sich der Diagnostiker an der genannten Hilfenhierarchie orientieren.


Vorgabe von Abrufhilfen: Marco kann in der zweiten Durchführung des AWST-R das Item „bügeln“ nicht benennen.

■ Allgemeine Abrufhilfe: „Überleg nochmal. Was macht sie hier?“

■ Semantische Abrufhilfe: „Das macht man, um Kleidung glatt zu bekommen. Da hat man so ein heißes Eisen und fährt damit über die Falten drüber. Manchmal kommt unten auch Dampf raus.“

■ Phonologische Abrufhilfe: „Das Wort fängt so an: bü-.“

Profitiert ein Kind von den gegebenen Abrufhilfen, ist dies ein Indiz dafür, dass dieser lexikalische Eintrag sehr wohl im mentalen Lexikon vorhanden ist, aber erst mithilfe der zusätzlichen Aktivierungsenergie durch die Abrufhilfe aktiviert werden konnte. Der Profit von Abrufhilfen liefert somit einen Hinweis auf eine lexikalische Zugriffsstörung. Die Wahl des Ablenkers ermöglicht es darüber hinaus, Hypothesen über den möglichen Störungsschwerpunkt hinsichtlich der Abrufstörung zu formulieren (Glück 2011a).

Benenntempo Auch das Benenntempo kann differenzialdiagnostisch herangezogen werden, um den Verdacht auf eine Wortabrufstörung zu untermauern. Während die PC-gestützte Version des WWTexpressiv (Glück 2011a) bereits automatisch die Benenndauer eines Kindes pro Item ermittelt, ist dies bei Durchführung der Paper-pencil-Version eines Tests sicherlich zum einen zu aufwändig, zum anderen auch aufgrund fehlender Vergleichswerte wenig aussagekräftig. Erfolgsversprechender erscheint es, stattdessen sogenannte RAN-Tests einzusetzen (Tab. 15). Dabei handelt es sich um Diagnostikverfahren, mit denen die Fähigkeit zum schnellen und gezielten Benennen von vertrauten, visuell dargebotenen Reizen, erfasst wird (Mayer 2016b). In der klassischen RAN-Anordnung werden dem Kind fünf unterschiedliche, hochfrequente und vertraute Bilder (entweder Objekte, Farben, Buchstaben oder Zahlen) gezeigt. Nachdem diese als bekannt gesichert wurden, soll das Kind diese fünf Stimuli nun jeweils zehn Mal in zufälliger Reihenfolge (also insgesamt 50 Bilder in zufälliger Abfolge) so schnell wie möglich benennen (Beitrag 5). Wortabrufgestörte Kinder haben bei diesem Aufgabenformat in der Regel erhebliche Schwierigkeiten, die sich entweder in einem reduzierten Benenntempo, einer reduzierten Benenngenauigkeit oder kombiniert reduziertem Benenntempo und -genauigkeit zeigen (German 1989; Beier / Siegmüller 2013, Beier 2013).

Tab. 15: Standardisierte Verfahren zur Erfassung der Benennungsgeschwindigkeit


Schnellbenennen
TEPHOBE: „RAN Farben, RAN Objekte, RAN Zahlen, RAN Buchstaben“ (Mayer 2016b)letztes Kita-Jahr, 1. und 2. Klasse
15 bis 17 Jahre

semantische Organisation und Strukturierung Ein weiterer möglicher Störungsbereich wortschatzauffälliger Kinder ist die Organisation und Strukturierung des mentalen Lexikons. Diagnostisch erfasst wird dies in der Regel über Kategorisierungsaufgaben, bei denen verschiedene Vertreter zu einem Oberbegriff sortiert und Ablenkerbilder aussortiert werden müssen, oder bei denen der Oberbegriff für mehrere Kategorievertreter gefunden werden muss. Zudem finden sich hier Aufgaben zum semantischen Assoziieren (Tab. 16).

Tab. 16: Standardisierte Verfahren zur Erfassung der semantischen Organisation


Semantische Organisation
PDSS: „Begriffsklassifikation“ (Kauschke/Siegmüller 2010)2;0 bis 6;11 Jahre
SET 3-5: „Kategorienerkennung, Kategorienbildung“ (Petermann 2016)4;0 bis 5;11 Jahre
4;0 bis 11;5 Jahre
MSVK: „Wortbedeutung“ (Elben/Lohaus 2000)5 bis 7 Jahre
SET 5-10: „Kategorienbildung“ (Petermann 2012)5;0 bis 10;11 Jahre

Einflussfaktoren Neben den möglichen Bereichen, in denen sich die lexikalische Störung manifestieren kann, sollten zusätzlich auch zentrale Faktoren erfasst werden, die aufrechterhaltend oder verstärkend auf die Wortschatzauffälligkeiten wirken können (Kap. 2.3). In erster Linie ist dabei die Kapazität der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses zu nennen, die in der Regel über das Nachsprechen von Pseudowörtern oder Zahlenfolgen erfasst wird (Ulrich 2016). Darüber hinaus kann der Entwicklungsstand der phonologischen Bewusstheit bestimmt werden, um mögliche verstärkende Faktoren zu ermitteln bzw. für die Planung von Therapiemaßnahmen wertvolle Anhaltspunkte hinsichtlich der bereits vorhandenen Fähigkeiten des Kindes zu erhalten.

störungsspezifische Therapieplanung Der diagnostische Prozess sollte so viel Zeit wie nötig, aber aus ökonomischen Gründen auch so wenig Zeit wie möglich in Anspruch nehmen. Dies bedeutet, dass es keine festgelegte Anzahl von Stunden gibt, die eine qualitativ hochwertige Wortschatzdiagnostik umfassen sollte. Vielmehr ist es Aufgabe des Diagnostikers, selbst zu entscheiden, ob die bereits erhobenen Informationen ausreichen, um eine spezifische, individuelle Therapieplanung zu ermöglichen.

Wie aus Abbildung 9 deutlich wird, kann es in einigen Fällen ausreichend sein, sich auf die Kerndiagnostik, also die Beantwortung der Frage nach dem lexikalischen Therapiebedarf, zu beschränken. So ist bspw. für eine strategieorientierte Therapie mit dem „Wortschatzsammler“ (Kap. 4) keine weitere Differenzierung des lexikalischen Störungsschwerpunktes notwendig, da sich diese Methode als vergleichbar effektiv für Kinder unterschiedlicher Störungsschwerpunkte erwiesen hat (Ulrich 2012). Gerade im schulischen Kontext birgt dies den Vorteil, dass die ohnehin oft sehr begrenzte Zahl an spezifischen Therapie- bzw. Fördereinheiten für die tatsächliche Intervention genutzt werden kann.

In anderen Fällen kann es aber durchaus gewinnbringend sein, über die Kerndiagnostik hinaus das spezifische lexikalische Profil eines Kindes näher zu bestimmen. So profitieren vor allem Kinder mit Wortfindungsstörungen nur unzureichend von einer klassischen Elaborationstherapie (Beier / Siegmüller 2013) und benötigen daher (zusätzlich) eine spezifische, auf ihre Zugriffsprobleme abgestimmte „Abruftherapie“, die auf die Förderung des schnellen und gezielten Wortabrufs sowie die Vermittlung von Speicher- und Abrufstrategien zielt (Kap. 4).