Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe

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Die Kernaufgaben und Arbeitsschritte für eine qualitativ hochwertige Fall­arbeit in der Sozialen Arbeit sind durch die methodischen Schritte planvollen Handelns an verschiedenen Stellen umfangreich beschrieben. Als grundlegendes Werk dazu kann immer noch Burkhard Müllers „Sozialpädagogisches Können“ (Müller 2012) angeführt werden, in dem er die Handlungsphasen der Fallarbeit „Anamnese, Diagnose, Intervention und Evaluation“ ausführlich beschreibt. Eine neuere, anschauliche Ergänzung und Differenzierung dazu findet sich bei Haye/Kleve (2002). Der zentrale Schlüsselprozess in jeglicher Fallarbeit ist dabei das Wahrnehmen, Verstehen und Deuten sozialer Situationen. Denn ein Problem, das nicht erkannt und verstanden ist, kann auch nicht gelöst werden.

2.2.2 Begriffliche Klärungen

Zum besseren Verständnis soll vorab beschrieben werden, wieso in dem hier vorgestellten Konzept von Fallverstehen und sozialpädagogischer Diagnostik gesprochen wird. Andere Begriffe sind im derzeit nach wie vor bunten Diskurs ebenfalls zu finden (Soziale Diagnostik, Soziale Diagnose, Psychosoziale Diagnostik, Sozialpädagogische Diagnose etc.), hier eint Disziplin und Profession die Uneinigkeit bzw. die mangelnde Verständigung auf gemeinsame Begriffe – zu uneindeutig scheint dafür derzeit das Konzert der Konzepte (vgl. Buttner u. a. (Hrsg.) 2018).

leitendes Begriffsverständnis

Warum werden in diesem Konzept die Begriffe sozialpädagogisch, Fallverstehen und Diagnostik verwendet?

Seit ihren Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert ist das Feld der Jugend­wohlfahrt – heute Kinder- und Jugendhilfe – ein bedeutsames Handlungsfeld der wissenschaftlichen Disziplin Sozialpädagogik und damit in einer Theorietradition der Begründung, Konzeption und Reflexion von Erziehung, (Selbst-)Bildung und Emanzipation im Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft verortet (Mollenhauer 1996). Sozialpädagogisches Handeln beruht „auf einer sich verwissenschaftlichenden Jugendkunde bzw. Jugendforschung“ (Braun u. a. 2011, 15) und beschäftigt sich vorrangig mit dem Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen sowie der Erziehungstatsache (vgl. Bernfeld 1925/2000).

Der sozialpädagogische Blick richtet sich dabei vor allem auf die konkreten Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen mit der Frage, was diese – maßgeblich zunächst von ihren Eltern – an Erziehung und Versorgung brauchen, um sich gesund und eigenständig entwickeln zu können. Wesentlich für die Konzeption einer spezifischen Verstehens- und Diagnosetätigkeit ist es daher auch, ihren Gegenstand und ihre Fragestellungen in diesem Kontext zu bestimmen: Zum einen bedeutet dies, in der Fallarbeit der Kinder- und Jugendhilfe die Interessen und Belange von Kindern und Jugendlichen zentral zu setzen. Zum anderen, die verschiedenen Belange von Kindern und Eltern nicht naiv zu begreifen, sondern immer in den Zusammenhang gesellschaftlicher Bedingungen und Erwartungen (hier z. B. an ausreichend gute familiäre Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern) einzuordnen.

die sozialpädagogische Perspektive

Die disziplinäre Anstrengung zu durchblicken und zu verstehen muss also vor allem auf Prozesse der Versorgung, Erziehung und (Selbst-)Bildung junger Menschen bezogen sein, nicht zuerst auf soziale Probleme Erwachsener oder psychosoziale Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen. Dies bedeutet nicht, dass z. B. die materiellen Lebensbedingungen oder die psychische Erkrankung eines Elternteils keine wichtigen Bedingungen elterlicher Erziehungsanstrengungen und kindlicher Bildungsprozesse sind, die von Fachkräften Sozialer Arbeit eingeschätzt werden müssen. Geleitet wird ein (sozial-)pädagogisches Fallverstehen und Diagnostizieren allerdings von der Frage nach dem Sinn und der Funktion, die ein als auffällig wahrgenommenes Verhalten in der Lebenspraxis und der Bildungsgeschichte von Kindern und Jugendlichen hat. D.h. Handlungen wie Stehlen, Weglaufen, aggressive Ausbrüche oder Lügen sind zuerst so zu verstehen, dass deutlich wird, welche subjektiv sinnstiftende Funktion diesen Handlungen in der (Über-)Lebensstrategie und im Handlungsrepertoire eines (jungen) Menschen zukommt. Den Eigen-Sinn und die Widersprüche, die Spannungen und Brüche in den Lebens- und Lerngeschichten eines Menschen in ihrem subjektiven Sinn zu entschlüsseln ist der entscheidende Zugang eines explizit sozialpädagogischen Fallverstehens und Diagnostizierens in der Kinder- und Jugendhilfe – anders als es z. B. die Aufgabe einer psychiatrischen Diagnostik ist.

Und natürlich geht es in diesem Feld und besonders in den Erziehungshilfen neben dem fokussierten Blick auf junge Menschen immer auch um familiäre Lebenslagen und die Frage, wie Eltern die Versorgung und Erziehung ihrer Kinder ausreichend gewährleisten können. Dabei steht eben nicht die Feststellung und Klassifikation elterlicher Störungen im Mittelpunkt. Das Handeln und die Vorstellungen von Eltern sind hinsichtlich der dahinterliegenden Erfahrungen und verinnerlichten Handlungsmuster zu verstehen, wenn auch hier die Frage nach einer ausreichenden Sorge für ihre Kinder immer parallel und im Zweifelsfall vorrangig im Blick bleiben muss.

Pädagogische Prozesse der Veränderung und (Bildungs-)Unterstützung für Kinder und Familien können letztlich nur an den Selbstbildern, Selbsterklärungsideen und Selbstbildungskräften der AdressatInnen ansetzen. Pädagogisch wird Veränderung begriffen als ein in den Erziehungshilfen oftmals zu unterstützender Lernprozess, sich andere, möglichst sozial akzeptierte Vorstellungen von „Selbst und Welt“ aneignen zu können. Allerdings müssen auch PädagogInnen hierbei die Un-Normalität kindlicher Orientierungen oder die Risiken elterlicher Handlungen fundiert bewerten und normative Anforderungen formulieren können. In dem Zusammenhang werden die Differenz und Zusammengehörigkeit von Fallverstehen einerseits und sozialpädagogischer Diagnostik andererseits deutlich. Sie sind gewissermaßen „zwei Seiten einer Medaille“, in methodischem Zugang und Erkenntnis unterschiedlich und zugleich zwingend aufeinander bezogen:

Fallverstehen …

Zum einen ist die fallanalytische Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe eine Verstehensleistung, hier bezeichnet als Fallverstehen und erkenntnistheoretisch einzuordnen in die lange Tradition der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik (z. B. Mollenhauer/Uhlendorff 1992; Oevermann 2000). Mit dem Konzept der stellvertretenden Deutung (vgl. Oevermann 2000) und der Figur der immanenten Kunstlehre des Fallverstehens (vgl. Gildemeister 1992) wurden zentrale Orientierungspunkte für die Entwicklung einer professionellen Deutungskompetenz theoretisch markiert. Die Gleichzeitigkeit von Theorieverstehen und Fallverstehen ist nach Gildemeister dabei grundlegend für die professionelle Logik, wobei die Kunstlehre des Fallverstehens in einem langdauernden Prozess professioneller Sozialisation eingeübt wird und in einem spezifischen professionellen Habitus mündet.

In dieser Linie hermeneutischer Erkenntnisprozesse stehend, bedarf es für das konkrete Fallverstehen einer wissensbasierten, reflexiv geschulten wie auch mitmenschlichen Anstrengung, einfühlend nachzuvollziehen, wie sich Not und Bedrängnis für Menschen anfühlen und welche innere Logik sie antreibt. Dabei muss das (stellvertretend) in Sprache gefasst werden können, was Menschen selbst bislang unzugänglich oder unsagbar war. In diesem nur gemeinsam möglichen dialogischen Prozess gilt es, sich emotional anzunähern, manchmal auch zu verwickeln, und doch fremd zu bleiben bzw. immer wieder in Distanz zu gehen, um nicht unreflektiert in den familiären Dynamiken verstrickt zu bleiben. Bei dieser Aufgabe kann es nicht um eine schlichte Zuordnung von Verhalten zu allgemeingültigen Erklärungsmustern gehen. Kinder und Eltern mit dem Blick auf die subjektive Bedeutung ihres Verhaltens, ihrer Symptome und ihrer Begrenzungen im Kontext ihres sozialen Gewordenseins zu verstehen, ist etwas anderes, als sie z. B. einem Bindungsmuster zuzuordnen in der Hoffnung, daraus ergäbe sich eine klare Interventionsstrategie (Brandl 2016).

… und sozialpädagogische Diagnostik

Zum anderen bezeichnen wir mit dem Begriff der Diagnostik die ebenfalls notwendige analytische und durchblickende Anstrengung, die Dinge „beim Namen zu nennen“. Hier geht es vor allem um die Zuordnung zu einem anerkannten Allgemeinen (Müller 2012), für das Beschreibungs- und Erklärungswissen sowie geklärte theoretische Begriffe ebenso unverzichtbar sind wie die Fähigkeit, zu fachlich eigenständigen Positionierungen zu kommen. Schon bei den Aufklärungspädagogen wie Pestalozzi ersetzten bzw. ergänzten empirische Beobachtungen die normative Interpretation menschlicher Handlungen und Orientierungen. Ebenso finden sich gemeinsame Wurzeln der Sozialpädagogik mit der modernen Medizin und Psychologie, gegründet in der Suche nach rationalen Erklärungen für menschliches Verhalten als Emanzipation von theologischen oder philosophischen Deutungen (genauer: Schrapper 2016). Neben der Verstehensleistung müssen somit ebenso zu Verhältnissen und Verhalten nachvollziehbare und begründete Hypothesen sozialpädagogischer Fachkräfte erarbeitet werden, die möglichst objektiv (d. h. kriteriengeleitet) und nachvollziehbar bewerten, ob Kinder und Jugendliche ausreichend gute Bedingungen für ihr Aufwachsen haben. In den Erziehungshilfen geht es oftmals um die professionelle Einschätzung von Gefährdungen und Entwicklungspotenzialen, die sich nicht allein auf die Selbstauskünfte und Selbstdeutungen der AdressatInnen sowie deren professionelle Interpretation stützen können.

 

Die fallanalytische Aufgabe impliziert somit Fallverstehen und Diagnostik in einem sozialpädagogischen Sinne und ist dabei auf den respektvollen Dialog und die Mitwirkung von Kindern, Eltern und anderen Akteuren in Familie und Umfeld zwingend angewiesen. Und sie vollzieht sich immer in einem dynamischen Beziehungsgeschehen sowie einem institutionellen Kontext; beides wirkmächtige Faktoren, die keine Randerscheinung der Debatte um die angemessenen Konzepte sein dürfen (ausführlich: Ader 2006).

Im Jahr 2004 haben Heiner/Schrapper den Begriff „Diagnostisches Fallverstehen“ (Heiner/Schrapper 2004) vorgeschlagen, um beiden Dimensionen der zu gestaltenden Aufgabe gerecht zu werden. Mit Blick auf die Anwendung und Etablierung eines entsprechenden Konzepts in der Kinder- und Jugendhilfe scheint dieser jedoch für die Alltagskommunikation der Praxis nicht ausreichend griffig. Wir sprechen derzeit aus den skizzierten Gründen durchgängig von Fallverstehen und sozialpädagogischer Diagnostik, wohl wissend, dass zumindest auf disziplinärer Ebene die Suche nach dem treffendsten Begriff vermutlich noch nicht zu Ende ist.

2.2.3 Was ist der „Fall“? – Gegenstandsbeschreibung und Implikationen für das methodische Rahmenkonzept

In der Einleitung des Buches und dem Fallbeispiel wurde angedeutet, was „ein Fall“ ist, dass er „mehr“ ist als eine Lebens- oder Familiengeschichte, die im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Auf diese Frage wird nun differenzierter eingegangen, da sie entscheidend ist für die in diesem Buch beschriebene Form sozialpädagogischen Verstehens und Diagnostizierens. Es geht um die Frage, worauf sich der professionelle Blick richten muss, also was der Gegenstand der fallanalytischen Arbeit ist.

Plädoyer für einen erweiterten Fallbegriff

In der Sozialen Arbeit geht es darum, dass Fachkräfte einen Zugang zu Menschen mit ihren spezifischen Anliegen und Problemen finden, und dies immer in einem institutionellen und organisierten Kontext. Der Begriff des Falls ist dafür gängig (immer noch prägend: Müller 2012). Die theoretische Diskussion um den Fallbegriff, d. h. um die Frage, was denn genau „der Fall“ und damit zu verstehen und zu durchblicken sei, ist in der Sozialen Arbeit ebenso traditionsreich wie strittig (vgl. Lüders 1999; Hanses/Börgartz 2001; im Überblick Ader 2006). In vielen Konzepten der Fallanalyse und Deutung ist der Fall im Wesentlichen markiert durch das sogenannte „KlientInnensystem“, in der Kinder- und Jugendhilfe sind dies Kinder, Jugendliche und ihre Eltern/Familien. Auf sie richten sich die unterschiedlichen Konzepte und Methoden der Analyse. Dieser Fallbegriff ist jedoch u.E. zu eng und letztlich unterkomplex. Sozialpädagogisches Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe ist wesentlich durch gesetzliche Aufträge geprägt und immer in organisationale Bezüge eingebunden. Zugleich ist es ein Beziehungsgeschehen zwischen handelnden Menschen. Das, was der Fall ist, konstituiert sich also in einem Dreieck von Biografie, institutionellem Kontext und professionellem Handeln, im Praxisalltag zumeist affektiv hoch aufgeladen (theoretisch hergeleitet: Ader 2006). Letzteres bedeutet, dass in der Interaktion aller AkteurInnen psycho- und interaktionsdynamische Kräfte ebenso nachhaltig wirken wie die Eigendynamiken der beteiligten Organisationen.

Eine Reihe älterer und neuerer Studien belegen hinlänglich, dass gerade die sogenannten „schwierigen Fälle“ in der Kinder- und Jugendhilfe meist eine ebenso „schwierige Organisationsgeschichte“ aufweisen (z. B. Biesel/Wolff 2013; Ader 2006; Neuberger 2004; Blandow 1997). Das heißt, dass das Handeln der professionellen AkteurInnen und ihrer Organisationen dazu beigetragen hat, dass sich Lebenssituationen von Kindern und Familien mit der professionellen Unterstützung nicht verbessert, sondern verschärft haben, eskaliert sind oder in tragischen Einzelfällen auch zum Tode von Kindern geführt haben – Kinder folglich auch durch das Hilfesystem nicht ausreichend geschützt werden konnten (z. B. Biesel/Wolff 2013; Schrapper 2013b; Fegert u. a. 2010). In diesen Fällen zeigen sich in den Analysen vielfach sehr wirkungsmächtige, aber weitgehend unverstandene Verstrickungen der HelferInnen in ihren Systemen und mit den Systemen der AdressatInnen.

Fallverstehen und Diagnostik hat sich demzufolge in der Sozialen Arbeit nicht nur auf das KlientInnensystem zu richten, sondern zudem regelhaft auch auf das Hilfesystem, sein Agieren miteinander sowie auf die Dynamiken, die in der Interaktion zwischen dem Hilfe- und dem KlientInnensystem entstehen. Diese Zusammenhänge lassen sich wie in Abbildung 4 darstellen (Abb. 4).


Abb. 4: Was muss verstanden werden? Was ist der Fall?

Definition: „Fall“ und „Fallverstehen/Diagnostik“

Der Fall in der Sozialen Arbeit ist also immer eine komplizierte Mischung aus aktueller Situation und Problemlage, komplexen Lebens- und Hilfegeschichten, nicht einfachen administrativen Zuständigkeiten und Regularien – und dies in einem dynamischen, mitunter affektiv hoch aufgeladenen Beziehungsraum. Und bezogen auf dieses komplexe Gefüge ist sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen als ein systematischer, methodisch planvoller Erkenntnis- und Verstehensprozess zu gestalten (zusammenfassend aktuell Ader 2018; Ader/Schrapper 2018). Ziel ist dabei, vielschichtige und immer mehrdeutige Lebenssituationen von Kindern und Familien mit Blick auf das Wohl von Kindern fachlich einzuschätzen. Die Berücksichtigung unterschiedlicher Bedingungsfaktoren ist dabei konstitutiv (physische, psychische, soziale und materielle Dimension). Und zu diesem Bedingungsgefüge gehört unverzichtbar das Selbstverstehen des Hilfesystems sowie das Verstehen der dynamischen Prozesse und Beziehungsbedeutungen in und zwischen Klienten/Familiensystemen und Helfersystemen (vgl. Stemmer-Lück 2011).

Im Unterschied zur psychiatrischen Diagnostik ist also der Gegenstandsbereich des zu Verstehenden breiter, es geht um mehr als die Diagnose einer psychischen Störung, und entsprechend muss die Kinder- und Jugendhilfe über ein fachspezifisch eigenes Instrumentarium verfügen, das dieser Komplexität gerecht wird und ggf. anlassbezogen wie begründet die spezifische Expertise der Kinder- und Jugendpsychiatrie einbezieht (Ader 2016). Aus der Gesamtheit der erarbeiteten Erkenntnisse und Hypothesen ergeben sich schließlich die Aufgaben und Zuständigkeiten sozialpädagogischer Fachkräfte zwischen Unterstützung und Eingriff.

methodisches Rahmenkonzept

Methodisches Rahmenkonzept: Drei zentrale Fragen und Zugänge zum Fall

Aus dem beschriebenen Fallbegriff ergeben sich drei grundsätzlich zu bearbeitende Fragen für Fallverstehen und Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe:

1. Welche Daten und Fakten geben Auskunft über aktuelle familiäre Lebenslagen und hierfür prägende Lebensereignisse? (Fokus: Daten und Fakten)

2. Wie sehen und verstehen Kinder und Eltern selbst ihre aktuelle Situation und was wünschen und befürchten sie? (Fokus: Selbstdeutungen der AdressatInnen)

3. Welche Erfahrungen haben Kinder und Eltern bisher mit öffentlicher Hilfe und Einmischung machen können und welche Erfahrungen haben die beteiligten Fachkräfte mit dieser Familie sowie in ihren professionellen Kooperationen im Fall gemacht? (Fokus: Selbstverstehen des Hilfesystems und der dynamischen Prozesse im Fall)

Die Fragen wiederum markieren bereits, welche Themen und welches Material erschlossen werden müssen, d. h. welche perspektivischen Zugänge zu einem Fall notwendig sind, für die entsprechende Methoden benannt und (institutionell) festgelegt werden müssen (Abb. 5).


Abb. 5: Zentrale methodische Zugänge zum Fall

Dabei sind drei Aufgaben methodisch zu gestalten:

1. Es geht um die systematische Sammlung und Verarbeitung verfügbarer Daten und Fakten sowie eigener Wahrnehmungen, z. B. aus Gesprächen oder Hausbesuchen. Hinzu kommen Wahrnehmungen und Einschätzungen Dritter. Sorgfältig beobachten, erfragen, ordnen, gegenüberstellen und nach Zusammenhängen suchen – dies sind hier wesentliche Aufgaben. Hauptproblem ist dabei, „die Spreu vom Weizen zu trennen“, also das Bedeutsame vom Nebensächlichen zu unterscheiden und daraus erste eigene Hypothesen zu erarbeiten, wie etwas zusammenhängen kann.

2. Zu ergänzen und zu konfrontieren sind solche meist professionellen Faktensammlungen, Einschätzungen und Deutungen mit den Erfahrungen und Deutungen der Menschen, um die es geht. Es gilt dabei vor allem, die Perspektive zu wechseln und andere Sichtweisen „zur Sprache zu bringen“. Bedeutsam ist, dass die gewählten Gesprächsformen mit Kindern und Eltern Raum für Erzählungen eröffnen und Menschen nicht das Gefühl vermitteln, lediglich zur Informationssammlung abgefragt zu werden. Nur durch echtes Zuhören und Nachfragen, Anregen und Deutungen anbieten können Eigen-Sinn und die Funktion biografischer Strategien und Muster der Lebensbewältigung gemeinsam rekonstruiert und in der Sprache der AdressatInnen dokumentiert werden.

3. Als Drittes muss die kritische Selbstreflexion des Hilfesystems hinzukommen sowie die Reflexion der meist unverstandenen Verquickung von Hilfe- und Lebensgeschichte in einem Fall – gut umsetzbar in Form einer Fallchronologie (Kap. 3.2.2). Dies öffnet den Blick auf die Themen und Konflikte im Hilfesystem, die oftmals durch die familiäre Geschichte, den Fall und seine Dynamik angeregt und verstärkt werden. Dieser selbstkritische Blick schützt einerseits AdressatInnen vor den Stellvertreter-Konflikten der Fachkräfte und eröffnet dem Hilfesystem andererseits diagnostische Zugänge über das Entschlüsseln von Übertragungen, Gegenübertragungen und Spiegelungen sowie von eigenen Handlungsroutinen und Selektionsmechanismen.

Kombination verschiedener Ansätze

Genauer betrachtet zeigt sich in diesen Zugängen eine Integration von Grundgedanken aus (auch erkenntnistheoretisch) unterschiedlichen konzeptionellen Ansätzen psychosozialer Diagnostik (Kap. 6). Für Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe braucht es zum einen eine systematische, kriteriengeleitete Wahrnehmung und Dokumentation von Fakten und Beobachtungen und deren fachliche Bewertung, die auf aktuellem, forschungsbasierten Wissen aus den relevanten (Bezugs-)Disziplinen beruht. Dieser Aspekt erinnert an eher kategorial orientierte Konzepte, die Fallwissen mit „anerkanntem Allgemeinen“ in Beziehung setzen, zuordnen und Schlüsse daraus ziehen. Zum anderen ist auch und gerade die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe immer ein ko-produktives Geschehen (von Spiegel 2018) und somit auf die Selbstdeutungen ihrer AdressatInnen und ihre Mitarbeit angewiesen. Dieser Zugang weist eine deutliche Nähe zu narrativ-biografischen Ansätzen auf. Und schließlich werden selbstreflexive und psychodynamische Ansätze bedeutsam, wenn Prozessualität und Institutionsgebundenheit sowie Beziehungsbedeutungen stärker ins Blickfeld rücken. Konzeptionelle Ansätze, die über lange Jahr eher kontrovers diskutiert wurden, sind in das hier entfalteten Konzept als bedeutsame Bezüge und methodische Elemente eingeflossen, wohl wissend, dass sie unterschiedlichen Denktraditionen folgen, die nicht ohne Weiteres kompatibel sind bzw. durchaus in Spannung zueinander stehen, die ausbalanciert werden muss.