Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe

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den positiven Ausgang im Blick zu haben, nach vorn zu schauen,

das Gleichgewicht zu halten,

ein kalkulierbares Risiko einzugehen,

nicht von Angst geleitet zu sein,

und eine gewisse Leichtigkeit bzw. „professionelle Gelassenheit“ zu entwickeln,

ohne das Risiko des möglichen Falls zu unterschätzen.

eigene diagnostische Kompetenz Sozialer Arbeit

Entsprechend dieser Ausführungen lässt sich resümieren, dass die Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe über eine eigenständige diagnostische Kompetenz verfügt. Diese krankt aktuell jedoch u. a. daran, dass sie mit ihren spezifischen Merkmalen und Anforderungen aus der eigenen Profession heraus nicht klar genug vertreten und begründet wird, was wiederum mit einer unzureichenden Sprachfähigkeit in der Kooperation mit anderen Professionen einhergeht.

3.2 Basisinstrumente für Fallverstehen und Diagnostik konkret: Der Fall Familie Kramer

Neben allen grundsätzlichen Orientierungen (vgl. Kapitel 2 und 3.1) sind für sozialpädagogisches Fallverstehen und Diagnostik auch konkrete Methoden notwendig, um Fälle professionell bearbeiten zu können. Instrumente hierfür stehen in der Sozialen Arbeit reichhaltig zur Verfügung. Allerdings werden diese in der Praxis häufig eher zufällig genutzt (abhängig z. B. davon, welche Kompetenzen in einem Team gerade vorhanden sind). Gründe für ihre Auswahl können oft nicht exakt benannt werden, und noch seltener gibt es eine klare Antwort auf die Frage nach dem institutionellen Rahmen bzw. Konzept für die fallverstehende und diagnostische Arbeit in einer Organisation.

Entscheidend ist aus unserer Sicht – auch für die Verdeutlichung der disziplinären Expertise innerhalb und außerhalb der Profession –, dass die Kinder- und Jugendhilfe ein eigenständiges Konzept beschreiben kann. Dies muss sich dadurch ausweisen, dass es die drei skizzierten Materialzugänge berücksichtigt (Fakten, Selbstdeutungen, Reflexion der Hilfegeschichte), sowohl Risiken als auch Ressourcen in den Blick nimmt. Für die beschriebenen Zugänge zu einem Fall (vgl. Kap. 2.2.3) ist ein Set von Instrumenten erforderlich, das regelhaft, d. h. nicht nur situativ, ausschließlich personenabhängig und damit zufällig genutzt wird. Nur durch diese methodische Strenge in den Arbeitsweisen kann einerseits der Eindruck methodischer Beliebigkeit vermieden werden und andererseits die Störanfälligkeit und Spannung (aus-)gehalten werden, die eine Arbeit mit Familien in Belastungs- und Krisensituationen in vielerlei Hinsicht auslöst.

Das hier vorgestellte theoretische Konzept ist über Jahre gemeinsam mit Fachkräften und in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt worden, vor allem in den Sozialen Diensten der Jugendämter, aber vielfach auch mit Freien Trägern (dazu Ader/Schrapper/Thiesmeier 2001; Ader/Schrapper 2004; Schrapper 2013c; Ader/Schrapper 2018). Zudem wurden in der Weiterentwicklung und Fundierung aktuelle Theoriediskurse sowie Anregungen aus Diskursen in der „scientific community“ immer wieder aufgegriffen und einbezogen.

sechs Basis-Instrumente

Für die fallverstehende und diagnostische Arbeit haben sich sechs Basis-Instrumente bewährt, die gemeinsam das instrumentelle Grund- bzw. Gesamtkonzept bilden. Wesentliche Funktion dieser Instrumente ist es, die aus unterschiedlichsten Gesprächen, Beobachtungen, Berichten und Fallakten gewonnene Fülle an Informationen und Erkenntnissen zu einem Fall geordnet und schrittweise so aufzubereiten, dass sie für die fallanalytische Arbeit, insbesondere die sukzessive Hypothesenbildung zugänglich gemacht werden.

Die für diese Aufgaben vorgeschlagenen Instrumente (Abb. 8) für Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik sind mehrheitlich weder neu noch exklusiv, sondern entstammen überwiegend dem reichhaltigen Fundus systemischer, gruppenorientierter und psychoanalytischer Methodenkonzepte.


Abb. 8: Sechs Perspektiven – ein Fall: Basis-Instrumente

In der Annäherung an einen Fall der Kinder- und Jugendhilfe, in dem es um die Versorgung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen, um die Notwendigkeit öffentlicher Unterstützung sowie ggf. auch um den Schutz dieser jungen Menschen geht, können diese Instrumente in sechs Fragen „übersetzt“ werden, die in diesem Kontext immer zu bearbeiten sind:

sechs leitende Fragen

1. Wer gehört dazu und wie gehören die Beteiligten zusammen? (Genogramm)

2. Was ist bisher passiert und was hat wen oder was beeinflusst? (Fallchronologie)

3. Was können und worüber verfügen Kinder und Eltern? (Ressourcenkarte)

4. Welche Beziehungen sind wichtig und wo lässt sich anknüpfen? (Netzwerkkarte)

5. Droht Gefahr für Leib, Leben und die gesunde Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen? (Diagnoseinstrumente zur Risikoeinschätzung bei Kindeswohlgefährdung)

6. Welche Emotionen und Dynamiken prägen den Fall? Wo bin ich wie in diesen Fall „verstrickt“? (Kollegiale Beratung/Szenisches Fallverstehen)

systematische und schrittweise Hypothesenbildung

In der konkreten Anwendung ist entscheidend, dass diese Instrumente systematisch genutzt werden und in der weiteren Bearbeitung des gewonnenen Materials vor allem die Bezüge und Wechselwirkungen zwischen (a) Faktenlage, (b) subjektiven Erfahrungen und (c) Hilfegeschichte verstanden und diagnostiziert werden können (Abb. 9). Ziel ist es, auf der Grundlage des so erschlossenen Materials fundierte Hypothesen zu erarbeiten (Kap. 5.4), die sowohl mit Kindern und Eltern, als auch mit beteiligten Fachkräften im Verlauf einer Hilfe immer wieder kritisch geprüft werden.


Abb. 9: Sukzessive Hypothesenbildung (eigene Darstellung aus unveröffentlichtem Seminarmaterial, Ader/Höppner 2018)

Der Fall „Familie Kramer“: Was brauchen die Mädchen?

Instrumente und Fallanwendung

Nachfolgend werden die sechs methodischen Instrumente einzeln vorgestellt und jeweils anhand des in Kapitel 1 skizzierten Falls beispielhaft „in die Anwendung“ gebracht, d. h. auf den Fall der Familie Kramer bezogen. Über diese Annäherung aus unterschiedlichen Perspektiven entsteht – zu einem bestimmten Zeitpunkt und für eine immer zeitlich begrenzte Gültigkeit – schrittweise eine sozialpädagogische Diagnostik i.S. von Hypothesenbildung zu diesem Fall.

Durch die gewählte Darstellungsweise soll ein anschauliches Bild der konkreten Arbeit mit den Instrumenten und des damit verbundenen Prozesses aufgezeigt werden. Zur vertieften Einarbeitung in die methodischen Instrumente ist es sicherlich hilfreich weiterführende Publikationen zur eigenen Lektüre hinzuzuziehen; entsprechende Quellen sind jeweils angegeben.

der Fall: Familie Kramer

Die Fallschilderung basiert (vgl. Kap. 1) auf einem realen Fall, der von der zu diesem Zeitpunkt zuständigen sozialpädagogischen Fachkraft eines Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) Ende 2016 in einer Fortbildung zum Thema „Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen“ vorgestellt und in einer kollegialen Beratungsgruppe bearbeitet worden ist. Alle personenbezogenen Angaben sind anonymisiert. Wir haben uns hier bewusst für einen „echten“ Fall entschieden, um die Arbeit mit den Lücken, Mehrdeutigkeiten und Brüchen einer Falldarstellung zeigen zu können, die jede Fallarbeit im „wirklichen Leben“ kennzeichnet.

Für das fallbezogene Mitdenken im weiteren Verlauf empfiehlt sich, die Fallbeschreibung aus Kapitel 1 zu kennen.

Fallvignette: Familie Kramer


Es geht um Elsa (14 Jahre) und Maria (12 Jahre). Die Mädchen haben seit fünf Jahren einen Amtsvormund (AV) und eine Fachkraft des Pflegekinderdienstes (PKD) ist zuständig für das Pflegeverhältnis (gem. § 33 SGB VIII) bei der Großmutter (Birgit Kramer). Aktuell geht es vor allem darum, wo die Mädchen weiterhin leben können, denn ihre Mutter (Eva Kramer) hat ihr Leben wiederholt weitreichend verändert und ihre Großmutter, bei der beide seit gut fünf Jahren leben, ist erschöpft und muss sich zusätzlich um die ganz jungen Enkeltöchter kümmern. Daher soll die Unterbringung der beiden Mädchen in der Form einer Verwandtenpflege bei der Großmutter überprüft werden.

 

Auf das bevorstehende Hilfeplangespräch will sich die relativ neu für diesen Fall zuständige Fachkraft im Rahmen der gemeinsamen Arbeit am Fall vorbereiten. Es soll eine fachliche Einschätzung zum Fall i.S. von Fallverstehen und sozialpädagogischer Diagnostik entwickelt werden.

In der Alltagspraxis Allgemeiner Sozialer Dienste in Jugendämtern und auch in Einrichtungen und Diensten Freier Träger ist es oftmals so, dass Ergebnisse aus der Anwendung einzelner Instrumente bereits als Erträge vorheriger Arbeitsschritte in die kollegiale Fallberatung eingebracht werden. Genogramm, Netzwerkarte und Ressourcenkarte können z. B. sehr gut mit Familien bzw. einzelnen Familienmitgliedern gemeinsam erstellt werden.

(ausführliche Fallvorstellung in Kap. 1)

3.2.1 Das „Genogramm“ – Erste Annäherung: Wer gehört dazu und wie gehören die Beteiligten zusammen?

Das Instrument: Ein Genogramm ist eine grafische Abbildung ähnlich einem Familienstammbaum, mithilfe dessen Informationen über die Abstammungsgeschichte einer Familie und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen strukturiert abgebildet werden. Als eigenständige Arbeitsform findet die Genogrammarbeit vor allem in familientherapeutischen Settings statt, in der sie auch ihren Ursprung hat. McGoldrick/Gerson (2009; erstmals 1985) beschreiben es in ihrem Klassiker der Methodenliteratur so:

„Genogramme zeichnen in grafischer Form – über mindestens drei Generationen hinweg – Informationen über eine Familie auf, ähnlich einem Familienstammbaum, und enthalten die vielfältigsten Informationen über die Mitglieder einer Familie und ihre Beziehungen. Sie ermöglichen einen raschen Überblick über komplexe Familienstrukturen und bilden eine reichhaltige Quelle zur Hypothesenbildung sowohl über die Verknüpfung eines (klinischen) Problems mit der Familienstruktur als auch über die historische Entwicklung dieser Struktur und der damit verbundenen Probleme“ (McGoldrick/Gerson 2009, 13 f.).

Die Arbeit mit Genogrammen wird ebenso in Ausbildungsgruppen für Beratung und Therapie wie in der Medizin oder eben in der Sozialen Arbeit (z. B. Hildenbrand 2011; Roedel 2009) angewendet. Für die Fallarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe sind Genogramme ein ausgesprochen hilf- und aufschlussreiches Instrument, erfassen sie mit Abstammung und Familienstruktur zentrale Merkmale von Kindheit und Jugend. Genogramme können von einer Fachkraft allein oder auch sehr gut im Dialog und gemeinsamen Prozess mit AdressatInnen erarbeitet und gedeutet werden, um gemeinsam einen Überblick und ggf. einen Einstieg in vertiefende Gespräche zur Bedeutung der Familienbeziehungen für die konkrete Situation zu gewinnen.

Ein Genogramm über mindestens drei Generationen (Großeltern, Eltern, Kinder) anzulegen ist wichtig, um ggf. erkennen zu können, ob Strukturen und/oder spezifische Themen im aktuellen Eltern-Kind-Generationenverhältnis schon in der vorherigen Generation bedeutsam waren (z. B. häufige Beziehungsabbrüche, bestimmte Beziehungsqualitäten, Konfliktwiederholungen, Brüche, Themen wie Sucht, Todesfälle, Krankheiten). Insgesamt ermöglicht die grafische Darstellung eine Antwort auf die Frage „Wer gehört dazu?“; möglich wird ein rascher und klarer Überblick über häufig komplexe Familiensysteme – ein erstes Bild entsteht. Insgesamt erfüllt ein Genogramm mindestens drei Funktionen: Es unterstützt sowohl die Familienanamnese als auch die Familiendiagnostik und stellt gleichzeitig (wenn es dialogisch erarbeitet wird) eine konkrete Intervention ins System dar oder kann – nach Auswertung und Hypothesenbildung – als Grundlage gezielt zur Intervention genutzt werden. Über die grafische Darstellung kann etwas deutlich gemacht und in Worte gebracht werden.

Genogramm­symbole

Für die Darstellung werden spezifische Symbole verwendet, die sich mehrheitlich durchgesetzt haben (Abb. 10). Für die Darstellung seltener Fakten finden sich in der Literatur mitunter etwas unterschiedliche Symbole. In aller Regel kann man sich allerdings gut in einem ggf. etwas anders gezeichneten Genogramm orientieren; meist gibt es in einem bestimmten institutionellen Zusammenhang eine entsprechende Legende für die Symbole.


Abb. 10: Häufig genutzte Genogrammsymbole

Genogramm­erweiterung

Erweitert werden kann ein Genogramm bei Bedarf um Informationen, die über den Familienstammbaum hinausgehen. Dies sollte jedoch sparsam und kontextbezogen genutzt werden, also daran orientiert, wozu die Erarbeitung des Genogramms genutzt werden soll. Die Übersichtlichkeit der Darstellung bleibt leitender Faktor bei der Entscheidung, um welche Aspekte ein Genogramm erweitert wird. Dies könnten sein, z. B. Wohnorte, Herkünfte, Umzüge/Ortswechsel, Berufe, körperliche/psychische Krankheiten, Todesursachen, Eigenschaften, die Personen zugeschrieben wurden/werden, Begriffe zur Kennzeichnung der Familienatmosphäre, wiederkehrende Themen/Geschichten in der Familie, besondere Stärken und/oder Tabuthemen/-personen: Worüber/über wen wurde nicht gesprochen oder durfte nicht gesprochen werden?

Erstellung und Auswertung

Bei der Erstellung eines Genogramms (vgl. Schwing/Fryszer 2017; Roedel 2009) ist u. a. zu beachten, dass

die Generationen immer in einer Ebene dargestellt werden; die älteste Generation steht oben. Optisch muss in der Darstellung direkt zwischen den unterschiedlichen Generationen unterschieden werden können.

es sinnvoll ist, mit den Kindern der Familie zu beginnen (also unten auf einem Blatt).

auf der Kinderebene die Kinder dem Alter nach von links nach rechts geordnet werden (die ältesten zuerst, die jüngsten zuletzt), und zwar zunächst die Kinder des aktuellen Familiensystems.

neben den aufgeführten Symbolen die Namen, Vornamen und auch das aktuelle Alter und/oder das Geburts-/Todesdatum der Personen verzeichnet werden sollte.

durch das Umkreisen von mehreren entsprechenden Personen kenntlich gemacht wird, wer aktuell zusammen in einem Haushalt lebt.

bei sehr großen und komplexen Familiensystemen eine Auswahl zu treffen ist, abhängig vom jeweiligen Kontext. (Dies erfordert etwas Übung; nicht weggelassen werden sollte jemand z. B. nur, weil er oder sie schon verstorben ist. Gerade dies kann in einem System eine enorme Wirkung erzeugen.)

Insgesamt zeigt sich in Genogramm-Darstellungen schnell die Komplexität von (modernen) Familiensystemen. Genogramme können kompliziert zu zeichnen sein, sehr unübersichtlich werden und müssen gelegentlich ein zweites Mal übersichtlicher erstellt werden. Genutzt werden in der Praxis auch EDV-Programme dafür.

Bei der Auswertung von Genogrammen geht es, wie bei allen angewendeten Instrumenten, zunächst um das Zusammentragen von Wahrnehmungen und darauf aufbauend um die Bildung von Hypothesen, welche die aktuellen Wahrnehmungen, Ereignisse und Fragen erklären könnten. Als leitende Fragen dazu können hilfreich sein:

Was fällt „auf den ersten Blick“ auf?

Was fällt in der Familie auf und in welchem Bezug könnte dies zur aktuellen Situation stehen?

Lassen sich über mehrere Generationen ähnliche Muster oder Strukturen erkennen? Was wiederholt sich?

Lassen sich zeitliche Korrelationen von internen/externen Ereignissen und Symptomen/Problemen finden?

Welche Bedeutung (welchen Sinn, welche Funktion) könnte die aktuelle Symptomatik für die Familie und ihre eigene Logik haben?

Die Erstellung und Auswertung von Genogrammen erfordert zum einen Übung, zum anderen aber auch fundiertes Wissen über die Bedeutung von Familienkonstellationen und Familiendynamiken (vgl. Kap. 4.1.5).

Der Darstellung des jeweiligen Instruments folgt an dieser Stelle immer die Anwendung im „Fall Kramer“. Die dafür relevanten Informationen zum Fall werden in die entsprechende Darstellung eingebracht und im Anschluss interpretiert, d. h. es werden weiterführende Fragen formuliert oder Hypothesen zum Fall auf der Grundlage des jeweiligen Instrumentes gebildet.

Fallanwendung: In der Anfangsphase der Arbeit wird mit den vorhandenen Informationen (und sichtbaren "Wissen-Lücken") ein Genogramm der Familie Kramer erstellt (Abb. 11).


Abb. 11: Genogramm Familie Kramer (Stand 2016)

erste Wahrnehmungen und Eindrücke

In der Arbeit mit dem Genogramm werden erste Wahrnehmungen und Eindrücke herausgearbeitet. Dadurch können sehr vorsichtig erste Deutungen zum Fall formuliert werden; oft ist ein Genogramm aber auch Anlass für weitergehende Fragen, die im Rahmen der Diagnostik zu verfolgen sind. Die Deutungen haben i.d.R. noch keine fundierte Hypothesenqualität, d. h. sie müssen mit Erkenntnissen aus weiteren diagnostischen Instrumenten gesättigt oder aber ggf. auch wieder verworfen werden.

In der Bearbeitung und Interpretation des Genogramms der Familie Kramer zeigen sich folgende, erste Wahrnehmungen:


Zwischen den beiden älteren und den beiden jüngeren Töchtern von Frau Kramer liegen 10 Jahre Altersabstand.

Die ersten beiden Kinder, zwei Mädchen, bekommt Frau Kramer im Alter von Ende 20, d. h. in einem dafür nicht unüblichen Alter.

Als die beiden jüngsten Kinder (zwei Mädchen) geboren werden ist die Mutter um 40 Jahre alt, nun ist sie eine „ältere“ Mutter.

Vor 10 Jahren wurden die beiden älteren Töchter im Abstand von zwei Jahren geboren und hatten zwei unterschiedliche Väter. Mit beiden Vätern lebte Frau Kramer je nur ein Jahr zusammen (=zusammen 2002/2002 getrennt und ebenso 2004/2004).

Aktuell wurden in 2 Jahren erneut 2 Kinder geboren, diesmal von einem Mann.

Das Genogramm zeigt drei Familiensysteme, die beiden Mädchen (Elsa und Maria) gehören vorrangig zum Familiensystem der Großmutter.

Der Vater von Elsa (Herr M.) lebt erneut in Partnerschaft (oder Ehe) mit zwei Kindern, also zwei jüngeren Halbgeschwistern von Elsa.

Der Vater von Frau Kramer starb 2015, Frau Kramer (jun.) war zu dem Zeitpunkt 39 Jahre alt, ihre Mutter (Frau Kramer sen.) 65 Jahre.

 

erste Deutungen und Hypothesen, viele Fragen


Erste Deutungen, vorsichtige Hypothesen (Zusammenhangsaussagen) und weitergehende Fragen zum Fall können vor diesem Hintergrund formuliert werden:

Frau Kramer (jun.) wagt nach 10 Jahren einen erneuten (zweiten) Anlauf zur Familiengründung mit einem neuen Mann.

Wird es jetzt gelingen, diese neue Familie dauerhaft zusammenzuhalten?

Welche Bedeutung haben (jetzt) die beiden älteren Töchter für Frau Kramer (jun.), die bislang überwiegend bei der Großmutter leben?

Die Großmutter hat schon drei ’Töchter’ (d. h. eine Tochter und zwei ältere Enkeltöchter) und nun auch noch zwei neue Enkeltöchter. Um wen kann und will sie sich ausreichend kümmern?

Die beiden älteren Mädchen sind gerade in den ersten Lebensjahren, aber durchgängig immer wieder in wechselnden Familienkonstellationen aufgewachsen, viel bei der Großmutter. Für sie stellt sich die Frage nach ihrer Zugehörigkeit und Erwachsenen, die konstant an ihrer Seite sind. Wo gehöre ich hin? Wer ist für mich da?

Nimmt man erste Informationen aus der Fallgeschichte hinzu, über die man zu dem Zeitpunkt der Fallbearbeitung schon verfügt, können ggf. weitere Deutungen und Fragen hinzukommen:

Die beiden Mädchen erleben, dass um sie herum zwei neue Familien gegründet werden, zu denen sie jeweils nicht wirklich dazu gehören. Ihre Väter haben sie verlassen, ihre Mutter ist eine für sie nicht wirklich verlässliche Konstante in ihrer realen und emotionalen Versorgung.

Welche Bedeutung haben die Väter für die Mädchen, jeweils für Elsa und für Maria?

3.2.2 Die „Fallchronologie“ – Zweite Annäherung: Was ist bisher passiert und hat Entwicklungen und Emotionen beeinflusst?

Das Instrument: Wenig vertraut ist der Praxis der Sozialen Arbeit die so gennannte Fallchronologie (entwickelt in einem Praxisforschungsprojekt, vgl. Henkel u. a. 2002), ein relativ einfach zu erstellendes und gleichzeitig meist aussagekräftiges Instrument, das in Fällen sukzessiv geführt werden kann, z. B. als Teil der Fallakte. In einer auf einem Zeitstrahl chronologisch geordneten Gegenüberstellung von Familien- und Hilfegeschichte werden alle vorhandenen Informationen und Erkenntnisse so zusammengetragen, wie sie der fallverantwortlichen Fachkraft zu einem gegebenen Zeitpunkt verfügbar sind (Tab. 1). Diese Fakten und Informationen werden dahingehend geordnet, dass sie in einer Spalte Auskunft geben über Ereignisse und Abläufe in den Lebens- und Familiengeschichten der beteiligten Väter, Mütter, Kinder und Jugendlichen. In einer anderen Spalte werden die Ereignisse öffentlicher Hilfe und Intervention für diese Menschen und ihre Familien zeitlich zugeordnet.

Eine Fallchronologie eröffnet den Blick auf die Geschichte als Ganzes. Sie stellt einen Fall in seiner gesamten Entwicklung dar, um durch diese Sicht Hinweise auf familiäre Themen und Dynamiken ebenso wie auf Interventionsstrategien, die Rolle der HelferInnen und vor allem die Interaktionsdynamik zwischen Familie und Hilfesystem mit ihren Verläufen und Wechselwirkungen zu erhalten.

In der Gegenüberstellung von Familien- und Hilfegeschichte können Zusammenhänge und Muster deutlich werden, es kann ggf. auch deutlich werden, wie Gefährdungen entstehen, welche Anstrengungen Eltern und Kinder unternehmen, sich davor zu schützen, und welche Eingriffe und Hilfen Kinder und Eltern bisher auf welche Weise erlebt haben.

Tab. 1: Fallchronologie: zeitlich geordnete Gegenüberstellung von Familien- und Hilfegeschichte


DatumFamiliengeschichteHilfegeschichte

In der Praxis wird eine solche Chronologie nicht regelhaft angewandt, bislang eher in spezifischen Fällen, z. B. der Auswertung „besonders schwieriger“ Fälle. Manche Einrichtungen und Dienste haben sie allerdings bewusst eingeführt, da sie neben dem falldiagnostischen Nutzen auch den Effekt haben, dass Entwicklungen und Hilfeverläufe übersichtlicher dargestellt werden können. Dies ist zum einen hilfreich, weil Fallwissen dann weniger „verloren geht“, zum anderen weil Übergänge und Wechsel zwischen Fachkräften damit kenntnisreicher und besser gestaltet werden können. Durch die Chronologie entsteht zu Fällen ein fundierter Überblick.

Hinweise für die Erstellung

Für die Erstellung einer Fallchronologie ist bedeutsam:

Eine präzise Zeitschiene wird in der Darstellung links oder in der Mitte angeordnet, d. h. es gibt immer drei Spalten in der Übersicht.

Es sollte auf eine etwa gleichmäßige Einteilung für alle Jahre bis zum aktuellen Ereignis geachtet werden, damit erkennbar wird, zu welchen Zeitpunkten viel passiert ist und wann wenig oder nichts. Zeiträume, in denen nichts passiert ist, sollten aus diesem Grund unbedingt freigehalten werden.

Die Eintragungen in die Chronologie sollten so früh wie möglich beginnen, spätestens mit dem Zeitpunkt, an dem die Eltern ein Paar werden.

Die Familiengeschichte und die Hilfegeschichte werden getrennt, schlüssig und jeweils so komplett wie möglich aufgelistet mit möglichst genauer Zeitangabe in der Datumsspalte. Allerdings sollte die Übersicht nicht zu akribisch und umfassend geführt werden, der Charakter einer Übersicht muss gewahrt bleiben.

In der Familiengeschichte werden wichtige Lebensereignisse, Veränderungen und Krisen aufgeführt (Geburten, neue Beziehungen, Trennungen, Krankheiten, Tod, Arbeit, Wohnungswechsel, Ein-/Austritt oder Wechsel von Kindertagesstätte oder Grundschule etc.).

Die Hilfegeschichte beginnt mit den ersten Kontakten, in Folge werden Interventionen, Entscheidungen, Beendigungen, Abbrüche und Wechsel aufgeführt. Bei konkreten Maßnahmen ist es sinnvoll, jeweils kurz die damit verbundene Zielsetzung/Absicht zu benennen.

Sowohl in der Familien- als auch in der Hilfegeschichte sollten markante Zitate aus Erzählungen, Berichten, Stellungnahmen/Gutachten etc. eingefügt werden. Dies verdeutlicht mitunter bestimmte Darstellungen sehr prägnant und im konkreten Wortlaut.

Hinweise für die Auswertung

In der inhaltlichen Auswertung einer Fallchronologie sollten folgende Fragen und Aspekte den Blick und die fachliche Interpretation leiten:

Was fällt auf den „ersten Blick“ auf?

Zeigen sich zentrale Themen in einer oder beiden Spalten?

Gibt es Wiederholungen z. B. bei bestimmten Themen, Interventionen etc.?

Gibt es bestimmte Phasen/Sequenzen in der Familiengeschichte, z. B. Familiengründung, Krisen, Trennungen? Was z. B. hat die Familie „beschäftigt“, als die Kinder geboren wurden etc.?

Welche Phasen/Sequenzen in der Hilfegeschichte lassen sich unterscheiden z. B.: erstes Kennenlernen, erste Intervention, Krisen etc.?

Welche Bezüge und Parallelen von Familien- und Hilfegeschichte werden deutlich? Gibt es Verbindungen zwischen den Geschichten?

Wiederholen sich Erfahrungen z. B. der Kinder mit den Erwachsenen in der Familie und mit den HelferInnen?

Welche unterschiedlichen Geschichten werden deutlich, wenn man aus der Perspektive unterschiedlicher Beteiligter auf die Chronologie schaut? Wie lassen sich Familien- und Hilfegeschichte (unterschiedlich) erzählen? Was verdeutlicht dies?

Welche Hypothesen können aus dem Material gebildet werden? Welche Daten und Fakten und welches (Fach-)Wissen unterstützen sie, welche nicht?

Was bedeuten die gewonnenen Erkenntnisse für die Arbeit mit dem Familiensystem? Was für die Arbeit des Hilfesystems, welche Konsequenzen sind ggf. daraus zu ziehen?

Insbesondere ist in der Auswertung (wie in allen anderen Zugängen auch!) immer wieder die Perspektive der Kinder gezielt in den Blick zu nehmen, da diese häufig „wegrutscht“. Es ist z. B. danach zu fragen, welche Funktion Kinder für die Erwachsenen in der Familie haben? Oder wann und wie sie von den HelferInnen wahrgenommen werden.

Chronologie zum Fall Kramer

Fallanwendung: Als nächstes methodisches Instrument wird eine Fallchronologie zum Fall Kramer (Tab. 2) erstellt. Diese basiert auf den Erinnerungen der Fachkraft sowie Eintragungen in den Fallakten.

Tab. 2: Chronologie für den Fall „Familie Kramer“


Chronologie für den Fall „Familie Kramer“
ZeitFamiliengeschichteHilfegeschichte
Aus der Vorgeschichte der Familie ist bekannt, dass Eva Kramer (Mutter) und ihre eigene Mutter (die Großmutter der Mädchen) schon immer ein sehr ambivalentes Verhältnis zueinander hatten. Mit ihrem eigenen Vater hatte Eva Kramer oft Auseinandersetzungen, sie konnte es ihm nie recht machen, blieb ihrer Wahrnehmung nach immer unter seinen Erwartungen, dabei hat er selbst die Familie mal anderthalb Jahre wegen einer anderen Frau verlassen und war einfach weg. Manchmal konnte er sehr zornig und laut sein, bestraft hat er Eva in ihrer Kindheit mit Ignoranz, tagelang hatte er sie manchmal einfach nicht beachtet, „als wäre sie Luft“. Mit seiner Frau schien er sich besser zu verstehen, seitdem Eva ausgezogen war, so sieht es Eva. Den Hauptschulabschluss hat sie gerade eben geschafft, zwischenzeitlich war sie zum Ende der Schulzeit mal für drei Monate in der Kinder- und Jugendpsychiatrie; nur „weil sie ein paar Mal abgehauen war“ und ihren Eltern gedroht hatte, „dass sie die Schule schmeißt und dauerhaft abhaut, ohne zu sagen wohin“. Zu der Zeit war sie öfters mit einem 8 Jahre älteren Mann unterwegs, das gefiel den Eltern auch nicht. Irgendwann hat Eva Kramer dann auch eine Ausbildung als Verkäuferin gemacht, diese ebenfalls mit „Ach und Krach“ beendet, aber seither nie lang in einer Stelle gearbeitet. Entweder hat oder wurde sie nach kurzer Zeit immer wieder gekündigt. Dann haben die beiden Mädchen ihre volle Energie gefordert.
2002Geburt von Elsa,die Mutter lebt kurze Zeit vor und nach der Geburt mit dem Vater, Klaus Michels, zusammen.
2004Geburt von Maria,die Mutter ist mit Uwe Ullmann zusammen, sie hat Klaus für die neue Liebe verlassen, es kam schnell zur Schwangerschaft; Uwe und Eva wohnen nicht zusammen, sechs Monate nach der Geburt beenden sie ihre Beziehung; Eva fühlt sich im Stich gelassen, überfordert und ist labil.
02/2005Kinder kommen zu den GroßelternPolizeieinsatz, Frau K. wird verwirrt aufgegriffen und als Notfall in der Psychiatrie untergebracht.Erstmalig wird der ASD einbezogen, regelt die Unterbringung der Kinder bei den Großeltern und regt eine gesetzliche Betreuung für die Mutter an, die eingerichtet wird (Eva Kramer ist ihr gegenüber misstrauisch und abwehrend.).
06/2005Kinder zurück zur MutterEntlassung aus der Psychiatrie
08/2005Elsa geht ab August in eine Kita.
04/2006Kinder bei den GroßelternFrau Kramer wird erneut in die gleiche Psychiatrie eingewiesen.
08/2006Frau K „flieht“ aus der Psychiatrie.
09/2006Kinder kehren zurück in den Haushalt der Mutter;sie sind froh darüber, aber manchmal sagt die Mutter auch „komische Sachen“ oder scheint „ganz woanders zu sein mit ihren Gedanken, dann kann man sie gar nicht ansprechen“.Frau K. wird „offiziell“ aus der Psychiatrie entlassen.
11/2006Drohender WohnungsverlustASD (neue Fachkraft) leitet an Fachstelle für Wohnungsprobleme weiter, Wohnung kann erhalten werden, u.a. durch Schuldnerberatung.
3/2007Frau K. wendet sich selbst an den ASD, sie sei mit der Versorgung der beiden Mädchen überfordert.Eine Erziehungsbeistandschaft (2 Fachkräfte eines Trägers) für beide Mädchen wird eingerichtet.
4/2007Maria kann im April (innerhalb des Kita Jahres) nun auch in die gleiche Kita wie Elsa.
5/2007Frau Kramer „schmeißt“ die Erziehungsbeistände raus, die Hilfe wird abgebrochen (sie erlebt diese als maßregelnd, „Was die sich alles rausnehmen, als wäre sie ein Kind“);der ASD akzeptiert den Abbruch der Hilfe, dies allerdings mit Bedenken.
8/2007Frau Kramer kündigt die Kita-Plätze für Elsa (5) und Maria (3), die Kita meint, sie würde sich nicht zuverlässig um die Mädchen kümmern: „So eine Unterstellung!“; dann will Eva Kramer aber doch die Kündigung rückgängig machen.Erst durch die gesetzliche Betreuerin kann die bereits wirksame Kündigung in der Kita wieder rückgängig gemacht werden.
2008Einschulung von Elsa
2010Einschulung von Maria in die gleiche GrundschuleIn 2007-2010 leben die Mädchen regelhaft bei der Mutter, auch immer mal wieder für einige Wochen bei den Großeltern zur Unterstützung von Eva, dies meist in den Ferien. Eva Kramer bleibt psychisch labil, kann die Situation halten, fühlt sich aber häufig an der Grenze ihrer Kraft. Die Mädchen sind ihr wichtig, aber es ist so anstrengend, für alles sorgen zu müssen.Seitens der Grundschule gibt es immer mal wieder Ermahnungen an die Mutter (Ordnung, Pünktlichkeit, Ausstattung mit Schulmaterialien), aber die Situation eskaliert nicht. Eva Kramer als Mutter hält sich von der Schule möglichst fern, die halten sie eh für eine „unfähige Mutter“. Gemeinsam mit ihrer Mutter und den Mädchen beteiligt sich die Familie schon mal an schulischen Aktivitäten.
2/2011Kinder kommen in der Situation wieder zu den Großeltern und leben dort.Die Großmutter meldet sich beim ASD (neue Fachkraft), ihre Tochter habe einen „psychotischen Schub“ und nach einem Polizeieinsatz sei sie auch wieder in der Psychiatrie.
01/2012Auf Antrag des Jugendamtes wird Frau K. die elterliche Sorge vollständig entzogen und eine Amtsvormundschaft eingerichtet.
06/2012Die Großeltern werden als Verwandtenpflegestelle gem. § 33 SGB VIII anerkannt.
09/2013Polizeieinsatz, da Frau Kramer (jun.) bei Umgangskontakt ihrer Mutter gegenüber in deren Haushalt gewalttätig wird; ASD und AV entscheiden daraufhin, die Umgangskontakte auszusetzen.
01/2014Die Kinder sind zu dem Zeitpunkt bei den Großeltern.Nach einem erneuten Polizeieinsatz, bei dem Frau Kramer (jun.) behauptet, in ihrer Wohnung würden ihre Töchter sexuell missbraucht, wird sie erneut in die Psychiatrie eingewiesen.
2014Frau Kramer (jun.) lernt in der Psychiatrie ihren neuen Lebenspartner, Maik Poller, kennen.
12/2014Frau Kramer wird aus der Psychiatrie entlassen.
2015Eva Kramer zieht zu ihrem neuen Lebenspartner in eine ca. 50 km entfernte Kleinstadt;eine gemeinsame Tochter wird geboren.Umgänge mit Elsa (12) und Maria (10) werden wieder aufgenommen; Mutter und Töchter sehen sich sporadisch.
10/2015Tod des GroßvatersASD (neue Fachkraft) und AV regeln von jetzt an begleitete Umgänge, da diese vorher sehr problematisch verlaufen seien.
04/2016Umgangsbesuche der Mädchen bei der Mutter finden regelmäßig statt, auch über einzelne Wochenenden.Eva Kramer meldet bei der Polizei der Kleinstadt, dass ihre eigene Mutter ihre beiden älteren Töchter entführen wolle; Polizei „stürmt“ daraufhin die Wohnung der Großmutter; erst nach Kontakt mit dem Jugendamt in der Großstadt, in der diese lebt, wird aufgeklärt, dass die Kinder ganz offiziell bei der Großmutter leben.
01/2017Elsa (13) kehrt nach einem Wochenendbesuch bei der Mutter nicht wie vereinbart zur Großmutter zurück, angeblich habe sie eine Mandelentzündung.Elsa wohnt aber zunächst dennoch weiter bei der Großmutter.Im anschließenden Gespräch mit ASD und AV äußert sie den Wunsch, ganz bei der Mutter und der neuen Schwester leben zu wollen.
08/2017Nach einem heftigen Streit mit der Mutter will Elsa nicht mehr zu der Mutter ziehen.Die Großmutter macht dem ASD ihre Überforderung mit der Versorgung der beiden Mädchen deutlich.Frau Müller übernimmt als fünfte ASD-Fachkraft die Fallzuständigkeit im ASD.AV und PKD stellen einen Antrag auf Hilfen zur Erziehung für Elsa und Maria im Haushalt der Großmutter.
09/2017Kinder kommen nicht wie mit AV vereinbart vom Umgangsbesuch bei der Mutter zurück; Mutter und Großmutter geben an, nicht zu wissen, wo sich die Mädchen aufhalten; später erzählen beide, sie hätten sich auf dem Dachboden im Haus der Mutter versteckt.AV macht bei der Polizei eine Vermisstenanzeige für die Mädchen.
09/2017Fachgespräch von ASD, AV und PKD mit der Großmutter; sie stimmt dem vorgeschlagenen Elterncoaching und einer aufsuchenden Familientherapie zu, ebenso einer konkreten Absprache zur Abstimmung mit dem AV; außerdem erzählt sie erstmals, dass beide Mädchen regelmäßigen Kontakt zu ihren Vätern haben; die Jüngere häufiger, da der Vater auch in der Großstadt lebt, die Ältere nur selten, da der Vater ca. 200 km entfernt lebt.
11/2017Großmutter und Mädchen erneut für mehrere Tage „verschollen“; später (Anfang Dezember) erklären sie, bei der Mutter gewesen zu sein, um diese in ihrer neuen Schwangerschaft zu unterstützen.Ermahnung durch den AV, die jedoch relativ folgenlos bleibt; Großmutter lehnt nun gegenüber ASD das Elterncoaching und die aufsuchende Familientherapie entschieden ab; ASD beraumt Anfang Dezember ein Hilfeplangespräch für Anfang Januar 2017 an, die Familie müsse dann spätestens wieder in der Großstadt sein.
12/2017Im Dezember ist die Großmutter für die Fachkräfte zeitweilig nicht erreichbar; sie ist bei der Tochter, um diese vor der Geburt des neuen Kindes zu unterstützen;die beiden Mädchen sind in dieser Zeit in der Wohnung der Großmutter, einer der Väter sorgt für beide.Die Abwesenheit der Großmutter und die Versorgung durch einen der Väter ist nicht mit dem AV abgesprochen; bei einem Hausbesuch im Dezember werden die Mädchen alleine in der Wohnung angetroffen (Aufsichtspflichtverletzung); der ASD ordnet die sofortige Rückkehr der Großmutter an. Diese kommt dann auch zurück in die Großstadt; kurzfristiges Hilfeplangespräch mit den beiden Mädchen, der Großmutter und dem Vater von Maria; alle lehnen Hilfen in der Familie ab.Es wird ein Notfallplan vereinbart, wie bei der immer noch bevorstehenden Geburt die Versorgung der Mädchen mit Wissen des AV geregelt werden kann.
12.12.17Großmutter fährt zu ihrer Tochter, hält sich aber nicht an vereinbarten Plan; die Weihnachtstage verbringen die Mädchen je bei ihren Vätern.
1.1.2018Geburt einer vierten Tochter
8.1.2018Großmutter kehrt zu Elsa und Maria zurück.
Erneutes, zeitnahes Hilfeplangespräch wird vereinbart: Wie soll es weitergehen?

Die so dokumentierten Ereignisse der Familien- und der Hilfegeschichte werden anschließend ausgewertet und gedeutet. Leitende Aspekte sind dabei Auffälligkeiten in der Familien- und/oder Hilfegeschichte (Was fällt auf den ersten Blick auf?), Parallelen zwischen den Systemen, Wechselwirkungen zwischen Ereignissen, Wiederholungen, „Verstrickungen“ o.ä.