Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania

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3 Das Québecer Französisch und die Normfrage

Wenn die alloglotte und anglophone Minderheitsbevölkerung für die aktuelle Betrachtung ausgeklammert wird, liegt in Québec (früher wie heute) ein französischsprachiger Varietätenraum vor, der durch die Einwanderung von Siedlern aus Frankreich mit ihren verschiedenen regionalen Varietäten gekennzeichnet ist. Ohne die historische Entwicklung nachzeichnen zu wollen, kann festgehalten werden, dass die Sprecher in Québec immer stärker dazu übergingen, das Standardfranzösische zu sprechen, wenngleich mit unterschiedlicher Kompetenz und in seiner ganzen Variationsbreite. Auch im heutigen Québec ist das Französische als Muttersprache von 80 % der Bevölkerung in den jeweiligen diastratischen und diaphasischen Varietäten vorhanden, natürlich auch jeweils in diatopischen Ausprägungen. Die Kommunikationssituationen reichen von extremer Mündlichkeit im intimen, privaten Bereich bis hin zur extremen Distanzsprache in hochformellen oder fachlich-wissenschaftlichen bzw. administrativen Situationen. Alle sind zur historischen Sprache des Französischen zu rechnen, unterscheiden sich aber in einzelnen oder mehreren Merkmalen von entsprechenden Varietäten in Frankreich oder anderen frankophonen Regionen.4

In formellen Situationen ist das Französische in Québec im Verhältnis zur europäischen, Paris-zentrierten Varietät weniger stark markiert, in informellen viel stärker, aber in fast allen Äußerungen sind einzelne Merkmale festzustellen, welche die meisten Frankokanadier teilen. Dies ist v.a. in der Aussprache gegeben. Zudem sind einige Kanadismen in allen frankophonen Varietäten sehr verbreitet, welche jedoch in bestimmten Diskursbereichen vermieden und ersetzt werden, in denen ein regionaler Bezug keine Relevanz haben soll. Die Varietät der Québecer Umgangssprache weicht also stark von Äußerungen in offiziellen Bereichen ab und ist für Außenstehende teils schwer verständlich. Der umgangssprachliche Bereich ist am stärksten von diaphasischen Merkmalen geprägt, die auch regional oder sogar lokal diatopisch einzugrenzen sind. Daher unterscheiden sich diese auch innerhalb des Sprachgebiets von anderen Umgangssprachen.

Solche Merkmale könnten dann als Varianten der Québecer Norm gewertet werden. Aber die im Bereich der mündlichen Nähesprache angesiedelten Sprachformen kommen gerade nicht für eine Normierung in Frage, denn eine Normierung widerspräche dem spontanen Charakter der mündlichen Sprechsprache eines Gebiets. Auch das joual, das häufig als besonders charakteristische Varietät des Québécois angesehen wird, ist von einer Normierung auszuschließen, denn es ist der „im Gefolge der Landflucht und Industrialisierung entstandene, von Anglizismen affizierte populäre Sprachgebrauch der unteren Schichten“ (Pöll 1998, 68).

Das zeigt das Dilemma der Normierung einer eigenen Québecer Varietät: Je stärker der Unterschied der spezifischen Merkmale des Québécois zum europäischen Französisch ist, desto mehr Gewicht hätten diese als Argumente für eine Eigenständigkeit dieser sprachlichen Varietät, aber desto stärker sind sie auch auf den gesprochenen und informellen Nähebereich beschränkt, der sich am wenigsten als Träger prestigeträchtiger Varianten für eine Norm eignet. Denn von einem idealen Standpunkt aus wäre die Normierung sinnvoll für eine Varietät, die diatopisch auf Québec eingegrenzt werden kann, die aber diastratisch z.B. auf die Gruppe der Staatsdiener, Beamten oder Lehrer zu beziehen ist und die diaphasisch auf die Situationen der öffentlichen Kommunikation in staatlichen oder gesellschaftlich-relevanten Institutionen oder daran angelehnte und vergleichbare kommunikative Zwecke (öffentliche Kommunikation in Unternehmen) beschränkt wird.

Welches sind nun die Orientierungspunkte für eine Norm des Französischen in Québec gewesen? Die Diskussion über eine Leitvarietät des „guten Französisch“ in Québec ist im Zusammenhang mit der Frage nach dem sprachlichen Leitbild in Frankreich zu betrachten.

4 Die historischen Diskussionen zum sprachlichen Leitbild in Québec
4.1 Wandel des sprachlichen Leitbilds im 18./19. Jh.

Das sprachliche Leitbild der Frankophonen in Québec war bis über die Französische Revolution hinaus der bon usage des Ancien Régime. Dieses sprachliche Vorbild war jedoch durch die Französische Revolution unter den Franzosen abgewertet und durch das neue Modell der Sprache der Pariser Bürgerschaft abgelöst worden. Diese Veränderung im Prestige der Leitvarietät ging einher mit der neuen Schulpolitik der Französischen Revolution, welche zur Folge hatte, dass sich die Schriftkenntnisse ausweiteten und die Varietät des geschriebenen Französisch Vorrang vor mündlichen Varietäten bekam. Gleichzeitig herrschte eine sehr rigide Normvorstellung, wie an mehreren Grammatiken der Zeit zu erkennen ist (Noël/Chapsal 1823; Rotgès 1896). Dadurch wurden auch Aussprachegewohnheiten, die mit der Sprache im Ancien Régime verbunden wurden, als veraltet abgewertet und durch diejenigen der nun herrschenden Schicht der Bourgeoisie abgelöst, die im Ansehen gestiegen waren. Diese Bürgerschicht konnte sich nicht, wie die Adligen, auf Traditionen der Sprache ihrer Gesellschaftsschicht, die lange an der Macht war, stützen, sondern sie vertraute auf die Tradition der Schrift, um zu bestimmen, was korrekt sein sollte. Daher wurden viele Konsonanten der Schrift auch in die Aussprache wieder neu eingeführt. Auch wurden Varianten, die nicht der schriftlichen Form entsprachen, aus dem korrekten Sprachgebrauch ausgeschlossen (vgl. Rey 2008, 74).

Doch ist diese Neuorientierung des sprachlichen Vorbilds in Frankreich aufgrund der Trennung Québecs vom Mutterland im Jahr 1763 in Kanada nicht bekannt geworden. In Québec war mit der Zugehörigkeit zum Kolonialreich Englands die Schulbildung zusammengebrochen, so dass die Alphabetisierung auf niedrigem Niveau verblieb; nur 27 % der Frankokanadier sind bis 1849 alphabetisiert (Galarneau 2000, 103).5 Daher erfolgte die Sprachweitergabe größtenteils auf mündlichem Wege. Die kleine gebildete Schicht hingegen war durch die offizielle englische Sprachpolitik einem starken Einfluss des Englischen ausgesetzt. Daher ergab sich ein sehr volkstümliches Französisch mit altertümlichen Formen und einer steigenden Anglisierung der Sprache. Auch waren einzig und allein missionarische Prediger der katholischen Lehre zur sprachlichen Unterrichtung der Québecer Bevölkerung nach Kanada gekommen, die zweifelsohne Anhänger des Ancien Régime und somit gegen die neuen republikanischen Werte waren. Daher hielten diese Sprachlehrer am alten Sprachgebrauch fest und trugen so zu einer Festigung der traditionellen Sprachvarietät bei.

Im 19. Jahrhundert entwickelt sich das gesprochene Französisch in Kanada sehr deutlich, so dass die neuen Sprechweisen die Aufmerksamkeit einzelner Gebildeter erregen. Neben Anglizismen und Neologismen werden Provinzialismen, Archaismen und Amerindianismen erkannt und zunächst scharf kritisiert, da die gebildete Schicht bestrebt ist, sich an das normative Französisch anzupassen.6 Zugleich nimmt das Bewusstsein über einen starken Einfluss des Englischen zu, der zunehmend als Bedrohung gesehen wird. Eine erste Reaktion auf die Anglizismen und auf Lehnphänomene aus dem Englischen äußert Michel Bibaud 1817 in seiner Kritik in der Zeitschrift L’Aurore:

Rien ne dépare tant un idiome que les mots et tours barbares qu’on y introduit mal à-propos; et les personnes qui ont à cœur la pureté de leur langue, devraient réprouver de tout leur pouvoir et tourner en ridicule, cette manie d’anglifier le français qui paraît devenir plus générale de jour en jour (zitiert nach Bouchard 2012, 87).

Derartig wertende Bemerkungen zur Sprache fachen die Sprachkritik an, die sich schließlich an einzelnen Schriften entzündet.

4.2 Normdiskussion zum Québécois: die Querelle de Thomas Maguire

Im Jahr 1841 beginnt eine intensive Sprachdiskussion, die durch das Erscheinen des Handbuchs für korrekten Sprachgebrauch des Abbé Thomas Maguire entflammt, dem Manuel des difficultés les plus communes de la langue française, adapté au jeune âge, et suivi d’un recueil de locutions vicieuses, Québec: Fréchette et Compagnie. Bereits der Titel deutet auf eine klare Kritik des Sprachgebrauchs der Québecer Schüler hin. Darin beklagt Maguire vor der Folie der Pariser Norm des Französischen mehrere Kanadismen, v.a. in seinem Anhang: Aussprachevarianten, morphosyntaktische Abweichungen, Neologismen, Anglizismen, Archaismen, Provinzialismen, Fachsprachenübernahmen, populäre Ausdrücke etc. Maguire beabsichtigt, „signaler les erreurs de langage particulières au Canada“ (Maguire im Avertissement, nach Bouchard 2012, 96).

Doch wird das Handbuch nicht als Ratgeber aufgefasst, sondern vehement kritisiert. Als erste Reaktion weist Abbé Jérôme Demers als anonymer Autor das Manuel und die angeblichen Fehler in La Gazette de Québec am 23.04.1842 zurück (Bouchard 2012, 90). Auf die Antwort von Maguire vom 28.04.1842 erhält er im August 18427 eine erneute Replik von Demers. Auch der Chefredakteur von Le Canadien, Etienne Parent,8 veröffentlicht einen kritischen Kommentar zum Manuel. Später werden die im Handbuch thematisierten Fragen mehrfach in der Zeitschrift L’Encyclopédie canadienne (im Mai, Juni, August und September 1842) kommentiert und verrissen.

Die angeführten Sprachkritiker gehören alle zur Gruppe der gebildeten Kleriker, die mit französischer Muttersprache in Québec aufwachsen und im Priesterseminar in Québec-Stadt bzw. Montréal ausgebildet werden und dort lehren. Ihr gemeinsames Bestreben ist es, das kulturelle Niveau der Québecer zu erhöhen, was auch Thomas Maguire antreibt. Doch ist er englischer Muttersprachler, der erst mit 13 Jahren eine frankophone Jesuitenschule besucht und nach mehreren Missionsreisen durch Frankreich als Priester Philosophieunterricht im Priesterseminar in Québec gibt. Er hat daher einen größeren emotionalen Abstand zum traditionell gesprochenen Französisch in Québec und vertritt mit Verve die in Frankreich erlernte, angesehene Norm des Pariser Französischen.

 

4.2.1 Soziohistorischer Hintergrund der Normdiskussion

Um zu verstehen, warum das Lehrbuch Maguires so empfindlich aufgenommen und kritisiert worden ist, muss der politische Hintergrund vor Augen geführt werden: Québec war bereits 80 Jahre (1760–1840) ohne direkten Kontakt zu Frankreich, seit der Kapitulation von Montréal bzw. dem Vertrag von Paris 1763, der die Verluste der französischen Überseekolonien bestätigte. 1837–38 wurde in Québec die Forderung nach repräsentativer Demokratie laut, der Parti patriote rief sogar zur Rebellion auf, welche durch die englische Armee niedergeschlagen wurde. In diesem Zuge war Lord Durham aus England geschickt worden, um die zwei Kolonien Haut-Canada und Bas-Canada zu vereinen und dadurch aus der französischen Bevölkerung eine Minderheit zu machen. Ziel sollte die Assimilierung der frankophonen Bewohner sein, denn sie seien – so die Sicht der englischen Machthaber – ein Volk ohne Geschichte und ohne Literatur („sans histoire et sans littérature“, Bouchard 2012, 95). Diese klare Einschätzung war ein Schock für die Gebildeten der Zeit (besonders für Etienne Parent). Gesteigert wurde das Gefühl der Unterdrückung durch den Acte d’Union (1840), in dem das Englische in § 41 zur alleinigen offiziellen Sprache der Union deklariert wurde.9 Diese Zurückdrängung wurde als kollektive Niederlage empfunden, was zu einer gesellschaftlich depressiven Stimmung führte.

Aufgrund der Kritik an der Sprache der Québecer Bevölkerung10 wurde das Manuel als Angriff auf das wichtigste Identitätsmerkmal der Frankokanadier aufgefasst und wie eine Ohrfeige empfunden, denn es wirkte wie eine Bestätigung der Aussage von Lord Durham, dass die Frankokanadier keine Sprachkultur hätten. Somit war es ein Angriff auf die Eigenständigkeit und Schaffenskraft der Kultur in Québec.

Doch ist es nötig, sich die Kritik zu einzelnen Fragen detaillierter anzuschauen, um die Zielrichtung der Sprachkritiker zu verstehen.

4.2.2 Diskussion über die Variante /wɛ/ oder /wa/ <oi>

Als Beispiel für die Normdiskussion kann die Auseinandersetzung um ein (bis heute) zentrales Merkmal des Québécois erläutert werden. Maguire schreibt:

Suivant eux [grammairiens français], voir, boire, croire, moi, toi, droit etc. se prononcent voar, boar, croar, toa, moa, droa. Il faut donc se garder de donner le son de l’È ouvert à la diphtongue oi, et se garder de prononcer, vo-ère, bo-ère, cro-ère, mo-è, to-è, dro-è etc. Le dictionnaire de l’Académie, et la plupart des grammairiens modernes donnent, à quelques exceptions près, la même règle pour la prononciation de la diphtongue oi.

Demers hält ihm entgegen, dass es mehrere Varianten gebe und oa nur in einigen Wörtern die richtige Aussprache sei, in anderen hingegen : Im Wörterbuch von Catineau 181711 würden pois und mois mit oa gesprochen, aber ansonsten sei es moè, toè, soè, croère. Die Aussprachevariante oa sei in Frankreichs Süden verbreitet und habe sich ausgebreitet, aber gelte nur für einige Wörter. Seine Argumentation geht dahin, dass auch in Paris vielfach gesprochen werde und daher der kanadische Gebrauch sehr gut sei. Insofern argumentiert er nicht aus dem Sprachgebrauch in Québec heraus, sondern beschreibt nur, dass die Aussprache vorherrsche. Demers ist somit keineswegs ein Verteidiger der Québecer Aussprache, denn er verurteilt sogar einige kanadische Ausspracheformen, die Maguire nur kurz angesprochen hatte, wie z.B.

Le son de la voyelle a, comme le son de quelques autres voyelles, peut être aigu ou grave: il est aigu dans patte, natte et grave dans hâte, pâte. On conçoit facilement que le son grave doit être plus fort, plus rempli que le son aigu; mais on doit éviter de prononcer l’a comme les anglais le prononcent dans LAW (loi); et les allemands dans JA (oui), avec une effrayante ouverture de la bouche.

Dementsprechend verurteilt Demers diese Aussprache und das Fehlen einer Stellungnahme von Maguire:

Je puis ajouter ici, sans crainte de me tromper, que les Canadiens sincèrement attachés à la langue de leur pays, doivent vivement regretter que l’auteur du Manuel, au lieu de faire de vains efforts pour changer notre prononciation sur quelques points qui ne sont nullement répréhensibles, ne se soit pas élevé avec plus de force contre notre articulation lourde et traînante de la voyelle a, et qu’il ne se soit pas étendu plus au long sur cet article important.

Bis heute hat sich diese velare Aussprache gehalten, die im Pariser Französisch aufgegeben worden ist, da schon im Dictionnaire der Académie française von 1832 kein qualitativer Unterschied in der Aussprache der ehemals palatalen und velaren Variante mehr angenommen wurde, sondern nur noch ein quantitativer (Bouchard 2012, 112).

4.2.3 Bewertung

In dieser Debatte über ein gutes Französisch in Québec wird die normative Ausrichtung von Maguire als Stigmatisierung des Québecer Sprachgebrauchs v.a. in der Aussprache12 aufgefasst. Dabei betreiben Demers und Maguire eine Gelehrtendebatte über die Varianten, die jeweils als normgebend zu betrachten sein sollen. Der Streitpunkt ist, welche Varianten die Richtschnur des Pariser Französisch ausmachen, das in jedem Fall aber die Leitvarietät sein solle, an die sich die Sprecher auch in Québec zu halten hätten. In ihrem Streit beachten sie aber kaum die Fragen zur nationalen Identität Québecs und den Wert der Québecer Varietät. Es sind Diskussionen von Sprachinteressierten, welche das Québecer Französisch als defizitär und zu korrigieren13 ansehen und dem daher kein großer Wert zugesprochen wird.

Nur vereinzelt wird auf die Eigenständigkeit der Québecer Varietät Bezug genommen, wenn z.B. Maguire eine Position der Abgrenzung zum dominierenden Englisch in Québec vertritt, wenn er die formellen, semantischen und syntaktischen Anglizismen scharf verurteilt, welche er als Snobismus brandmarkt:

Quant à l’emploi de mots purement anglais, là où il y a des termes en français qui leur correspondent, c’est une manie insupportable, c’est le comble du ridicule; et cependant combien de personnes, même d’éducation, qui tombent dans ce défaut! Telle Dame ne peut manger de soupe qu’au barley! Tel Monsieur vous prie de lui passer un tumbler pour boire du brandy et de l’eau! Celui-ci vous demande, sans perdre son sérieux, si ces patates (pommes de terre) sont cuites au steam; celui-là si vous avez payé une visite à Monsieur un tel, etc. (Bouchard 2012, 131).

Auch Etienne Parent nimmt eigenständige Entwicklungen des Québecer Französischen wahr, wenn er bei Maguire kritisiert, eine enge Norm bezüglich einzelner Wörter und Gebrauchsweisen vorzugeben, die an der Realität vorbeigehen:

Manchonnier – Ce mot ne se trouve pas dans les dictionnaires, dit l’auteur. La raison en est sans doute que les faiseurs de dictionnaires en France n’ont jamais besoin de manchons; sans cela, ils auraient senti que les faiseurs de ce précieux article de toilette en Canada, méritait bien un nom particulier. Nous demandons droit de bourgeoisie pour le mot manchonnier…,

um schließlich zu fordern: „chaque pays doit avoir droit de création“. Aber davon, eine Norm des Québecer Französischen zu postulieren, sind die sprachbewussten Gelehrten der Zeit noch weit entfernt. Das Gefühl einer sprachlichen Fremdbestimmung, wie es durch den historisch-politischen Kontext und die Sprachdiskussion aus der Mitte des 19. Jh. deutlich wird, sollte sich in den folgenden Jahren zu einer sprachlichen Unsicherheit ausweiten und dann zu der Gegenreaktion eines bewussten Gebrauchs diatopischer Merkmale des Französischen in Québec führen (Bouchard 2012, 155ff.).

4.3 Die Société du parler français au Canada

Die Sichtweise auf das Französische hatte sich durch die Gründung der Société du parler français au Canada (SPFC) im Jahr 1902 deutlich verändert. Diese Institution zur Spracherforschung und -beratung (s. Mercier 2002) erkannte bereits eine eigene Sprachform des Französischen in Kanada an, welche die Grundlage der Gemeinschaft der Frankokanadier bildete, aber dennoch zu perfektionieren wäre. Daher war es ihr Ziel, diese sprachliche Varietät zu erforschen, zu erhalten und auszubauen:

La Société a pour objet l’étude, la conservation et le perfectionnement du parler français au Canada.14

Die Société gab dazu seit ihrer Gründung die Zeitschrift Bulletin du parler français au Canada heraus, welche sich ganz gezielt der Reinigung des Französischen von Fehlern in der Sprachverwendung widmete, also eine veränderte Sprachnorm ansetzen sollte, an der sich ein „gutes“ Französisch in Kanada auszurichten hatte. Ganz praktisch galt es, Archaismen, Neologismen, Lehnwörter oder falsch gebildete Wörter, die sog. „mots déformés“, festzustellen, um eine Norm der frankokanadischen Sprache angeben zu können, wenngleich als Ziel nur die Durchführung einer Studie angegeben wird:

Le premier objet de cette publication est l’épuration de notre langage et nous aurons soin d’y insérer surtout des travaux assortis à ce dessein, des études pratiques et à la portée de tous. […] À côté des articles dont l’objet sera proprement le relèvement de nos fautes de langage, le Bulletin accueillera aussi des communications d’un caractère moins sévère, qui pourront en faire la lecture plus attrayante. […] (Hervorhebung EE).

Sans s’engager dans la voie des considérations philologiques, on pourra encore contribuer à l’étude de la langue populaire; de simples relevés de mots anciens, nouveaux, étrangers, ou déformés, présenteront souvent un réel intérêt et permettront à la Société de faire une étude plus complète du parler de France au Canada.15

In einer dominant englischsprachigen Umgebung wurde das Französische in großer Gefahr gesehen, v.a. durch eine starke Beeinflussung und Assimilierung im Arbeitsleben, Handel und in der Industrie, aber auch in der Literatur, vor der es die Sprache zu schützen galt, wie es das Programm der Société angab:

1° L’étude de la philologie française, et particulièrement l’étude de la langue française au Canada dans son histoire, son caractère et ses conditions d’existence;

2° L’examen des dangers qui menacent le parler français au Canada: influence du milieu, contact habituel et nécessaire avec des idiomes étrangers, déformation graduelle du langage populaire laissé à lui-même, tendances décadentes de la langue dans la littérature, le commerce et l’industrie modernes, et goût trop prononcé pour quelques formes vieillies;

3° La recherche des meilleurs moyens de défendre la langue de ces dangers divers, de lui restituer ce qu’elle a perdu, et de restaurer ses expressions déjà déformées, tout en lui conservant son caractère particulier;

4° Les œuvres propres à faire du parler français au Canada un langage qui réponde à la fois au progrès naturel de l’idiome et au respect de la tradition, aux exigences de conditions sociales nouvelles et au génie de la langue française;

5° La publication et la propagande d’ouvrages, d’études et de bulletins assortis à ce dessein (Marcotte 1902–03, 3).

Trotz der angestrebten Reinigung der Sprache sollte der ihr eigene Charakter erhalten werden („tout en lui conservant son caractère particulier“). Diese zwei Ziele sind jedoch kaum miteinander vereinbar. Gerade auch durch die Absicht, das Französische für die Benennung neuer Gegebenheiten auszubauen und die Sprache gemäß der ihr eigenen Sprachregeln („génie“) weiterzuentwickeln, würde der spezifische Charakter des Québecer Französischen verändert und könnte daher nicht erhalten bleiben.

Im folgenden Jahr 1903 wurde die Zielsetzung abgemildert, indem in Form einer Präambel in dreierlei Hinsicht der Charakter der SPFC bestimmt wurde: 1) als friedfertiges Unterfangen, welches den Staat und die geltenden Sprachgesetze respektiert, 2) als Beitrag zu einer Stärkung der nationalen und kulturellen Identität und 3) als Aufruf an die Mitbürger zur Stärkung des Sprachbewusstseins und der Sprachpflege:

 

1° Œuvre pacifique, la Société évite toute discussion acrimonieuse et se borne à revendiquer les droits que notre loi reconnaît à la langue française. Sans tenter de proscrire l’usage d’aucun autre idiome, elle veut entretenir chez les Canadiens-Français le culte de la langue maternelle, les engager à conserver pur de tout alliage, à défendre de toute corruption, le parler de leurs ancêtres.

2° Œuvre nationale, elle en appelle à tous ceux qui ont à cœur le maintien de la nationalité canadienne-française avec sa foi, sa langue et ses traditions.

3° Œuvre populaire, elle s’adresse à tous les Canadiens-Français, quel que soit leur état, et en quelque partie du pays qu’ils demeurent, qui croient que la langue, gardienne de la foi et des mœurs, remplit mieux son rôle quand elle est saine et en tout conforme à son génie.

Es sollten nun diejenigen Dialektalismen bewahrt werden, die der Tradition und der „Sprachnatur“ entsprachen, wie auch immer diese zu erkennen war:

le relèvement et l’examen des formes archaïques et dialectales du parler populaire canadien-français, et la conservation de celles qui répondent à la fois au développement naturel de l’idiome et au respect de la tradition (Marcotte 1903–04, 10) (Hervorhebung EE).

Die Provinzialismen und Archaismen wurden nun auch von Mitgliedern der Société als legitim angesehen, da sie zur frankokanadischen Tradition und eben nicht zur anglokanadischen zählten. Durch die Arbeit der Société änderte sich die Bewertung des Französischen in Kanada, da es nun als legitimer Ausdruck des frankokanadischen Volks und seiner Geschichte angesehen wurde. Die französischsprachige Gesellschaft wurde immer stärker als nationale Einheit empfunden, deren Identität sich durch die ihr eigene Sprache ausdrückte und nicht durch das akademische Französisch aus Paris, wie es vorher der Fall war. Mit dieser Haltung arbeitete die SPFC an einer Kodifizierung des Französischen in Kanada, publizierte 1930 nach Jahrzehnten intensiver Studien das Glossaire du parler français au Canada und organisierte drei Sprachkongresse (Congrès de la langue française au Canada, 1912, 1937 und 1952). Anthologien zu volkstümlichen Traditionen wurden verfasst, um dieser Sprachvarietät eine Legitimität zu verleihen, so dass der Wunsch nach einer anerkannten eigenständigen Sprachvarietät bzw. Sprache in Kanada wuchs.

Die Société hat mit ihren Veröffentlichungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Sprachberatung in Québec beigetragen und mit ihrer Sprachkritik auch die Normdiskussion bereichert. Durch die sprachpflegerischen Aktivitäten der Société hat sich bei den Intellektuellen der Zeit so ein gewisses Bewusstsein für eine Norm des Québecer Französischen herauskristallisiert, das von der Pariser Norm emanzipiert und Grundlage für eine eigenständige, freie Entwicklung sein kann. Diese Sichtweise kontrastiert allerdings mit dem Gefühl sprachlicher Unsicherheit und Fremdbestimmung, wie es seit Mitte des 19. Jh. in Québec herrscht und nach Ansicht von Bouchard bis heute die Debatte um den Status des Québecer Französischen bestimmt.