Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe

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Fallzuständige FachkraftLeitzeichenErhebungszeitraum


Erscheinungsbild des jungen Menschen 14 – 18 Jahre


Name:Vorname:Geb.:


Körperliche ErscheinungJaBeschreibungDurch wen?
Krankheitsanfälligkeit, häufige Bauch- oder Kopfschmerzen, Asthma
Hinweise auf Fehl-/Über-/Unterernährung
Auffällige Hämatome (v.a. an Rücken, Brust, Po, Bauch, Augen, geformte Hämatome), Striemen und andere Verletzungen, die auf Misshandlung hinweisen
Wiederholte Unfälle mit ernsthaften Verletzungen (z.B. Knochenbrüche, Verbrennungen, Verbrühungen) oder aktuelle ernsthafte Verletzung mit unklarer Entstehung
Sammeleinschätzung+2❏+1❏-1❏-2❏

Wird „Ja“ nicht angekreuzt, ist davon auszugehen, dass keine Auffälligkeit vorliegt.

Die Sammeleinschätzung ist dann mit mindestens +1 (ausreichend) zu bewerten.


Interaktion zwischen Jugendlichem undnegativpositivDurch wen beschrieben?
Wertschätzung/Interesse an Gedanken, Gefühlen und Erkenntnissen des/der Jugendlichen
Emotionale Unterstützung bei Belastung oder Problemen des/der Jugendlichen
Angemessene Beteiligung an Entscheidungen/Förderung von Eigenständigkeit/Respekt vor Bedürfnissen nach Privatsphäre bei dem/der Jugendlichen
Grenzen setzen/erzieherische Reaktion auf Fehlverhalten der/des Jugendlichen
Ermutigung und Förderung von Lernen
Angemessenheit von Erwartungen an Verantwortung/Anstrengungsbereitschaft und Selbstständigkeit der/des Jugendlichen
Strukturierter Tagesablauf/Zuverlässigkeit gegenüber der/dem Jugendlichen
Auseinandersetzung der Eltern mit dem/der Jugendlichen
Sammeleinschätzung+2❏+1❏-1❏-2❏

Nach: Kinderschutzbogen 14–18 – Diagnoseinstrument Kindeswohlgefährdung/Stand 01/2010

Die Bewertungsskala der Einzel- oder Sammeleinschätzungen reicht von +2 = gut über +1 = ausreichend, -1 = schlecht bis -2 = sehr schlecht.

Die Skalenwerte sind nicht mathematisch zu verstehen, können also weder addiert noch zu Mittelwerten zusammengefasst werden. Die Zahlenwerte dienen vielmehr als einfacher, anschaulicher und praktikabler Ausdruck oder Stellvertreter für die damit auszudrückenden fachlichen Einschätzungen, ähnlich wie Schulnoten, mit allen hierfür bekannten Problemen der Verzerrung, Verkürzung und Subjektivität. Auch die Sammeleinschätzungen sind keine rechnerische Zusammenfassung, sondern können entweder durch eine hohe Einschränkung/Problematik in einem Kriterium bzw. Bereich begründet sein oder durch eine in mehreren Bereichen leichtere Einschränkung/Problematik.

Zudem bietet das Instrument einen umfangreichen Orientierungskatalog mit Hinweisen zu allen relevanten Phänomenen des Erscheinungsbildes und der Grundversorgung des Kindes oder Jugendlichen sowie der Interaktion mit den Eltern, die eingeschätzt werden müssen (Tab. 7). Dieser dient der Orientierung und Hilfestellung bei der konkreten Einschätzung, ob z. B. ein Kind altersangemessen ernährt wird. Beispielhaft und umfangreich orientiert er sich an der Frage „Was braucht ein Kind an Grundversorgung und Erziehung?“ Auf dem jeweils aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse können sich die Fachkräfte hier informieren, wie konkrete Ausprägungen und Situationen jeweils mit Blick auf das Gefährdungsrisiko zu bewerten sind. Auch kann dieser Orientierungskatalog im Gespräch mit Eltern genutzt werden, um die Bewertungsmaßstäbe der Fachkräfte nachvollziehbar zu erläutern und ggf. den Maßstäben der Eltern gegenüberzustellen. Und auch hier geht es nicht um rechthaberische Expertise, sondern um transparente Begründungen und Verständigung.

Tab. 7: Auszüge aus dem Orientierungskatalog


Woran zu erkennen?-2 (sehr schlecht)-1 (schlecht)+1 (ausreichend)+2 (gut)
Nahrungs­angebot• Kein regelmäßiges Angebot an Nahrung• Kein regelmäßiges Angebot an Flüssigkeit• Phasenweise kein Angebot an Nahrung, z.B. am Ende des Monats• Einzelne Mahlzeiten fallen ab und zu aus• Regelmäßiges Angebot an Nahrung• Regelmäßiges Angebot an ungesüßter Flüssigkeit (Tee, Wasser, Säfte)
Menge• 1–2 Mahlzeiten pro Tag, häufiger Wechsel zwischen Überernährung und Mangelernährung• Kein Frühstück• Keine festen Mahlzeiten oder ständiges Essen• Regelmäßig 3 Mahlzeiten pro Tag, inkl. Frühstück• Regelmäßig 5 Mahlzeiten pro Tag, davon eine warme: Frühstück, Mittagessen, Abendessen• 2 Zwischenmahlzeiten mit Obst, Joghurt, Quark
Nahrungs­qualität• Verdorbene oder einseitige, nährstoffarme, vorgefertigte Nahrung• Keine Möglichkeit für Kochen und Kühlen• Chips, Cola oder Süßigkeiten als Hauptnahrungsmittel• Kind isst überwiegend Fastfood• Regelmäßig Chips, Cola oder Süßigkeiten als Zwischenmahlzeiten• Ausschließlich Fertigprodukte• Cola absolute Ausnahme• Nährstoff-, vitamin-, ballaststoffreiche Nahrungsmittel, frisch zubereitete warme Mahlzeiten mehrmals pro Woche im Wechsel mit Fertigprodukten


Interaktion zwischen Kind und Hauptbezugspersonnegativpositiv
Wertschätzung/Interesse an Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen des/der Jugendlichen• Die Bezugsperson spricht durchgängig negativ über den Jugendlichen/die Jugendliche und kann auch nach Aufforderung nichts Positives sagen.• Es werden längere Kommunikationsabbrüche geschildert (z.B. „Dann reden wir mehrere Tage nicht mehr miteinander.“).• Die/Der Jugendliche wird nicht mehr mit Namen genannt.• Gefühle des/der Jugendlichen werden als falsch abgewertet und seine Haltung nicht ernst genommen.• Die Bezugsperson spricht auch positiv über die Jugendliche/den Jugendlichen.• Bei Gesprächsterminen kann die Bezugsperson der/dem Jugendlichen zuhören und bemüht sich, seine Position zu verstehen.
Emotionale Unterstützung bei Belastung oder Problemen• Bezugsperson weist Bitten um emotionale Unterstützung zurück (z.B. „Lass mich in Ruhe, ich habe selbst genug Probleme.“).• Bezugsperson verschärft Probleme der/des Jugendlichen durch Schuldzuweisungen (z.B. „Du bist ganz allein selbst schuld.“).• Bezugsperson versteht altersentsprechende Bedürfnisse nach Selbstfindung, Eigenständigkeit, Anerkennung und Integration in die Welt der Gleichaltrigen nicht und bagatellisiert hierbei auftretende Probleme.• Die Bezugsperson kann anhand von Beispielen ein nach wie vor bestehendes Vertrauen zwischen Jugendlicher bzw. Jugendlichem und sich beschreiben.• Bezugsperson versteht altersentsprechende Bedürfnisse nach Selbstfindung, Eigenständigkeit, Anerkennung und Integration in die Welt der Gleichaltrigen und kann auf hierbei auftretende Probleme eingehen.

Nach: Orientierungskatalog – Diagnoseinstrument Kindeswohlgefährdung/Stand 07/2010

Alle Module werden EDV-gestützt bearbeitet, Dokumente für die Aktenführung oder zur Besprechung mit Eltern können jederzeit ausgedruckt werden.

Solche Instrumente zur Gefährdungseinschätzung im Kinderschutz dürfen jedoch nicht isoliert genutzt, sondern müssen in eine qualifizierte sozialpädagogische Diagnostik im hier insgesamt dargestellten Sinne integriert werden. Die Integration einer fundierten Kinderschutzdiagnostik ist insbesondere deswegen bedeutsam, weil auf eingeschätzte Gefährdungsrisiken für das Wohl von Kindern in der Regel mit einer Mischung aus Hilfe- und Schutzauflagen für Eltern geantwortet werden muss, ggf. auch im Anschluss an eine sofortige Inobhutnahme. Um aber die Chancen und Ansatzpunkte für solche Hilfen und vor allem die jeweils notwendige Ausrichtung und Tragfähigkeit von Schutzkonzepten zuverlässig einschätzen zu können, ist in jedem Kinderschutzfall mehr erforderlich als eine isolierte Gefährdungseinschätzung.

Fallanwendung: In der Fallarbeit wird in diesem Fall die aktuelle Situation bezüglich der Versorgung und Entwicklung beider Mädchen mit drei Modulen aus dem „Diagnoseinstrument zur Gefährdungseinschätzung im Kinderschutz“ (= „Erscheinungsbild 6–14 Jahre“ für Maria sowie „Erscheinungsbild 14–18 Jahre“ für Elsa, „Risiken für eine anhaltende Gefährdung“; „Ressourcen für die Abwendung der Gefährdung“) eingeschätzt. Die jeweiligen Einschätzungen der genutzten Bögen (hier nicht eingefügt) werden in einer Übersicht (Tab. 8) zusammengeführt:

Tab. 8: Zusammenfassung der Befunde aus dem Diagnoseinstrument zur Gefährdungseinschätzung: für Elsa (Ziffern in erster Spalte), für Maria (in zweiter Spalte)


Bewertung aus Sammel- bzw. Einzeleinschätzung
Modul ErscheinungsbildU-Heft liegt vorElsaMaria
körperliche Erscheinung+1+1
psychische Erscheinung+1-1
kognitive Erscheinung+2+2
Sozialverhalten+2+1
Modul Interaktion zwischen Kind und
Mutter
Vater
Geschwister
Sonstige: Großmutter-1-1
Modul Grundversorgung und Schutz, Kriterien:
Kinder 0-14 ⇩Jugendliche 14-18 ⇩
ErnährungKörperliche Versorgung (Ernährung/Körperpflege)+1+2
SchlafplatzWohnen/Obdach/Schlafplatz+2+1
Körperpflege./.+1
Kleidung./.+1
Beaufsichtigung und SchutzSchutz vor sexuellem Missbrauch, vor Ausbeutung+2-1
Medizinische VersorgungMedizinische Versorgung+2+1
./.Beteiligung an Lebensentscheidungen+1
BetreuungErziehungssituation-1+1
Modul RisikenInsgesamt +1
materielle Situation von
materielle Situation von
persönliche Situation von
persönliche Situation von
familiäre Situation
Merkmale des Kindes
Merkmale der Hilfegeschichte
Modul RessourcenInsgesamt -1
Aktuelle Hilfen
Ressourcen des Kindes
Ressourcen von
Ressourcen von
Veränderungsbereitschaft von
Veränderungsbereitschaft von
Kooperationsbereitschaft Haupt.
Kooperationsfähigkeit Haupt.
Kooperationsbereitschaft Sekund.
Kooperationsfähigkeit Sekund.

Wahrnehmungen zum Diagnoseinstrument zur Gefährdungseinschätzung

 

In der Bearbeitung der drei eingesetzten Module zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung ergeben sich folgende Wahrnehmungen und Befunde:


akute Gefährdung: keine bei Elsa und keine bei Maria

Kindeswohl bedroht in den Bereichen: „psychische Gesundheit“ bei Elsa und „psychische Gesundheit und soziale Entwicklung“ bei Maria

„erkennbare Risiken der Familie“: keine bei Elsa und keine bei Maria

„nutzbare Ressourcen der Familie“ zum Schutz vor drohenden Gefährdungen: wenig bei Elsa und wenig bei Maria

Hypothese

In der fachlichen Aus- und Bewertung des Diagnoseinstruments zur Gefährdungseinschätzung zeigt sich in der aktuellen Fallsituation eine klare Hypothese:


Die Großmutter sichert aktuell eine ausreichende Versorgung, allerdings zeigen beide Mädchen deutliche Beeinträchtigungen ihrer psychischen Gesundheit, die jüngere auch ihrer sozialen Entwicklung.

Weder die Großmutter noch die Mutter und zurzeit auch nicht die Väter haben die deutlich erkennbaren Bedrohungen für die psychische Gesundheit der Schwestern im Blick.

3.2.6 Kollegiale Beratung und szenisches Fallverstehen – Sechste Annäherung: Welche Emotionen und Dynamiken prägen den Fall?

kollegiale Beratung als strukturiertes Verfahren

Das Instrument: Die kollegiale Beratung ist ein gerade in den letzten ca. zwanzig Jahren vielerorts eingeführtes Instrument in der Sozialen Arbeit, mit der berufliche Handlungssituationen und im Rahmen der Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII insbesondere Fälle systematisch und strukturiert verstanden und reflektiert werden (können). Grundsätzlich ist der Begriff der kollegialen Beratung und vor allem die Formen und Settings der Umsetzung vor Ort recht unbestimmt: Von der Beratung eine/r KollegIn bei der Kaffeepause über das schnelle Erteilen von Ratschlägen bis hin zu einem methodisch klar organisierten Reflexionsprozess in einem Team finden sich in der Praxis viele Varianten. Konzeptionell gehen die methodisch sorgfältig entwickelten Verfahren im Kern auf ein von Heinrich Fallner (1990) entwickeltes Grund- oder Phasenmodell für die Reflexion des beruflichen Alltags in der Sozialen Arbeit und angrenzenden Bereichen zurück, aus dem heraus sich unterschiedliche Varianten entwickelt haben (Schattenhofer/Thiesmeier 2001; Hendriksen 2000; Tietze 2003; Ader 2004b; Schmid et al. 2010). Intensiven Eingang gefunden hat das Konzept in die Kinder- und Jugendhilfe, in der mit dem Inkrafttreten des SGB VIII im Jahr 1990 u. a. das „Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte“ im Rahmen der Hilfeplanung gemäß § 36 verbindlich festgeschrieben wurde.

Das nachstehend skizzierte Konzept der kollegialen Beratung steht für ein nach einzelnen Arbeitsphasen klar strukturiertes, gruppenorientiertes Verfahren zur Situations- oder Fallanalyse, das darauf zielt, eine Situation, ein Problem oder einen Fall möglichst umfassend und gerade in seinen beziehungsdynamischen Anteilen zu verstehen und Handlungsoptionen daraus abzuleiten. Das Verständnis, was genau der Fall ist, wird dabei bewusst weiter gefasst, als es in manch anderen Verfahren der kollegialen Beratung üblich ist (vgl. Fallbegriff in Kap. 2.2.3). Als Charakteristika dieses Grundkonzeptes der kollegialen Beratung sind zu nennen:

ein methodisch-strukturierter Verlauf sowie damit verknüpfte Rollen bzw. Aufgaben,

eine durch das Vorgehen gewährleistete Verbindung von Struktur (sichert notwendige Distanz) und Einfühlung (ermöglicht erforderliche Nähe) und

ein psychoanalytisch/psychodynamisch orientiertes Verstehen über die Methode der personenbezogenen Einfühlung und Identifikation im strukturierten Gruppensetting der kollegialen Beratung (= szenisches Verstehen).

Gemeint ist mit Letzterem das im Verlauf festgelegte Element der Annäherung an den „emotionalen Gehalt“ eine Situation, die erst eine Perspektivenvielfalt eröffnet sowie den Blick auf psycho- und gruppendynamische Phänomene richtet. Dieses für die Fallarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe hilfreiche Konzept der fallverstehenden Beratung in Gruppen ist im Kontext von Forschungsprojekten zur Analyse „schwieriger Fälle“ (Henkel et al. 2002; Ader 2006, 57 ff.) sowie zahlreicher Fortbildungs- und Beratungsvorhaben in Jugendämtern und sozialen Einrichtungen über lange Jahre erprobt und weiterentwickelt worden (Schattenhofer/Thiesmeier 2001; Ader 2004b; Schrapper/Thiesmeier 2004).

Nachfolgend findet sich ein mögliches Verlaufsraster für eine kollegiale Beratung dieser Form (Tab. 9). Varianten sind je nach Gegenstand der Beratung möglich. Entscheidend ist jedoch, auf die Identifikation und Einfühlung als methodischen Schritt (= das szenische Verstehen) nicht zu verzichten, weil gerade dieser den Blick auf das Beziehungsgeschehen richtet.

Verlauf einer kollegialen Beratung, Übersicht

Tab. 9: Verlauf der kollegialen Beratung/des szenischen Verstehens (Dauer: 60 bis max. 90 Min.) (Ader/Schrapper/Thiesmeier 2001, hier: aktualisierte Darstellung)


InhalteModerationsaufgaben
1. Fallvorstellungca. 5 Min.Vorstellung anhandder Daten und Fakten (möglichst schematisiert, z.B. Genogramm + Fallvorlage)/der aktuellen Situationdes aktuellen Beziehungserlebens zu den beteiligten PersonenDarauf achten, dass die Fallvorstellung ungestört von Zwischenfragen erfolgen kann.
2. Beratungsfrageca. 5 Min.Die fallvorstellende Fachkraft formuliert ihr Problem, ihr Anliegen, zu dem sie beraten werden will.Die Beratungsfrage muss bearbeitbar sein und von dem Team akzeptiert werden.
3. Rückfragenca. 5 Min.Die TeilnehmerInnen stellen nur solche Informationsfragen, die erforderlich sind, um die Beratungsfrage bearbeiten zu können (ein „Bild vom Fall“ zu bekommen).Informationsfragen dürfen keine Interpretationen, vorzeitige Lösungsvorschläge oder verdeckte fachliche Angriffe sein.
4. Identifikationsrunde/Fallinszenierungca. 15 Min.Die TeilnehmerInnen übernehmen jeweils eine Position/Rolle aus dem betroffenen KlientInnen- und ggf. Hilfesystem und beschreiben aus dieser Rolle heraus das derzeitige Erleben der Einzelnen. Welches Erleben, welche Wünsche und Befürchtungen haben die Einzelnen?Die zu identifizierenden Personen werden benannt und die Positionen/Rollen verteilt, am Ende der Runde fragt die Moderation nach spontanen Antworten, Erwiderungen untereinander, achtet darauf, dass jede/r zu Wort kommt, fragt die Wünsche der Beteiligten ab.
5. Sammeln von Bildern, Stimmungen, Eindrücken während der Identifikationsrunde („Verdichtung“)ca. 10 Min.Die aufgetauchten Gefühle, Befindlichkeiten, Begriffe, Bilder etc. werden genannt, die z.Zt. herrschende Atmosphäre im Team beschrieben, Assoziationen zusammengetragen. Rückmeldung der fallvorstellenden Fachkraft.Die Begriffe und Einfälle werden aufgeschrieben, keine Diskussion, alles ist wichtig.Am Ende Rückfrage an die fallvorstellende Fachkraft zu ihren Eindrücken und ihrer Befindlichkeit (wird so wieder hereingeholt).
6. Was wird gebraucht?ca. 10 Min.Einfälle werden zusammengetragen, die noch keine konkreten Lösungsschritte sein sollen.Einfälle und Wünsche zusammentragen und visualisieren, ggf. zum Schuss schon priorisieren.
7. Wie kann ein erster Schritt aussehen?ca. 10 Min.Mögliche erste Schritte in der weiteren Fallbearbeitung werden zusammengetragen, die fallzuständige Fachkraft entscheidet, welchen Schritt sie machen will.Einfälle der Gruppe aufschreiben und die fallzuständige Fachkraft fragen, wie sie sich entscheiden will und ob das Team diese Entscheidung mittragen will; bei gegensätzlichen Lösungsschritten nach Verbindung suchen.
8. Reflexionca. 10 Min.Wie hat sich das Team in seiner Beratungskompetenz erlebt, wurde die Beratungsfrage zufriedenstellend beantwortet, wie war die Arbeitsatmosphäre, welche Probleme in der Zusammenarbeit, der Institution, den Rahmenbedingungen sind aufgetaucht, wie können sie angegangen werden?Darauf achten, dass dieser Punkt nicht verloren geht und sorgfältig bearbeitet wird.

szenisches Verstehen

 

Kern dieses Konzeptes ist die sogenannte Fallinszenierung mit dem Element des szenischen Verstehens. Mithilfe des szenischen Fallverstehens sollen Re-Inszenierungen und Übertragungen sichtbar werden (Kap. 4.2.4) und wichtige Hinweise auf Beziehungsdynamiken in und zwischen KlientInnen- und Hilfesystem erbringen. Das Konzept speist sich, wie die meisten sozialpädagogischen Methoden, in seinen theoretischen Begründungen und methodischen Orientierungen aus verschiedenen Quellen. Für das szenische Fallverstehen sind dies zum einem Konzepte einer psychoanalytisch fundierten und angeleiteten Beratungsarbeit für helfende Berufe, wie sie vor allem in Balint-Gruppen, benannt nach Michael Balint, einem ungarischen Arzt und Analytiker, entwickelt wurden (Balint 2001; Roth 1984). Zum anderen sind es Erfahrungen und Konzepte aus der psychoanalytischen Pädagogik, die vor allem die Übertragungs-Gegenübertragungs-Phänomene zu einem besseren Verstehen kindlicher Sichtweisen in Beziehungskonflikten nutzen wollen (Rauh 2010; Trescher 2001).

Fallinszenierung konkret

Im konkreten Ablauf wird nach eingehender Vorstellung und Fallbeschreibung durch die falleinbringende Fachkraft ihre aktuelle Beratungsfrage an die Gruppe der KollegInnen herausgearbeitet. Nach einer Möglichkeit für Rückfragen, die dazu dienen, dass die beratenden KollegInnen ein anschauliches Bild vom Fall und den beteiligten AkteurInnen haben, wird in die Phase der Fallinszenierung eingeleitet. Für eine Identifikationsrunde werden die beteiligten Personen im Familiensystem möglichst vollständig und aus dem Hilfesystem die zentralen Fachkräfte stellvertretend von jeweils einem Mitglied der Beratungsgruppe übernommen. Jede/r übernimmt also nur eine Person und Perspektive.

Mindestens für die Identifikationsrunde setzen sich die „RollenträgerInnen“ in einen inneren Stuhlkreis, die Sitzordnung legt das beteiligte Kind (d.h. dessen RollenträgerIn) fest. (Grundsätzlich bietet sich für die kollegiale Beratung vom Setting her ein Stuhlkreis an, da sich dann Dynamiken besser entfalten können. Es können also auch alle von Beginn an im Stuhlkreis sitzen. Personen aus Familien- und Hilfesystem können auch von mehreren Personen für die Identifikation übernommen werden. Dies bietet sich gerade für Kinder/Jugendliche an, wenn ausreichend Fachkräfte an der kollegialen Beratung teilnehmen).

Dann beginnt die Phase der freien Assoziationen, ausgesprochen in „Ich-Form“. Zuerst wird allerdings seitens der Moderation das Kind bzw. der/die Jugendliche gefragt, wie es bzw. er/sie die Szene und die aktuelle Situation erlebt, wie es bzw. er/sie sich hier und jetzt fühlt. Danach werden in freier Folge die anderen Familienmitglieder befragt, zuletzt die HelferInnen. Die Moderation kann nach einzelnen Aussagen sparsam nachfragen, wie die Beteiligten diese aktuelle Situation in ihren Rollen gerade erleben, insbesondere welche Stimmungen und Emotionen sie wahrnehmen. Dies soll aber nur sehr begrenzt passieren. Zum Abschluss der Identifikationsrunde werden die Beteiligten gebeten, für die übernommene Person in dieser Szene spürbare Wünsche und Hoffnungen sowie Ängste und Befürchtungen zu formulieren. Danach wird die Identifikation beendet. Alle werden aus ihren Identifikationen, also aus den Rollen, „entlassen“ und kehren ggf. auf ihre Sitzplätze in der normalen Sitzordnung zurück. Wichtig ist ein sichtbarer Ausdruck dafür, dass alle Beteiligten aus der Identifikation aussteigen.

Verdichtung

Anschließend werden Eindrücke über die gerade inszenierte Szene eingesammelt und es wird versucht, bestimmende Emotionen und erkennbare Themen für die Kinder, die anderen Familienmitglieder sowie die beteiligten HelferInnen herauszuarbeiten. Hier wird auch die fallvorstellende Fachkraft einbezogen, zuerst mit der Frage, ob sie ihre Familie in der Szene wiedererkannt hat. Es geht allerdings noch nicht um fachliche Erklärungen. Darauf aufbauend werden mit der Frage „Was wird in dieser Szene gebraucht?“ die Bedürfnisse und Interessen der Beteiligten erkundet, zunächst die der Kinder, dann die der Eltern und anderer Familienmitglieder sowie die der HelferInnen. Wichtig ist an dieser Stelle der Auswertung, dass noch nicht „mit der Schere im Kopf“ zusammengetragen wird, ob das Jugendamt und andere Fachkräfte diese Bedürfnisse und Interessen befriedigen können. Erst in einem nächsten Schritt wird konkreter überlegt und entschieden, was prioritär ist und welches Hilfekonzept tatsächlich sinnvoll und umsetzbar erscheint. In diesen Arbeitsschritt werden dann Ideen und Hinweise für nächste Schritte in der weiteren Arbeit im Fall, insbesondere mit Bezug auf die eingangs formulierte Beratungsfrage, zusammengetragen. Eine Rückmeldung der Fachkraft, die ihren Fall vorgestellt hat, sowie eine kurze Reflexionsrunde schließen die kollegiale Beratung.

geübte Moderation unverzichtbar

Eine solche kollegiale Beratung ist weit mehr als das „Abarbeiten“ von methodischen Verlaufsschritten. Eine geübte Moderation muss darauf achten, dass die einzelnen Arbeitsphasen eingehalten werden. Gerade für die Identifikationsrunde ist es wichtig, dass Assoziationen unbewertet gesagt werden können, kurze Resonanzen möglich sind, sich aber keine „Rollenspieldynamik“ entfaltet. Zweck ist es, die im Hilfesystem repräsentierten Dynamiken, Übertragungen und Gegenübertragungen stellvertretend für die jeweils fallführenden KollegInnen mit verteilten Rollen auszusprechen und so als diagnostisches Material zugänglich zu machen. Anschließend erst können mit diesem Material die Wahrnehmungen und Deutungen der fallverantwortlichen Fachkräfte reflektiert und zu weiterführenden Vorstellungen über nächste Schritte in der Verständigung mit Kindern und Eltern verdichtet werden.

Fallanwendung: Die kollegiale Beratung bildet i.d.R. den vorläufigen Abschluss des Fallverstehens und der Diagnostik. Es werden zuvor gewonnene Erkenntnisse eingebracht, vor allem aber erfolgt insbesondere durch das Element Identifikation und szenisches Verstehen eine bewusste Einfühlung in den Fall und seine affektiv besetzten Dynamiken.

Wird ein Fall wie der der Familie Kramer in kollegialen Arbeitszusammenhängen so intensiv bearbeitet wie im hier geschilderten Rahmen, bedarf es für die erste Phase, die Fallvorstellung, nur noch sehr wenig Zeit. In der Darstellung der kollegialen Beratung, genauer des szenischen Verstehens wird hier somit der Fokus auf die der Fallvorstellung nachgehenden Phasen gelegt.

Beratungsfrage

Die Fallvorstellung schließt immer mit einer konkreten Baratungsfrageder fallvorstellenden Fachkraft ab. Frau Maier (ASD) formuliert als Beratungsfrage an die Runde:


„Was brauchen Elsa und Maria an Unterstützung vom ASD um jetzt weiter ‚gut groß’ werden zu können? Ist die Unterbringung bei der Großmutter als Verwandtenpflege nach §§27/33 SGB VIII noch die dafür geeignete Hilfe?“

Für die sich anschließende Identifikationsphase werden als aktuell bedeutsam folgende Personen ausgewählt:

Elsa (14 Jahre)

Maria (12 Jahre)

Eva Kramer, Mutter der Mädchen (42 Jahre)

Birgit Kramer, Großmutter (68 Jahre)

Vater von Elsa (49 Jahre)

Vater von Maria (47 Jahre)

Amtsvormund

fallzuständige Fachkraft im ASD, Frau Maier

Identifikation; Perspektiven der Beteiligten

Unkommentiert erfolgt dann die Identifikation, d. h. alle Personen sprechen in Ich-Form und nur aus der jeweils übernommenen Perspektive. Es geht rein assoziativ um ihr Befinden, ihre Gedanken, ihre Wünsche, Befürchtungen etc. Es ist ausdrücklich kein Rollenspiel, seitens der Moderation werden also maximal sehr kurze Resonanzen auf einzelne Beiträge anderer Personen zugelassen, wenn diese spontan geäußert werden. Hier nur skizzenhaft und verdichtet wiedergegeben, werden in der Fallinszenierung unterschiedliche Perspektiven und Geschichten der Beteiligten deutlich:

die Mädchen, Elsa und Maria


Perspektive von Elsa und Maria: (hier verkürzt für beide zusammengefasst)

„In den ersten 3 bzw. 5 Lebensjahren sind wir mal bei Mama und mal bei den Großeltern, immer hin und her, so wie es bei der Mama gerade geht. Wenn Mama gut drauf ist, ist es schön, aber oft ist sie unheimlich und macht uns Angst, sie ist dann gar nicht richtig ansprechbar und nimmt uns kaum wahr. Manchmal ist sie auch eine ganze Weile in einem Krankenhaus. Als ich (Elsa) 5 war und Maria 3 Jahre, kamen so Leute vom Jugendamt und wollten sich um uns kümmern und Mama helfen, aber Mama hat die bald wieder rausgeschmissen. Als wir in die Grundschule kamen, war es eine Weile klasse, aber Mama war eigentlich immer gestresst. Ob wir schuld sind daran, dass es ihr oft schlecht geht? Wir helfen doch auch mit zu Hause, schon lang. Manchmal haben wir auch viel Spaß mit Mama gehabt. Das war super, vor allem auch, wenn Opa und Oma mit dabei waren. Aber bei Mama weiß man nie … Nach einem riesen Krach, den Mama gemacht hat, kam dann ein Mann vom Jugendamt und sagte, er sei jetzt unser Vormund und würde für uns sorgen. Dabei hat Mama doch schon eine Betreuerin. Bald danach durften wir lange bei Oma und Opa bleiben, das war eine schöne Zeit. Mama ist wieder völlig ausgeflippt und wir haben sie über ein Jahr nicht gesehen. Maria hat die Mama noch mehr vermisst als ich. Aber es war okay, wie kannten das ja schon mit Mamas Krankheit. Da müssen wir ihr helfen. Aus dem Krankenhaus hat Mama einen neuen Mann mitgebracht, sie ist mit dem weggezogen und bald ist sie schwanger geworden. Wir haben eine neue Schwester gekriegt, die Besuche bei Mama sind oft total stressig, dann kommen auch Leute vom Jugendamt mit, um auf uns aufzupassen, wie sie sagen. Ganz überraschend ist Opa gestorben, als ich fast 13 war und Maria 11. Das ist sehr schlimm, für uns und für Oma, die jetzt immer ganz traurig ist. Es ist nicht mehr so schön wie früher. Aber die Besuche bei Mama sind wieder schöner. Oma sagt, dass sie ganz schön müde ist, vielleicht wird sie auch alt. Dann müssen wir sie entlasten. Ich, Elsa, möchte wohl gern bei Mama bleiben, da kann ich ihr auch gut helfen mit dem neuen Kind, meiner dritten kleinen Schwester, die jetzt gerade geboren ist. Aber ich weiß nicht, bei Mama ist es doch doof und so anstrengend, immer darf ich nur machen, was sie will, und ihr neuer Mann ist auch nicht so nett. Und die kleinen Babys stehen immer im Mittelpunkt. Kürzlich waren wir alle bei Mama und dann kam die Polizei und hat uns gesucht, wir haben uns auf dem Dachboden versteckt. Immer mal sehen wir auch unsere Väter und mein Papa (Maria) hat sich um uns gekümmert, als Oma ganz schnell zu Mama wollte, als sie das neue Kind gekriegt hat. Mama ist total mit den neuen Mädchen beschäftigt und Oma kann nicht mehr, die muss ihr ja jetzt auch noch helfen. Wir wissen überhaupt nicht, wo wir in diesem ganzen Hin und Her bleiben sollen.“

Mutter, Eva Kramer

Perspektive von Eva Kramer, Mutter der Mädchen:

„Mit 28 habe ich ein erstes Kind bekommen, die Elsa mit Klaus, mit 30 Jahren das zweite Kind, die Maria mit Uwe – das war doch völlig normal. Ich hatte mich ja neu in den Uwe verliebt und der hatte auch studiert und eine Arbeit. Allerdings hat der Idiot mich auch schnell wieder verlassen, da stand ich dann da mit den beiden kleinen Mädchen, ohne Job, nur eine kleine Wohnung. Immer wieder musste ich mir Geld leihen von den Eltern, das fand ich saublöd. Und dann diese blöde Krankheit, die manchmal einfach kommt, dann weiß ich nicht mehr ein noch aus. Bin dann richtig verwirrt, aber das ist immer nur kurz. Die anderen machen immer gleich ein Drama daraus … Als die Mädchen noch recht klein waren, bekam ich eine gesetzliche Betreuerin. Wieso denn? Warum denken alle, ich brauche Unterstützung, schaffe es nicht allein? Ich sorge doch fast immer für die Mädchen. Meine Kinder sollen bei mir sein, damit ich zeigen kann, dass ich das alles schaffe! Ich zeige allen, dass ich eine gute Mutter sein kann. Die Mädchen kommen in die Kita und dann in die Grundschule. Ich kriege das geregelt. Und dann, ich war nur mal zwischendurch im Krankenhaus eine Weile, wird mir die elterliche Sorge entzogen? Die Männer haben mich verlassen und in dem Moment auch meine Eltern, vor allem meine Mutter hat nicht für mich gekämpft. Aber um die Mädchen hat sie sich gut gekümmert. Ich liebe meine Mutter, aber manchmal hasse ich sie auch. Und dass Papa so plötzlich gestorben ist, das war für uns alle ein großer Schock. Plötzlich einfach weg, ein bisschen hat es sich angefühlt wie bei Klaus und bei Uwe: plötzlich allein, im Stich gelassen. Aber jetzt habe ich einen neuen Start, weg aus der Großstadt, mit meinem neuen Mann Maik, der mich versteht und der zu mir steht – und von dem habe ich jetzt auch zwei Kinder! Wir sind eine Familie. Mit den großen Mädchen, ich weiß nicht, im Moment brauchen mich die kleinen Mädchen sehr. Wieso nervt das Jugendamt jetzt schon wieder? Ich schaffe es alleine, und wenn, dann hilft meine Familie, das reicht mir völlig als Unterstützung. Vor allem freue ich mich jetzt über das ganz neue Kind, ein Sonnenschein.“

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